Deutsche Balladen
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Die grausame Schwester

(Volksballade)

          Es warn einmal zwei Schwestern
zu Hirschberg in der Stadt,
die eine ging rum betteln,
die andre war so reich.

Die Leut, die täten sprechen,
du darfst nicht betteln gehn;
du hast eine reiche Schwester,
die kann dir wohl beistehn.

Die arme Schwester, die wendt sich um
und ging wohl ihren Gang
zu ihrer reichen Schwester,
die sie in Freuden fand.

»Ach Schwester, liebste Schwester,
ich bitt dich um ein Brot
für meine sechs kleinen Kinder,
die leiden Hungersnot!«

»Ach nein, meine liebe Schwester,
ach nein, das tu ich nicht;
ein Brot soll ich anschneiden,
sechs Stücklein davon schneiden?
Ach nein, das tu ich nicht!«

Die arme Schwester, die wendt sich um
und ging wohl ihren Gang
zu ihren sechs kleinen Kindern,
die sie im Schlafe fand.

Und als der Herr aus der Kirche kam,
wollt er aufscheid'n das Brot:
das Brot war wie die Steine,
das Messer von Blut so rot.

»Ach Fraue, liebste Fraue,
wem hast du's Brot versagt?«
»Ach meiner armen Schwester,
die mich so kläglich bat!«

Die reiche Schwest'r die wandt sich um
und ging wohl ihren Gang
zu ihrer armen Schwester,
die sie in Trauren fand.

»Gott grüß dich, liebe Schwester,
hier bring ich dir ein Brot
für deine sechs kleinen Kinder,
daß sie nicht leiden Not.«

»Ach nein, meine liebe Schwester,
ach nein, das nehm ich nicht:
Gott hat uns heut gespeiset,
er speist uns morgen auch!«

 


 


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