Deutsche Balladen
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Die Tanzwut

(Hermann Lingg, 1820 – 1905)

        Bald nach des schwarzen Todes Zeiten
geschah's, daß eine wilde Lust
zu Tanz und Spiel und Üppigkeiten
durchzuckte vieler Menschen Brust.
Es kam ein Not- und Hungerjahr,
in Lüften starb der Vögel Schar.

Bald sah man Volk, das durch die Städte
am hellen Tag in Jubel zog
und fragte, wo man Geiger hätte,
und tanzend durch die Straßen flog.
Schalmei und Flötenspiel ertönten
im Kirchhof und im Kirchengang.
Die Toten in den Grüften stöhnten:
erweckt uns schon Posaunenklang?
Der Bettler ließ sein Lagerstroh,
vom Kloster kamen Mönch und Nonne,
vom Krankenbett der Sieche floh,
der Säufer von der vollen Tonne.
Und alle sangen: »Frisch und froh
macht euch an die Sonne!
Mußtet lang im Dunkel liegen,
Demut hegen, Wehmut wiegen;
aber heute seid ihr Leute.
Sehr ihr wo verlaßne Bräute?
sehr ihr wo verlorne Kinder?
nehmt sie mit und schwingt sie so,
so und so,
immer geschwinder, geschwinder.«
So tanzten Arm in Arme schmiegend
in bunten Kleidern Paar an Paar,
den kranken Leib in Sehnsucht wiegend,
voll Anmut, schön und wunderbar.
Das Alter schien sich zu verjüngen,
die Jugend plötzlich früh gereift,
so sprangen sie mit wilden Sprüngen
bis Sock und Sohle durchgeschleift.
Die von der Wut ergiffnen Leiber,
ach, wie sie nach dem Wasser schrien.
Die Männer und die jungen Weiber,
man sah sie bitten, weinen knien.
Sie tanzten über Flur und Felder,
sie sprangen über Stock und Stein,
sie tanzten in die wilden Wälder
und in den tiefen Rhein hinein.
Sie rasten fort und fort gezogen
und eilten bis ans Meer voll Weh
und stützten in die wilden Wogen,
die Fische spritzten in die Höh. –

 


 


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