Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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20.

Wie schwer hast du dirs gemacht, allzu schwacher Schüler des weisen Antisthenes, in deiner Unterweisung fortzufahren, wo du sie gelassen hattest!

Liebste Glycerion, sagte ich endlich, so sehr ich dich liebe, so muß ich doch, wenn meine Liebe nicht die Wirkung des Hasses haben soll, – fortfahren. – Ach, Glycerion! morgen werden wir uns nicht mehr sehen.

»Nicht mehr sehen? – Und warum nicht?«

Weil meine Gegenwart deinem künftigen Glücke hinderlich wäre.

»Was für einem Glücke? – Ists dein Ernst? Kannst du an unsre Trennung denken?«

Ich muß! Meine Umstände – –

»Werd' ich deinem Glücke schädlich seyn, Diogenes?«

Nein, Glycerion, das Glück und ich haben nichts mehr mit einander zu schaffen. Ich wär' es, der dem deinigen im Lichte stände.

»Wenn dieß dein Beweggrund ist, so höre mich an, lieber Diogenes! – Ich wünsche mir kein andres Glück, als bey dir zu seyn. Du verdienst eine Freundin, an deren Busen du die Ungerechtigkeit des Glücks und der Menschen vergessen kannst. Denke nicht daß ich dir zur Last fallen werde; ich kann weben, sticken, spinnen –« Vortreffliches Geschöpf! – Lange widersetzt' ich mich. Aber Glycerion blieb entschlossen.

Sagt nun, ihr, denen die Natur ein fühlendes Herz gab, hatt' ich mich geirret, da ich die Zeichen einer schönen Seele in ihren Augen wahrzunehmen glaubte?

Wir beschworen den Bund ewiger Freundschaft. Wir entfernten uns von Athen. Die Welt wußte nichts von uns, und wir vergaßen die Welt. Drey glückliche Jahre – Meine Augen lassen mich nicht fortfahren. –


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