Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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16.

Das Mädchen fuhr fort, mir begreiflich zu machen, wie es zugegangen, daß sie mir in dieser nehmlichen Nacht in einer Halle des Keramikus in einem so verdächtigen Aufzug in die Arme gelaufen sey.

Ich denke, ich könnte diese Lücke eurer eignen Einbildungskraft auszufüllen überlassen. Wenn ihr euch vorstellt, daß Glykon sie endlich, seiner neuen Buhlschaft zu Gefallen, an einen seiner Freunde, – dieser, weil sie ihm nicht wohl begegnete, an einen Bildhauer, – und der Bildhauer, nachdem er etliche Modelle von ihr genommen, an einen Mädchenhändler verkauft habe, dem sie, da er sie wieder an einen alten Seefahrer von Efesus gegen Levantische Waaren austauschen wollte, gestern Nachts entlaufen sey, und sich den folgenden Tag über unter den Ruinen eines alten eingefallenen Gebäudes verborgen gehalten habe, – oder so was dergleichen, – so hättet ihr nahe zu an die Wahrheit gerathen.

Dem sey wie ihm wolle, die junge Lais befand sich nun unter meinem Schutze, und ich glaubte verbunden zu seyn, mich ihrer so gut ich immer könnte anzunehmen. Ich war damahls nicht viel reicher als ich dermahlen bin. Mitleiden und guter Rath war das beste, womit ich ihr dienen konnte.

Vielleicht kann das, was ich ihr sagte, (wenn anders eine Abschrift dieser Schreibtafel auf die Nachwelt kommen sollte) in vielen Jahrhunderten einem jungen Geschöpfe nützlich seyn; es sey nun, daß sie sich in einer ähnlichen oder in der allgemeinen Schwierigkeit der Personen ihres Geschlechts und Alters, – in der Ungewißheit was sie mit ihrem Herzen anfangen solle, – befinde. In dieser Voraussetzung widme ich hiermit den nächst folgenden Abschnitt dem schönern und zärtlichern Theil der Nachwelt zu behutsamem Gebrauch, mit der Bitte, die Filosofie, die ich sie darin lehre, für sich allein zu behalten, und weder ihren Müttern, noch viel weniger ihren Liebhabern das geringste davon merken zu lassen.


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