Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Tante Frieda konnte das Geheimnis natürlich nicht für sich behalten und zwei Tage nach jener schrecklichen Entdeckung, die mich selber wie ein Dieb in der Nacht traf, kam sie mit den Verwandten an, mit Lehnsmann Pohns und Tante Frauke, Onkel Dirk Thomsen und Tante Trine. Und alle saßen zusammen in der guten Stube und hielten Familienrat, was mit mir geschehen sollte. Genau wie damals, bevor ich nach T. kam.

Ich war oben in meiner Stube, aber während ich da am Fenster hockte, kribbelte es mich plötzlich, hinunterzugehen und zu hören, was verhandelt wurde. Ich schlich mich deshalb leise die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und horchte durch das offene Guckfenster, was sie sprachen. Zuweilen schob ich ganz vorsichtig die Gardine etwas zurück, um zu sehen, und kein Wort entging mir.

Sie waren sehr erregt und sprachen heftig durcheinander. Tante Frieda hatte nicht mal abgelegt, in Hut und Jacke saß sie am Tisch mit hochrotem, verstörtem Gesicht. Ich hörte, daß die Rede davon war, ich sollte Meinert heiraten. Vater sagte, Meinert sollte sein Kompagnon werden und es sei schon alles in Ordnung, die liebe Familie brauche sich gar nicht erst groß aufzuregen. Das standesamtliche Aufgebot werde in den nächsten Tagen bestellt werden. Die Lene heulte und rief, dadurch würden ihre Kinder benachteiligt, und so bleibe nichts 66 für sie übrig und sie könnte wieder dienen gehen und ihre Kinder ins Armenhaus bringen, wenn Vater mal stürbe. Vater rief ihr zu, sie solle das Maul halten, und Onkel Dirk und Lehnsmann Pohns sagten laut, dies sei der einzig richtige Ausweg aus dem Dilemma, es sei zwar eine fürchterliche Schande für die Familie, aber nicht das erste- und nicht das letztemal, daß so etwas passierte. Mitten in die Rederei schoß Tante Friedas Stimme wie eine eiskalte Wasserspritze. »Will denn die Thymi überhaupt den Meinert heiraten?« Zwei Sekunden lang blieb es still im Zimmer, dann erhob sich ein lautes Durcheinander von Stimmen, die alle schrien, das sei doch selbstverständlich und ich müsse einfach, und die Lene überkreischte alle: »Wär ja noch mal schöner, wenn die sich aufsetzte, nachdem sie – – – Die soll froh sein, wenn sie unter die Haube kommt – – –« Und dann, ich weiß nicht wie, war plötzlich Streit im Gange. Tante Frieda überschrie jetzt alle andern. »Ich weiß noch lange nicht, ob es gut getan ist, das Kind Hals über Kopf dem Schuft, dem Meinert, anzukuppeln. Kommt noch sehr darauf an, was für ein Unglück leichter zu tragen ist, der Makel auf dem Namen oder ein ganzes Menschenleben Eheelend . . .«

»Du bist übergeschnappt, Frieda,« rief Tante Frauke erregt, »sie kann doch nicht so laufen bleiben. Und wie sie sich das Bett macht, muß sie drin liegen. Wenn sie sich mit Meinert abgegeben hat, muß sie ihn heiraten.«

»Das ist auch meine Meinung,« sagte Vater, »die Heirat ist die beste Lösung.«

»Die Heirat mit solchem Menschen?« rief Tante Frieda, »solch ein Schuft, der die Einfalt und Unwissenheit von einem unmündigen Kind benutzt, und sie unglücklich macht . . . Und daß du als Vater nicht einsiehst, was du deinem Kind mit dieser Heirat anhängst. Bist du ein Vater? Ein elender Schuft bist du auch, wie 67 dein Genosse. Ja, das bist du,« schrie sie und schlug mit der Faust auf den Tisch, »bist du ein Mann, der ein Kind und noch dazu ein Mädchen erziehen konnte? Du – du!! Hab ich's nicht immer gesagt und dich beinahe fußfällig gebeten, das Mädchen nach der Einsegnung aus dem Hause in Pension zu geben? Du bist schuld. Über dich sitzen wir hier zu Gericht und nicht über das unglückliche, verführte Kind, daß du's weißt. Wie ein Rabenvater hast du an deiner Tochter gehandelt, als du sie hier behieltest.«

»Ich?« rief Vater. »Ich habe mein Kind abgöttisch geliebt, Frieda. Mich trifft kein Vorwurf.«

»Ja, ja, das ist noch lange keine Liebe, daß man einem Kind allen Willen tut und Ja und Amen zu allem sagt, was es in seiner Dummheit sinnt und anstellt. Hier in dies Haus gehört eben kein heranwachsendes Mädchen. Die Apotheke ist schon lange verrufen. Hier ist, seitdem deine arme erste Frau tot ist, kein anständiges Haus und kein geregeltes Familienleben mehr. Ein Bordell ist hier und eine Hurenwirtschaft – ja – ja – ja . . . Die einzige anständige Person, die hier in den Jahren schaltete, war das arme Mädel, die du auch auf dem Gewissen hast – du Erzhalunke du –«

»Die einzige,« kreischte Lene. »Bin ich vielleicht keine anständige Person, bin ich vielleicht auch so eine . . .«

»Ich habe keine andere Bezeichnung für dich,« rief Tante Frieda. Da flog die Lene vom Stuhl auf und auf Tante Frieda zu und griff ihr mit beiden Händen an den Kopf und schrie immerfort: »Bin ich eine? Du buckliges Nickel! Widerrufst du und tust Abbitte oder ich dreh dir dein vermeckertes Zifferblatt auf die Kehrseite . . .«

Und Tante Frieda nicht faul, fährt ihr mit spitzen Fingern in die Augen, daß die Lene aufpiepste und alle sprangen auf und kreischten und heulten, und Lehnsmann 68 Pohns nahm seinen dicken Spazierknüppel, den er immer zwischen den Knien hält und schlug über den Tisch weg nach den beiden Weibern, die sich prügelten, und traf dabei die Hängelampe, und die Glocke und der Zylinder gingen in hundertundzwanzig Splitter. Da ließen die Weiber voneinander ab, und Tante Frieda strich ihre zerzausten Haare zurecht und die Lene lief nach draußen, wahrscheinlich um ihre Augen, die Tante Frieda nicht schlecht zugerichtet hatte, zu kühlen. Gleich darauf kam Meinert herein, ich verstand nicht gleich, was mit ihm verhandelt wurde, die Frauen schwatzten noch immer aufgeregt durcheinander. Ich glaube, es war die Rede davon, daß er Teilhaber der Apotheke werden sollte und Lehnsmann Pohns und Onkel Dirk haben doch große Hypotheken darauf und müssen erst einwilligen. Es schien, als ob sie Bedenken hätten und Tante Frieda bestand darauf, ich solle erst gefragt werden, ob ich Meinert auch heiraten wolle.

Ich schob das Vorhängelchen am Guckfenster ein klein wenig beiseite und sah gerade in Meinerts blasses, höhnisches Gesicht, das mir nie vorher so fratzenhaft widerwärtig erschienen war, als in dem Augenblick.

»Ja, verehrte Herren,« sagte er und rieb seine mageren knochigen Hände. »Wenn die Sachen so liegen, wollen wir doch lieber von der Geschichte absehen. Es ist doch wahrhaftig nicht so aufzufassen, als ob ich hier der bittende Teil bin. Im Gegenteil. Ich leugne nichts ab. Ich habe ein kleines Techtel-Mechtel mit der Thymian gehabt. Gut. Die Folgen machen sich bemerkbar. Bon. Weil sie die Tochter meines Chefs und meines besten Freundes ist, stehe ich nicht an, meine Pflicht zu tun und sie zu heiraten. Ich bin eben Gentleman. Sonst – wenn das nicht wäre, wenn ich krittelig sein wollte, hätte ich Gründe genug zur Retirade. Die Thymian ist ein Racker . . . hat Temperament, die Kleine. Mit dem jungen Grafen 69 Osdorff geht sie auch . . . Wer will mir denn beweisen, daß ich gerade . . .«

Ich stopfte mir die Ohren zu. Meine Beine zitterten. Es wurde mir schwarz vor den Augen. In meinem Gehirn klopfte es wie in einer Grobschmiede.

So lief ich hinaus und holte meinen Hut und rannte aus dem Hause, ohne zu wissen, wo ich eigentlich hin wollte. Immer weiter, wohin mich meine Füße trugen, geradeaus nach dem Wiesengraben und von da hinunter zur Schleuse. Ich wollte denselben Weg gehen, den Elisabeth vor mir gegangen war, aber wie ich mich dann über das Geländer beugte und das schwarze, unruhige, kreisende Wasser erblickte, packte mich ein fürchterliches Grauen. Ich klammerte mich fest an die eiserne Stange und machte einen Anlauf, um mich überzuschwingen, aber meine Füße waren schwer wie Blei. So starrte ich nur immerfort hinunter und wünschte mich tief unten in dem schwarzen Schlund und hatte doch ein so entsetzliches Grauen vor dem Tod, der da unten saß und mich anglotzte. »Nur die Zähne zusammengebissen und die Augen zu,« hörte ich Elisabeth sagen und es fiel mir ein, daß ich in letzter Zeit alles durchgemacht hatte, was sie durchmachte: die Angst, die Qual, das unbewußte Anringen gegen eine unbekannte Gefahr, die auf ihr Opfer lauert.

»Geh, mach!« sagte eine Stimme in mir, »sei nicht so elend feige.« Und ich raffte mich wieder auf, um hineinzuspringen und wieder hielt eine geheimnisvolle Schwerkraft meine Füße an der Erde, und bei aller Qual war ein Lebensdrang in mir, der mächtig aufwallte und mit seinem heißen Strom die eisigen Schauer des Sterbenwollens überflutete und auslöschte.

Eine Verzweiflung war in mir, in meinem Gehirn rannten die Gedanken wie wild geworden durcheinander, 70 ein rasender Schmerz brannte in allen meinen Gliedern. Ich wünschte mir nur eins: Bewußtlos werden und nicht mehr aufwachen.

Wie lange ich dagestanden habe, weiß ich nicht. Auf einmal nannte jemand meinen Namen, ich drehte mich um und sah in Tante Friedas blasses, trauriges Gesicht und in ihre nassen Augen, und ihr Gesicht kam mir merkwürdig verändert vor. Gar nicht mehr so spitz und grämlich verkniffen wie sonst.

»Thymian! Komm, mein armes Kind,« sagte sie, »komm heim zu mir« –

Sie nahm meine Hand in ihren Arm und ich folgte ihr wie im Traum, mich widerspruchslos ihrem Willen unterordnend. Ich habe sie vorher nie so sprechen hören. Ich habe nie geahnt, daß ihre Stimme so warm und so weich und innig klingen könnte. Ich hatte sie immer nur keifen und schelten hören, und nun, wo ich soviel verbrochen hatte, und wie eine arme Sünderin neben ihr herging, floß ihr Mund über von sanften, zärtlichen, tröstenden Worten. Und es war mir plötzlich, als hätte ich diesem wunderlichen alten Weibchen ein ganzes Teil abzubitten, als wäre ich in meiner kindischen Torheit alle die früheren Jahre blind gewesen und hätte nicht gesehen, welch ein treues, gutes Herz sich unter dem Geschnörkel ihres absonderlichen Wesens und ihren vielen kauzigen Eigenschaften verbirgt.

Oben in ihrem Wohnzimmerchen war es dunkel, als wir hinaufkamen, ich setzte mich aufs Sofa und legte die Arme auf den Tisch und den Kopf in die Hände, und Tante Frieda strich mit der Hand über mein Haar und sagte wieder leise: »Armes Kind! Armes, unglückliches Kind! Was haben sie aus dir gemacht . . .«

»Ich bin ja schlecht, Tante Frieda,« sagte ich, »es wäre am besten, wenn ich tot wäre.«

»Nein, Thymian,« sagte sie ernst. »Die Toten 71 können nichts gut machen, und du hast viel zu tun, um deine Schuld gut zu machen. Du sollst an dir arbeiten, daß du trotz allem und allem ein tüchtiges, braves Mädchen wirst.«

»Aber ich heirate Meinert nicht,« rief ich, »eher geh' ich ins Wasser.« Sie nickte. »Das hab' ich mir gedacht, und ich kann dir nicht unrecht geben. Sei still, Liebes. Ich will mit Vater reden. Wir wollen ihn hierherkommen lassen. Wir wollen sehen, was zu machen ist.«

Sie sprach eine lange Weile zu mir; ich habe nicht alles behalten, was sie redete, aber es waren gute, liebe, freundliche Worte, kein Schelten, keine Vorwürfe, keine bissigen Anspielungen. Zuletzt erzählte sie mir von der schönen Frau Claire Gotteball, meiner Urgroßmutter, die der Urgroßvater als blutarmes Mädchen von Paris mitgebracht hatte. Als sie vier Jahre verheiratet waren, hat sie ihn und ihre zwei Kinder verlassen und ist mit einem reichen Kaufmann nach Indien gegangen, und nie wieder ist Kunde von ihr gekommen. Ihr Name ist in der Familiengeschichte der Gotteballs gestrichen, aber ein paar verspritzte Tropfen des leichtsinnigen, französischen Kokottenblutes haben sich in der nachfolgenden Generation erhalten und machen, wie ein vererbter Fluch, sich immer wieder geltend.

»Die Sünden der Väter rächen sich bis ins dritte und vierte Glied,« murmelte Tante Frieda, »das ist wahr . . . ja, das ist wahr . . .«

* * *


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