Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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15.

»Die schöne Lais ist meine Mutter. Ich wurde bey ihr erzogen, und lebte in dieser frohen Unwissenheit meiner selbst, die das Vorrecht der Kindheit ist, bis ich denjenigen verlor, der die Gutherzigkeit hatte sich für meinen Vater zu halten. Er war aus Silicien, und man sagte daß er reich und von edler Geburt wäre. Ich war kaum sieben Jahre alt, da er starb. Nach und nach erkaltete die Zärtlichkeit meiner Mutter für mich; andere Liebhaber verdrängten das Bild dessen, der nicht mehr war; und endlich hörte ihr Herz gänzlich auf, ihr etwas für die arme Laidion zu sagen. Ich grämte mich sehr darüber; aber ich mußte meine Thränen verbergen; die bloße Spur davon in meinen Augen zog mir Ungewitter zu. Im übrigen hielt sie mich den andern Mädchen gleich die ihr aufwarteten, und wir hatten Lehrmeister im Singen, Tanzen und Lautespielen.«

Die spielst die Laute, kleine Grazie? (rief ich) und singst? – Hier ist eine Laute; ich bitte dich –

Das Mädchen hatte die Gefälligkeit ihre Erzählung zu unterbrechen. Sie sang mir Anakreons süßestes Liedchen, – rathet selbst, welches? – und begleitete es auf der Laute mit Fingern, deren jeden eine eigene Seele zu beflügeln schien.

O Weisheit! O Antisthenes! wo waret ihr damahls? – Für mich eben so, als ob nichts, das euch gliche, jemahls in der Welt gewesen wäre.

Ich suchte meine Seele auf den Lippen der schönen Sängerin.

Laß mich in meiner Erzählung fortfahren, sagte sie lächelnd, indem eine liebliche Röthe ihr ganzes Gesicht überzog.

Ihr Erröthen brachte mich plötzlich wieder zu mir selbst, und eine natürliche Folge davon war, daß ich wenigstens eben so sehr erröthete als das Mädchen.

Sie fuhr fort: »Ich war vierzehn Jahre alt, als ich von der schönen Lais einem jungen Athener übergeben wurde, der mich, wie er sagte, heftig liebte. Die schöne Lais sagte mir, da er mich wegführte, ich hätte ihn hinfür als meinen Gebieter anzusehen.

»Mein neuer Gebieter verbarg seine Gewalt über mich unter die zärtlichsten Liebkosungen. Meine Tage flossen unter immer abwechselnden Ergetzungen vorbey. Ich war mit meinem Zustande zufrieden, ohne an die Zukunft zu denken. Glykon hatte Ursache mit meiner Gefälligkeit vergnügt zu seyn; aber wenn die Liebe das ist, was in Saffo's Liedern glüht, so ist mein Herz unfähig, sich diese Leidenschaft mittheilen zu lassen. Glykon würde es gethan haben, wenn es möglich wäre. Oft mußt' ich ihm das Lied an Faon singen, worin die Wuth der Leidenschaft so feurig ausgedrückt ist; und allemahl wurde er unwillig, nichts von allem was ich sang in meinen Augen zu finden. Endlich ward ich gewahr, daß seine Liebe lauer zu werden anfing. Der zärtliche Ton, auf den sie gestimmt gewesen war, verwandelte sich in einen scherzhaften und muntern, – der mir, aufrichtig zu reden, nur desto besser gefiel. Aber auch dieses dauerte nicht lange –«

Kurz, (denn ich merke, daß ihr zu gähnen anfangt), die schöne Bacchis entführte meinem kleinen Mädchen ihren Liebhaber, und die Komödie war aus.

Das Mädchen, wie ich euch sagte, erzählte sehr artig, – weil die kunstlose Offenheit der Jugend, ihre Blicke, ihr Ton, und ein gewisses – wie nennt ihrs? das ich sehr stark empfand aber nicht beschreiben kann, ihre Geschichte interessanter machte als sie an sich selbst war. – Denn in der That, meine Herren, ihr habt Recht; es war (Dank sey euern Bemühungen!) ein sehr alltägliches Mährchen. – Überdieß öffnete sich zuweilen in der Hitze der Erzählung der Mantel ein wenig, den ich ihr umgeworfen hatte, und ihr begreift, daß eine solche Kleinigkeit in gewissen Umständen keine Kleinigkeit ist.

Ich hätte ihr die ganze Nacht durch zugehört; aber euch kann es unmöglich so seyn. Ich lasse mir und euch Gerechtigkeit widerfahren, und ich wünsche, im Vorbeygehen, daß alle Erzähler – Dichter oder Geschichtschreiber – die Gütigkeit haben möchten, sich daraus eine kleine Lehre zu nehmen.


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