Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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12.

Nach einiger Zeit kam ich auf ein großes Gut, das dieser Chärea am Korinthischen Meere besitzt. Ich fand da einen seiner Pächter, einen wackern alten Mann mit weißen Haaren, der traurig vor seiner Thür saß, und sich die Augen auswischte, wie er mich gewahr wurde.

Ich bat ihn, daß ich mich zu ihm setzen dürfte, und fragte ihn nach der Ursache seiner Kummers.

»Ach, Fremdling, sprach er, ich habe meine Tochter verloren! – ein Kind von vierzehn Jahren, das beste angenehmste Mädchen, das jemahls gewesen ist. Alle jungen Leute in der Gegend sagten, daß sie einer Oreade gliche, wenn sie an Festtagen mit andern Mädchen ihres Alters im Reihen tanzte. Ich hatte meine Lust daran, sie tanzen zu sehen. – So war ihre Mutter ehmahls gewesen! – Es war ein gutes Mädchen; häuslich, arbeitsam von der besten Mutter erzogen – ach! die ich jetzt glücklich preise, daß sie den grausamen Tag nicht erlebt hat. Seeräuber entführten mein Kind, da es am Ufer Muscheln suchte, um eine kleine Grotte in unserm Garten auszuschmücken, worin ich in der Mittagshitze zu ruhen pflegte. –«

Ich erkannte den Vater in der Wärme des Gemähldes. Aber seine Tochter hätte zehnmahl weniger liebenswürdig seyn können als er sie beschrieb, ohne daß ich weniger Antheil an seinem Schmerze genommen hätte.

Armer Vater! rief ich, und wischte die Augen: aber war denn kein Mittel, eure Tochter wieder zu bekommen? Wars nicht möglich sie los zu kaufen?

»Ach! antwortete er seufzend, ich versuchte alles. Sie forderten zwey Talente. Das Mädchen ist schön, sagten sie; ein Satrape des großen Königs würde uns noch mehr für sie bezahlen. – Es war mir unmöglich, nur die Hälfte dieser Summe aufzubringen. Das Verlangen, mein Kind wieder zu haben, machte mich unsinnig. In dieser Verwirrung lief ich zu meinem Herrn nach Korinth. – Er ist unermeßlich reich, dacht' ich; deine Thränen, deine weißen Haare werden ihn erweichen. Wie oft giebt er zwey Talente aus, um sich eine vorüber rauschende Lust zu machen! Vielleicht bewegst du ihn, daß er eben so viel thut, sich das Vergnügen zu machen, einem alten Vater sein Kind, die einzige Freude seines Alters, wieder zu schenken! – – Ich warf mich zu seinen Füßen. Aber alles war umsonst. – Ich hätte besser auf meine Tochter Acht geben sollen, sagte er. – Es durchbohrte mir das Herz, da er es sagte; und wie kalt er dabey aussah! Ich darf nicht daran denken!«

Der alte Mann weinte, da ers sprach; und ich – wenig fehlte, daß ich wie Ajax Oileus zu rasen angefangen hätte. Ich fluchte in der Erbitterung meines Herzens dem ersten der jemahls gemahlt hatte, und allen Mahlern, seinen Nachfolgern, und allen Angehörigen ihrer Zunft, die Farbenreiber selbst nicht ausgenommen.

Wie ich wieder allein war, und mein Blut sich abgekühlt hatte, verwandelte sich mein Zorn gegen die Reichen in Mitleiden. Ich bejammerte sie, daß eben das, was sie glücklich machen sollte, sie für das göttliche Vergnügen Gutes zu thun unempfindlich macht. Die armen Leute! Sie haben so viel Bedürfnisse! ihre Sinne, ihre Fantasie, ihre Leidenschaften, ihre Grillen, ihre Bequemlichkeit, ihre Eitelkeit, – haben so viel Forderungen zu machen, daß ihnen für die Forderungen der Menschlichkeit nichts übrig bleibt.

Wie gern wollt' ich euch eure Paläste, Gärten, Gemählde, Statuen, Gold, Silber und Elfenbein, eure Gastmähler, Koncerte, Schauspiele, Tänzerinnen, Affen und Papagayen gönnen, wenn es nur von mir abhinge – nicht daran zu denken, daß zehn tausend arme Geschöpfe eurer Art nicht haben, womit sie sich der Beleidigungen des Wetters und der unfreundlichen Jahreszeit erwehren können, – weil Ihr in marmornen Palästen wohnt; nicht haben, womit sie ihre Blöße decken, – weil eure Sklaven in prächtigem Gewande schimmern; nicht genug haben, um sich zu sättigen, – weil Ihr in Einem Gastmahle den wöchentlichen Unterhalt von Tausenden verschlingt.

Ich haß' es diese Gedanken fortzusetzen; ich besorge, ich spiele mein Lied tauben Zuhörern. – Aber, was wollt' ich nicht thun, wenn ich hoffen könnte, von jedem Hundert eurer Gattung – einen Einzigen zur Menschlichkeit zu bekehren!


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