Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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58 Ach Gott, ist das Haus öde, seitdem Elisabeth tot ist. Wir haben jetzt eine Witwe als Haushälterin, eine schmeichlerische, behäbige Person mit einem glatten, weißen Gesicht und schwarzem Haar. Frau Lene Peters heißt sie. Sie spricht sehr langsam und zieht die Worte am Ende in die Länge, als ob sie singen wollte. Ich kann sie nicht leiden, obwohl sie immer sehr nett zu mir ist und sehr mütterlich tut. Es liegt etwas Falsches in ihrem Wesen. Sie ist immer so um Vater herum, wenn er sich an der vergreift, ist's kein Wunder, sie macht es ihm leicht. Ins Wasser geht die nicht, davor ist mir nicht bange.

Früher habe ich auf so etwas gar nicht geachtet, aber jetzt sehe ich mit zwei Augen, was um mich vorgeht.

Manchmal ergreift mich ein fürchterlicher Widerwille vor mir selber und vor meiner ganzen Umgebung. Zwischen Vater und mir steht eine unsichtbare Wand. Er fühlt sie nicht, aber ich: Elisabeths Schatten geht zwischen uns um. Ich weiß, ich habe kein Recht, Vater, der mich unendlich liebt, zu verdammen, aber in den schrecklichen Stunden ist etwas in mir untergegangen: Die Achtung und das Vertrauen zu meinem Vater.

Sonst habe ich gewiß kein Recht, mich auf das hohe Pferd zu setzen. – Herrgott, bin ich elend seit jener Nacht . . . Ich möchte am liebsten fort. Ich hasse Meinert. Und doch gehöre ich ihm fort und fort an. Oft riegele ich mich abends in meinem Zimmerchen ein. Aber es ist wie behext. Mitten aus dem Schlafe wache ich auf von seinem leisen Anpochen, und wenn ich gleich mit zusammengebissenen Zähnen erst still liegen bleibe und mich nicht rühre, eine geheimnisvolle Macht, die stärker als mein Wille ist, treibt mich schließlich doch auf und zur Tür, daß ich öffne.

Ich bin ganz verändert seit jener verhängnisvollen Nacht. Zuweilen meine ich, die Leute könnten mir 59 ansehen, was mit mir ist, ich mag niemand mehr gerade in die Augen blicken. Besonders vor Tante Friedas scharfen Augen fürchte ich mich. Sie guckt mich oft so verdächtig an, daß ich manchmal denke, sie ahnt etwas: aber ich selber sehe die Leute auch anders an als früher.

Ich kann zum Beispiel nicht mehr unbefangen mit Osdorff verkehren. Ich muß immer seine Hände betrachten, diese weichen, weißen, schönen Hände, die mir früher schon so gut gefielen. Nur daß mir heute ganz merkwürdige Empfindungen kamen, während ich auf sie hinsehe. Ich spüre zuweilen ein heftiges Verlangen, mich von diesen schönen, glatten, weißen Händen schlagen zu lassen. Einmal wurde der Wunsch so stark in mir, daß ich es ihm sagte.

»Schlagen Sie mich,« sagte ich, »kratzen, kneifen Sie mich, Osdorff. Ich möchte mir Schmerzen von Ihren Händen bereiten lassen.« Er sah mich verwundert an. Unsere Blicke begegneten einander. In seine matten Augen trat ein seltsames Flimmern. Dasselbe Flimmern, das ich zum erstenmal in jener unheimlichen Nacht nach Elisabeths Tod in Meinerts Augen bemerkte.

»Ach Unsinn – wo werde ich Ihnen weh tun, Thymian. Schöne Mädchen sind da, um geliebt zu werden, gekost, gestreichelt. Ich bin doch kein Rüpel. . . .« Dabei fuhr er mir mit der samtweichen Hand ganz sachte und langsam über die Wangen. Ich schloß die Augen, um sein Gesicht nicht zu sehen, dieses blödsinnig dumme Gesicht mit den hellgrauen Schellfischaugen. Aber die Hände, die Hände – sie machen mich ganz verrückt –

Seitdem nennen wir uns du und treffen uns oft an einsamen Orten.

Trotz seiner Geistesarmut und seinem Kretingesicht liebe ich ihn – so – ich weiß nicht wie, so wie ich als kleines Kind die Puppe im hellblauen Seidenkleid, die Vater mal von der Reise mitgebracht hatte, liebte. 60 Ich liebe ihn wie eine Sache, an die man sich gewöhnt hat, wie einen Gebrauchsgegenstand, von dem man sich nicht trennen mag. Wir haben uns gelobt, ewig treue Freunde zu bleiben, wohin uns das Schicksal auch verschlägt. Seine Hände liebe ich immer noch wahnsinnig – o Gott.

* * *


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