Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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7.

Ich habe um jede Wohnung in meiner neuen Kolonie einen kleinen Hain von fruchtbaren Bäumen und Stauden, einen kleinen Garten, ein Feld mit Reiß, und ein Wäldchen von Wollenbäumen anlegen lassen.

Jede kleine Familie hat Platz genug zum Anbau; je mehr sie sich verstärkt, je mehr Hände zum Arbeiten.

Die Männer bestellen ihr Feld und ihren Garten, oder fischen, oder jagen in den gemeinschaftlichen Wäldern; die Jünglinge und Mädchen hüten und besorgen, so lange sie in den Schäferjahren sind, die Herden; und die Frauen beschäftigen sich mit dem Innern der Haushaltung; sie pflegen den Garten, sie bereiten die Mahlzeit zu, und die Baumwolle gewinnt unter ihren schönen Händen alle die mannigfaltigen Gestalten, worin sie geschickt wird, ihnen den Mangel aller Persischen und Indischen Manufakturen zu ersetzen.

Bey allen diesen Arbeiten, welche nicht mehr sind, als meine Leute bedürfen um mit besserm Appetit zu essen und desto süßer zu schlafen, bleibt ihnen noch Zeit genug zu den Vergnügungen, in welchen eigentlich der Genuß des Lebens besteht.

Der Vater behält Zeit genug mit seinen Kindern zu tändeln, und tändelnd seine Knaben den Bogen gebrauchen, oder sein Frühstück mit dem Wurfpfeil verdienen zu lehren; indeß die jungen Töchter von der schönen Mutter den Gesang der Nachtigall nachahmen, oder die Lieder irgend eines dichterischen Schäfers auf der Cither begleiten lernen.

Des Abends versammeln sich gewöhnlich etliche benachbarte Familien unter den Bäumen einer anmuthigen Gegend, Gesang und Scherz verkürzt die geselligen Stunden; sie sehen den Spielen ihrer Kinder zu, und erinnern sich dabey des süßen Traumes ihrer eigenen Kindheit.

Ich gestehe, daß ich viel auf Müßiggang und Ergetzlichkeiten halte. Arbeit ist ein Mittel zum Zweck unsers Daseyns; aber sie ist nicht der Zweck selbst.

Meine guten Pflegekinder! ihr habt, wenn ich die Zeit, die ihr verschlaft, abrechne, höchstens vierzig oder funfzig Sonnenjahre zu leben; und ich sollte nicht alles in der Welt anwenden, damit ihr eures Daseyns froh würdet?

Der Stiftungstag meiner Republik, der Anfang jeder Jahreszeit und jedes Monats, und die Ernte und Weinlese, sind öffentliche Feste, wo der Geist einer allgemeinen Fröhlichkeit durch meine ganze Insel weht.

Diese Feste sind das vornehmste Mittel, wodurch ich Eintracht, Geselligkeit und allgemeines Wohlwollen unter meinem Volk erhalte. Es sind eigentlich die Tage, wonach sie ihre Leben messen. Ich habe schon dreyzehn Rosenfeste erlebt, sagt ein Mädchen, wenn sie sagen will, daß sie dreyzehn Jahr als sey. – Es sind die Tage, auf die man sich an allen übrigen freuet, und mit deren Erwartung man sich zum Fleiß ermuntert. Die Mädchen und Frauen arbeiten emsiger, um am nächsten Feste in einem niedlichern Anzug zu erscheinen, und die Männer beeilen sich für einen hinlänglichen Vorrath zu sorgen, um sich nach ihrer einfältigen Art mit ihren Nachbarn gütlich thun zu können.

Überhaupt getraue ich mir zusagen, daß schwerlich noch ein andres Land in der Welt ist, wo man die Glückseligkeit, unter einem Baume zu liegen und von Nichtsthun auszuruhen, in einem höhern Grade genösse; oder wo an festlichen Tagen die Freude geselliger, sympathetischer, allgemeiner, und dabey unschuldiger und seltsamer wäre als in meiner Insel. Mein Volk ist eine gutherzige, muntre, jovialische Art von Geschöpfen, die sich mit einander freuen daß sie da sind, und keinen Begriff davon haben, wie man es machen müßte um einander das Leben zu verbittern, oder warum man es thun sollte. Ich habe ihnen alle Gelegenheit benommen auf so unnatürliche Gedanken zu kommen.

In der vollkommnen Überzeugung, daß jeder Schritt, der sie von der Einfalt und Genügsamkeit der Natur entfernte, sie von der Glückseligkeit entfernen würde, – hab' ich alle angewandt, um ihnen den Verlust dieser wohlthätigen Einfalt unmöglich zu machen.

Der Erfinder eines neuen Tanzes, eines neuen Liedchens, einer neuen Melodie, wird durch das Vergnügen belohnt, das er seinen Gespielen (so nennen sich meine Insulaner unter einander) damit macht. Aber der Erfinder einer jeden andern Neuigkeit oder Neuerung, welche auf eine vermeinte Verbesserung ihrer Lebensart, ihrer Art zu wohnen, zu essen, zu schlafen, sich zu kleiden, oder ihrer Arbeit, ihren Sitten, und der Einförmigkeit in allem diesem abzielte, würde sich eben so, wie ein Störer der ehelichen Ruhe, die Belohnung zuziehen, in einen Nachen gesetzt und auf ewig in den weiten Ocean verwiesen zu werden.

Das Schöne und Gute fließt in einer einzigen sanften Wellenlinie zwischen unzähligen Abweichungen fort: es ist seiner Natur nach einförmig; wenn man es einmal besitzt, so geht jede Veränderung – ins Schlimmere, eure Sofisten mögen sagen was sie wollen.

Um sie vollkommen zu überweisen, laßt mir nur einen einzigen jungen Athener kommen, und seht, was er in acht Tagen aus meiner armen Republik gemacht haben wird.

In rauschendem Purpurgewande, mit Silberblumen durchwirkt, schwimmt mein artiger junger Herr daher, von arabischen Öhlen und Essenzen düftend, zierlich gelockt, zierlich beschuht, kurz, um und um schimmernd wie Föbus Apollo, wenn ihm die Stunden die goldne Pforte des Morgens öffnen. Was für Ausrufungen er macht, indem er meine Schönen in ihrem einfältigen Putz von selbst-gesponnener Wolle sieht, die Haare kunstlos mit Blumen durchflochten, ohne Ohrengehänge, ohne Ringe, ohne Blumen von bunten Edelsteinen in den Locken! Was für Ausrufungen beym Eintritt in ihre Hütten, bey ihren Mahlzeiten, bey ihren Festen, bey ihren Tänzen! – »Götter, wie reitzend würden diese Mädchen seyn, wenn die Erziehung ihrer glücklichen Anlage zu Hülfe käme! Wie Schade, daß so liebenswürdige Geschöpfe eine so elende Lebensart führen sollen!« – Wir sind glücklich, junger Fremder! – »Glücklich nennt ihr das? – Arme Geschöpfe! ich bedaure eure Unwissenheit.« – Und nun beschäftigt er sich sie aus dieser Unwissenheit zu ziehen, von welcher wirklich ihre Glückseligkeit abhing. Es wird ihnen schwer ihn zu verstehen. Aber was er ihnen nicht beschreiben kann, das zeigt er vor; sein Putz, sein Geschmeide, sein Gold, ein ganzer Hausrath von hundert kleinen artigen Gerätschaften, die er bey sich trägt, und wovon sie den Gebrauch ewig nicht errathen hätten. – Dieß macht Eindruck; man fängt an zu merken, daß man unwissend, arm, einfältig ist. Tausend neue Begierden steigen in den betrognen Seelen auf, und stören den ruhigen Schlummer ihrer noch unentwickelten Fähigkeiten. Mein gefälliger Verführer bedient sich der unglücklichen Anlage, die er ihnen zu geben angefangen hat. Er läßt sich einen Palast unter ihnen bauen, er giebt ihnen Gold, Künste, Wissenschaften, Gewerbe, – er macht sie auf etliche Tage glücklich; sie sehen ihn für eine wohlthätige Gottheit an, und was kann ihre Dankbarkeit weniger thun, als sich ihm zu Sklaven zu ergeben?

Was wird die Folge davon seyn?

In weniger als zwanzig Jahren wimmelt es in meiner Insel von Handwerkern, Künstlern, Handelsleuten, Seefahrern, Staatsmännern, Priestern, Soldaten, Richtern, Advokaten, Finanzpachtern, Ärzten, Filosofen, Dichtern, Komödianten, Mimen, Gauklern, Taschenspielern, Beutelschneidern, Kupplern, Spitzbuben und – Bettlern, so gut als bey den Isthmischen Spielen. Der wohlthätige Athener! Sein Geschenk war die Büchse der Pandora. Wir gaben ihm unsre Freyheit, unsre Ruhe, unsre Gesundheit, unsre sorglose Fröhlichkeit, unsern glücklichen Müßiggang; und er gab uns dafür Bedürfnisse, Leidenschaften, Thorheiten, Laster, Krankheiten, Sorgen, Kummer, hohle Augen und eingefallne Wangen. – Wie glücklich hat er die Republik des Diogenes umgeschaffen! Seine Insel ist nun, Dank sey euern Künsten und Wissenschaften, was alle eure Inseln sind!

Das war es eben, was ich euch beweisen wollte.


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