Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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31.

»Bey allem dem, Diogenes, würdest du schwerlich lieber Wasserträger als Filomedon seyn wollen?«

Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, so möcht' ich weder das eine noch das andere seyn.

»Aber, weil du doch so viel von der Gleichheit hältst, warum forderst du von mir so viel, und von dir selbst gar nichts? – Ich sehe nicht, womit Du dem Staate dientest; du treibst weder Kunst, noch Gewerbe, noch Wissenschaft, du bauest und pflanzest nicht, du verwaltest kein Amt, du thust nichts, nicht einmahl das, was du mir noch endlich zugestanden hast; du bist nicht einmahl eine Hummel im gemeinen Wesen. Womit willst du deine Unnützlichkeit rechtfertigen?«

Man ist niemanden mehr schuldig als man von ihm fordert. Ich fordre von den Korinthiern und von allen Griechen und Barbaren zusammen genommen nichts mehr, als, wie ich dir schon sagte, daß sie mich leben lassen. Ich bin ihnen also auch nichts weiter schuldig. Ich besitze keine Güter, ich habe keine Einkünfte, ich bedarf keines Schutzes; ich sehe also nicht, was Korinth oder irgend eine andere Partikulargesellschaft in der Welt an mich zu fordern haben sollte.

»Wenigstens hat Sinope, deine Vaterstadt, ein vorzügliches Recht an deine Dienste. –«

Gerade so viel als Babylon oder Karthago. – Da die Natur einmahl wollte, daß ich geboren werden sollte, so mußt' ich irgendwo geboren werden; der Ort selbst war dabey gleichgültig. Die Herren von Sinope wären sehr unhöflich gewesen, wenn sie meiner Mutter, die eine ehrliche hübsche Frau war, die Freyheit hätten versagen wollen, sich meiner in ihren Mauern zu entladen.

»Aber du wurdest doch zu Sinope erzogen. – Ist die Erziehung kein Vortheil? –«

Wenn sie gut ist; ich kann mich der meinigen nicht sonderlich rühmen. Meine eigentliche Erziehung empfing ich zu Athen vom Antisthenes, ohne daß ich den Athenern desto mehr Dank dafür schuldig bin; denn er hatte nicht mehr von ihnen als ich von den Korinthiern. Das übrige, und, die Wahrheit zu sagen, das beste, hab' ich meiner Erfahrung und mir selbst zu danken.

»Aber waren nicht deine Voreltern Sinopier? Warum sollte das Vaterland kein Vorrecht an seine Bürger haben?«

An seine Bürger? Unstreitig! – Aber die Geburt macht mich zu keinem Bürger eines besondern Staats, wenn ich es nicht seyn will. Frey, unabhängig, gleich an Rechten und Pflichten, setzt die Natur ihre Kinder auf die Welt, ohne irgend eine andere Verbindung als das natürliche Band mit denen, durch die sie uns das Leben gab, und das sympathetische, wodurch sie Menschen zu Menschen zieht. Die bürgerlichen Verhältnisse meiner Ältern können mich meines Naturrechts nicht berauben. Niemand ist befugt, mich zu zwingen daß ich mich desselben begeben soll, so lange ich keine Ansprüche an die Vortheile einer besondern Gesellschaft mache. Kurz, es hängt von meiner Wahl ab, ob ich als Bürger irgend eines einzelnen Staates, oder als Weltbürger leben will.

»Und was nennst du einen Weltbürger?«

Einen Menschen wie ich bin, – der, ohne mit irgend einer besondern Gesellschaft in Verbindung zu stehen, den Erdboden für sein Vaterland, und alle Geschöpfe seiner Gattung – gleichgültig gegen den zufälligen Unterschied, welchen Lage, Luft, Lebensart, Sprache, Sitten, Polizey und Privatinteresse unter ihnen machen – als seine Mitbürger oder vielmehr als seine Brüder ansieht, die ein angebornes Recht an seine Hülfe haben, wenn sie leiden, an sein Mitleiden wenn er ihnen nicht helfen kann, an seine Zurechtweisung wenn er sie irren sieht, an seine Mitfreude wenn sie sich ihres Daseyns freuen.

Vorurtheile, ausschließende Neigungen, gewinnsüchtige Absichten, alls in ihren eigenen Wirbel hinein ziehende Leidenschaften sind die gewöhnlichen Triebwerke unsrer Handlungen, so lange wir uns bloß als Glieder irgend einer besondern Gesellschaft ansehen, und unsre Glückseligkeit von der Meinung, welche sie von uns hat, abhängig machen. Sogar was man in diesen besondern Gesellschaften Tugend nennt, ist vor dem Richterstuhl der Natur oft nur ein schimmerndes Laster; und derjenige, dem Athen oder Sparta Ehrensäulen setzt, wird vielleicht in den Jahrbüchern von Argos oder Megara als ein ungerechter und gewaltthätiger Mann dem Abscheu der Nachwelt übergeben.

Der Weltbürger allein ist einer reinen, unparteyischen, durch keine unächte Zusätze verfälschten Zuneigung zu allen Menschen fähig. Ungeschwächt durch Privatneigung schlägt sein warmes Herz desto stärker bey jeder Aufforderung zu einer Handlung der Menschlichkeit und Güte. Seine Zuneigung, seine Empfindlichkeit breitet sich über die ganze Natur aus. Mit einer Art von zärtlichem Gefühl sieht er die Quelle an, die seinen Durst löschet, und den Baum, in dessen Schatten er liegt; und der erste der sich zu ihm hinsetzt, käm' er von den Garamanten her, ist sein Landsmann, – und, wofern sein Herz ihn liebenswürdig macht, sein Freund.

Diese Art zu denken und zu empfinden hält ihn reichlich für die Vortheile schadlos, die er dadurch entbehrt, daß er sich nicht in die Leidenschaften und Absichten einer besondern Gesellschaft einflechten läßt.

Da er sich angewöhnt hat, außer dem Nothwendigen was die Natur bedarf, alles übrige, was Gemächlichkeit und Üppigkeit den Günstlingen des Glücks zu unentbehrlichen Nothwendigkeiten gemacht hat, entbehrlich zu finden, so hat er keine Mühe, allenthalben zu leben, ohne jemanden beschwerlich zu seyn. Im Nothfall verschafft ihm die Arbeit eines Tages den Unterhalt einer ganzen Woche; und die Korinthier oder Athener werden nie so unfreundlich seyn, einem harmlosen Menschen, der niemandem im Wege steht, eine Hütte, oder wenigstens einen hohlen Baum, zur Wohnung zu versagen.

Übrigens ist ein Weltbürger, wie ich ihn schildre, kein so unnützlicher Mann, als man sich gemeiniglich einbildet. Es ist eure eigene Schuld, wenn ihr keinen Gebrauch von ihm macht. Er hat keine Vortheile davon auch zu schmeicheln, euch auf Abwege zu verleiten, euch in euern Thorheiten zu bestärken; er gewinnt nichts durch euern Fall; wer sollte sich also besser dazu schicken, euch die Wahrheit zu sagen, deren ihr am meisten vonnöthen habt? Und das wäre doch oft (wenn ihr klug genug wäret guten Rath anzunehmen) der wichtigste Dienst, den man euch leisten könnte.

Zum Beyspiel, damit du deine Stunde nicht ganz bey mir verloren habest, hätte ich gute Lust, Filomedon, dir eine kleine Lehre mit nach Hause zu geben, welche – wenigstens zehn Talente werth ist; und von mir könntest du sie umsonst haben.

»Laß hören, Diogenes!«

Du bist höchstens fünf und dreyßig Jahre auf der Welt, Filomedon; du bist also noch nicht zu alt, um ein rechtschaffener Mann zu werden. Danke die schlechten Gesellen ab, die alles bewundern was du sagst, und alles gut heißen was du thust, um sich alle Wochen zwey- oder dreymahl satt bey dir zu essen. Wende nur den sechsten Theil des Tages dazu an, dir die Kenntnisse zu erwerben, wodurch du dich dem gemeinen Wesen nützlich machen könntest. Da du einer der reichsten Bürger bist, so ist dir mehr als tausend andern daran gelegen, daß es dem Staat wohl gehe, aus dem du so große Vortheile ziehst. – Oder trauest du deinem Kopfe nicht so viel zu, so bedenke, daß die Natur, welche ihre übrigen Gaben, Schönheit, Stärke, Witz, Genie, austheilt wie und wem sie will, – die Güte des Herzens in unsre eigene Gewalt gegeben hat. Ein wohlthätiger Gebrauch deines Reichthums – und Gelegenheiten dazu wirst du nur zu häufig finden – würde dir die Herzen deiner Mitbürger gewinnen, und deine Erhaltung zum Gegenstande der allgemeinen Wünsche machen. Wer wollte sich noch lange besinnen, ob er einen so großen Vortheil um eine arme Hand voll Goldes erkaufen wollte? –

Ob Filomedon diese guten Lehren des wohlmeinenden Cynikers zu Herzen genommen? – Wir lesen nichts davon; es ist möglich, aber nicht zu vermuthen.


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