Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Paris, den 22. Mai.

Die schönen Tage von Aranjuez gehen zu Ende. Während der Reise kommt man zu nichts, und wenn ich heute nicht zufällig die Stunden zwischen Diner und Oper frei hätte und mich plötzlich die Lust zum Tagebucheln anwandelte, würde ich mein Buch ebenso nach Berlin zurückbringen, wie ich es mitnahm.

Die Reise war herrlich, die Monate sind vorübergeflogen wie ein Traum. Nie hätte ich geglaubt, daß die Welt so schön ist. Ich hatte früher wohl Reisebeschreibungen vom Süden gelesen, aber die farbenglühendsten Schilderungen sind doch nur ein matter Abklatsch der märchenhaften Wirklichkeit.

Aber gerade in solcher wundervollen Umgebung kommen einem unwillkürlich bittere, weltschmerzliche Gedanken. Warum wurde eine solche wunderschöne Welt erschaffen, wenn es nicht des Schöpfers Wille war, diese herrliche Welt mit ebenso herrlichen, vollkommenen und glücklichen Geschöpfen zu bevölkern! Das ist kein guter Gott, der eine reiche, schöne Welt baut und so viel armes, häßliches Leben hineinsetzt.

Wir waren in Nizza und Monte Carlo und weiter die Riviera entlang und hatten uns bei Nizza eine Etage in einer Villa am Meer gemietet. Wir saßen oft abends bis spät in die Nacht auf dem Balkon und beobachteten den Sonnenuntergang, der dort so prachtvoll ist und so wunderbare Farbenkontraste erzeugt, daß man die tollen Bilder der Sezession mit ihren verrückten Farben dem gegenüber eigentlich gar nicht mehr so dumm und unwahr findet. Dieses flammende Feuerrot und das weiche, fließende Karmin und daneben das harte Kornblumenblau des Wassers wirkt so unbegreiflich und phantastisch, daß man es sehen muß, um es zu glauben. Am schönsten ist es, wenn sich die letzten Reflexe verteilen, wenn der Sonnenball schon fort ist, und alles sich gleichsam 201 auflöst in rosaroten Duft, der den Horizont anglüht und Luft und Meer durchschimmert, das ist so wundervoll, daß man oft den Atem anhält, um es ganz zu genießen. Und am schönsten ist es, wenn man einen Menschen neben sich hat, von dem man weiß, daß er die Wunder der Natur mit denselben schönheitstrunkenen Augen schaut, wie man selber, und zu dem man sich darüber aussprechen kann und verstanden wird.

Der Graf ist ein sehr kluger, geistreicher Mann, er ist in seinem Leben weit herumgekommen und kennt eigentlich die ganze Erde. Zweimal hat er eine Reise um die Welt gemacht. Ich lerne viel von ihm und werde nicht müde, mir alles von ihm erzählen zu lassen. Ich bin ganz stolz darauf, daß es mir gelungen ist, diesen Mann dermaßen an mich zu fesseln. Das ist nicht immer so leicht; denn diese Herren sind so meisterlich geschult in der Selbstbeherrschung, daß sie sich in jedem Fall ein gewisses Selbstbestimmungsrecht über ihre Empfindungen bewahren und ihre Wünsche und Leidenschaften stets in wünschenswerter Weise zu temperieren verstehen, so daß ihnen im gegebenen Fall das Losreißen und Entsagen nicht allzu schwer wird. Mein Freund würde mich aber heute nicht leichten Herzens aufgeben, das weiß ich. Es ist verhältnismäßig leicht, einen Mann wie den Grafen zu kapern, aber ihn festzuhalten und dauernd an sich zu fesseln ist schwer. Ich weiß genau, daß er, als er mich für sich gewann, fest entschlossen war, auf seiner Hut zu sein und mir keinen Einfluß auf sich einzuräumen, aber so stark und stolz und hart solch ein Manneswille auch sein mag, der kluge, elastische Wille eines Weibes ist zäher und bringt ihn unter. Ich habe Einfluß auf ihn; ohne daß er selber es merkt, beuge ich seinen Willen und ordne ihn meinen Wünschen unter. Ich könnte heute von ihm verlangen und haben, was ich wollte. Dazu muß man freilich auf sich acht geben, sich 202 nie gehen lassen, nie selber Stimmungen zeigen, sich immer der Stimmung des anderen anpassen, in dieser Kunst habe ich mich früher nie trainiert, weil ich es nicht nötig hatte, aber es ist mir doch nicht allzuschwer geworden.

Gewiß, der Graf ist ein liebenswürdiger alter Herr, und ich kann dem Schicksal, das ihn mir zuführte, nicht dankbar genug sein, aber ich fühle mich doch nicht so glücklich, als wie ich eigentlich möchte. Ich kann jetzt oft nachts nicht schlafen und denke dann über allerhand nach. Ich glaube, es gibt Menschen, die überhaupt nicht glücklich werden, weil ihnen die Fähigkeit, glücklich zu sein, abgeht, und zu denen gehöre ich wohl. – In meinem Herzen ist eine Unrast und eine ewige ungestillte Sehnsucht nach etwas, das ich nicht kenne und das ich nicht mit Worten auszudrücken verstehe. Ich sehne mich auch so sehr nach Julius, mein Herz schlägt rascher, wenn ich an ihn denke, und ein schmerzvolles Heimweh nach seiner Liebe überkommt mich, dann denke ich zuweilen, es ist die Liebe, die mir fehlt. Ich bin in meinem Leben viel bewundert und begehrt, aber nie eigentlich richtig geliebt worden. Es war immer nur mein Körper, den die Männer wollten, ob ich eine Seele habe, – danach hat niemals jemand gefragt.

Wenn ich nachts so mit offenen Augen daliege und sinne und sinne und die Erinnerung an all das Häßliche, Ekelhafte, Schmutzige, Gemeine, das ich erlebt habe, wie eine schmierige Flut um mich herum wogt, steigt die Sehnsucht nach Liebe wie ein überirdisches Wesen mit ausgebreiteten Flügeln in mir empor. Ich möchte ein Kind haben, ich möchte noch einmal Mutter werden. Diesmal sollten mir weder Götter noch Teufel mein Kind entreißen. O, wie würde ich es lieben, und wie glücklich wäre ich in seiner Liebe! Und wenn es ein Mädchen wäre, wie wollte ich es hüten und schirmen, und sorgen, 203 daß seine Augen nur Schönes sehen, daß seine Ohren nur Reines und Gutes hören, wie wollte ich allen Schmutz des Lebens von ihm fernhalten . . . Ob diese Sehnsucht wirklich so unstillbar ist? Ich bin doch noch jung, andere heiraten erst in meinem Alter und bringen womöglich noch sieben Kinder zur Welt, und ich lebe doch jetzt ein regelmäßiges, geordnetes Leben.

Mein Wunsch ist so stark und mächtig, daß ich ihn eines Nachts dem Grafen mitteilte. Er war zuerst merkbar betroffen, aber wie ich mein Verlangen begründete und ihm sagte, daß ich das Kind ganz allein für mich haben will und alle Pflichten auf mich nehme, sagte er nur, ob ich auch den Mut hätte, alle Konsequenzen, die die Erfüllung meines Wunsches mit sich brächte, zu ertragen, und als ich bejahte, meinte er, ich müßte mal mit einem Frauenarzt sprechen. Und weil in Paris in der Rue de la paix eine berühmte Hebamme wohnt, die mehr als Brot essen kann oder können soll, habe ich meinen Freund bestimmt, daß wir auf der Rückreise hier noch acht Tage Aufenthalt nehmen. Ich war schon bei ihr. Sie riet mir, Moorbäder zu nehmen und gab mir sonst allerhand gute Ratschläge, die ich sorgsam befolgen werde, hoffentlich nützt es etwas.

Wir wohnen während der Reise natürlich immer in einem Hotel, aber stets in getrennten Zimmern.

Gestern dinierten wir im Hotel Riz. Wir waren gerade beim Fisch, als plötzlich eine große, starkknochige Dame in grande toilette und mit einem prachtvollen, spitzengarnierten Chinchillacape auf uns zurauscht und den Grafen anredet: »Bon soir, mon cher cousin!« und sich gar nicht genug tun kann in Freude über die große Überraschung, ihn hier zu treffen. Der Graf war zuerst offenbar ein bißchen perplex, aber sofort gefaßt und stellte mich vor: »Ma nièce, la Comtesse Osdorff . . . Madame la princesse Tch . . .,« worauf die Dame mit einer Menge 204 Fragen nach den verschiedenen Linien und wieso und von welchem Osdorff über mich herfiel. Zum Glück war ich ziemlich au fait . . . Die Familienchronik und der Stammbaum waren ja der einzige Inhalt in des armen Casimir umfangreichem Schädel; tausendmal hat er mir alles vorräsoniert, ohne daß ich hinhörte, aber soviel hatte ich doch behalten, um Son Altesse Auskunft geben zu können, ohne mich zu blamieren. Dann kamen auch noch zwei Herren, der Prinz Tch . . . und ein Neffe, comte L . . . und alle drei nahmen an unserem Tisch Platz. Der junge Graf machte mir den Hof und die alte Prinzessin flüsterte dem Grafen, wie ich merkte, allerhand Schmeichelhaftes über mich zu und wollte partout, daß wir sie besuchen sollten; aber der Graf lehnte ab, wir müßten durchaus morgen reisen. Ich aber mußte die Alte immer angucken und dachte dabei, daß der Adel der Geburt ihr wahrhaftig nicht auf die Stirn gedrückt ist. Wenn sie abgetakelt wäre, die Spitzen und Brillanten und Seide herunter, würde eine grobknochige Nordmarscher Bauernmagd übrig geblieben sein und nichts Adliges. Als wir nach Hause fuhren, sagte mein Freund: »So, Thymian, jetzt wird's Zeit, daß wir rücken. Je eher, je besser. War das ein vermaledeiter Zufall! Gott nein, wie klein ist doch die Welt, die Frau hab' ich in dreizehn Jahren nicht gesehen, und gerade nun heute – – –«

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