Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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23.

Du bist eine so gute Art von Sterblichen, sagte Xeniades, nachdem er die Geschichte von Glycerion gelesen hatte. – Ich kann es nicht ausstehen, daß die Welt dich in einem falschen Lichte sehen soll.

D.  Und warum sieht sie mich in falschem Lichte?

X.  Vergieb mir, mein Freund; ich ehre dich so herzlich, daß ich mich selbst überzeugen möchte du habest keinen Fehler.

D.  Aber warum das, guter Xeniades? – Bin ich nicht ein Mensch? Darf ich nicht so gut Thorheiten und Fehler haben als andre?

X.  Du willst mich nicht verstehen, Diogenes –

D.  Ich verstehe dich wohl, aber ich kann eine gewisse Art von Gleißnerey nicht leiden, die ich in unsrer Familie – ich meine die Familie des Deukalion und der Pyrrha – herrschen sehe. Ist die Rede überhaupt von den Schwachheiten, Fehlern und Gebrechen der menschlichen Natur, so gesteht jedermann daß er die seinigen auch habe, daß er deren viele habe. Aber gebt diesen Schwachheiten oder Fehlern ihren rechten Nahmen, leset das ganze Register von Stück zu Stück ab, und haltet bey jedem Umfrage; so wird sich kein Mensch auch nicht zu einem einzigen von allen bekennen wollen. Welche Ungereimtheit! – Ich hasse sie von Herzen! Ich entferne mich in vielen gleichgültig erscheinenden Dingen von den Regeln der Gewohnheit. Man nennt mich deßwegen einen Sonderling, und wer nicht so höflich seyn will, einen Narren. – Gut! Ich bekenne mich dazu. Das ist meine Schellenkappe. Schadet sie jemandem? – Ich sehe ganz Korinth mit Thorheiten und Lastern erfüllt, die ihren Besitzern, andern ehrlichen Leuten, und dem gemeinen Wesen selbst verderblich sind. Man sieht ihnen ruhig zu; und mir will man nicht zwey oder drey Grillen zugestehen, von denen keine lebende Seele, nicht die Seele einer Schmeißfliege, Schaden hat!

X.  Aber das wirst du mir doch eingestehen, daß ein vortrefflicher Mann es desto mehr wäre, wenn er gar keine Flecken hätte?

D.  Gesetzt, Xeniades, daß dieß möglich wäre, so ist die Frage, ob eine so große Vollkommenheit nicht das unfehlbarste Mittel wäre, sich einen allgemeinen Abscheu zuzuziehen? Wehe dem Manne, der so weise wäre, um den übrigen Sterblichen in keiner Schwachheit ähnlich zu seyn! Wie sollten sie ihn erträglich finden? Wie sollten sie ihm seine Vorzüge verzeihen können? Er muß sich die Freyheit, ihrer ungestört zu genießen, durch einige wirkliche oder vermeinte Thorheiten erkaufen, mit denen er gleichsam den allgemeinen Genius dieser sublunarischen Welt versöhnt, und den übrigen Thoren das Recht giebt sich über ihn lustig zu machen. – Aber wirklich räum' ich dir schon mehr ein als ich schuldig bin, mein lieber Xeniades, indem ich dir zugebe, daß dasjenige, worin ich ein Sonderling bin, so schlechthin Thorheit oder Grille Seyn müsse. Ich bin bereit, wenn du gerade nichts bessers zu thun hast, die das Gegentheil zu beweisen. – Sage mir Stück für Stück, was die Korinthier an mir aussetzen, und ich will dir sagen, was ich darauf zu antworten habe.

X.  Sie sagen, zum Beyspiel, Diogenes suche aus Hochmuth was besondres darin, sich in Kleidung, Lebensart und Manieren von allen andern Leuten zu unterscheiden.

D.  In allen diesen Punkten handelt er nach seinen Grundsätzen; er sucht also nichts – als mit sich selbst übereinzustimmen; und das ist freylich sonderbar genug! Aber wie kommen die ehrlichen Korinthier dazu, die geheime Triebfeder meines Betragens so zuverlässig angeben zu können? – Doch wir wollen nicht über einen Punkt streiten, wo es so schwer ist einander zu überzeugen. – Gesetzt sie hätten Recht, so hieße das weder mehr noch weniger, als ihr Hochmuth finde nicht gut, daß der meinige eine andre Maske trage als er. – Aber, gerade von der Sache zu reden, würden nicht eure reichen Wollüstigen, selbst für ihren eigenen Vortheil, besser thun, wenn sie wenigstens in der Mäßigkeit meinem Beyspiele folgten? Wie viele von ihnen befinden sich bey der schmeckenden Giftmischerey ihrer Köche so wohl, als ich bey der einfältigen Nahrung, welche die Natur überall für mich zubereitet? Welcher unter ihnen allen, wenn der dem Komus nur zehn Jahre geopfert hätte, dürfte es mit mir an Stärke und Geschmeidigkeit aufnehmen, die Probe möchte nun mit den Spielen, die zu Olympia gekrönt werden, oder mit denen, wovon die Schönen Richterinnen sind, gemacht werden sollen?

Diese äußerste Mäßigung hat, nachdem ich ihrer einmahl gewohnt bin, nichts beschwerliches mehr für mich, und verschafft mir hingegen Vortheile, welche mit dem schalen Vergnügen, meinen Gaumen zu kitzeln, gewiß in keine Vergleichung kommen. Denn seitdem ich diese Lebensart führe, die euch so armselig vorkommt, bin ich immer munter und zu allem aufgelegt; mein Gemüth ist unbewölkt, meine Vernunft unbefangen, mein Herz fühlend, alle meine Kräfte stehen mir zu Gebot, und es hängt nicht von meinem Magen ab, ob ich ein Genie oder ein Dummkopf, ein angenehmer oder ein unerträglicher Gesellschafter für mich selbst und andere seyn soll. Die Schönheiten der Natur verlieren ihren Reitz nie für mich, und gegen ihre Abwechslungen bin ich abgehärtet. Ich kann Hitze und Frost ertragen, hungern und dursten, Wind und Wetter ausdauern, so lang' es die Natur eines Menschen ausdauern kann. Kurz, ich bin zu Erduldung aller Arten von Arbeit und Schmerzen geschickter, und empfinde das Reitzende der Wollust selbst desto lebhafter, je seltner ich sie koste. Laßt eure verzärtelten, mädchenhaften, nervenlosen, wetterlaunischen, kränkelnden und schmachtenden Sybariten, denen ein geknicktes Rosenblatt auf ihrem weichlichen Lager schon Schmerzen macht, laßt die herbey schleichen, und sich in allen diesen Stücken mit mir messen! – Es ist übrigens nicht mehr als billig, mein lieber Xeniades, als daß es so ist; die Günstlinge des Zufalls würden gar zu viele Vortheile über uns andere haben, wenn die Natur nicht auf sich genommen hätte, uns schadlos zu halten. – Und nun sprich selbst, sollte ich, dem Naserümpfen der Korinthier zu Ehren, der Stimme dieser guten Mutter ungetreu werden? – Diogenes ist zu sehr sein eigner Freund!

X.  Du magst in der Hauptsache so unrecht nicht haben, Diogenes; aber was würde aus der Welt werden, wenn jedermann nach deinen Grundsätzen leben wollte? Und hat die Natur, indem sie den Erdboden mit Gegenständen des Vergnügens für uns angefüllt und den Menschen mit Witz und Geschicklichkeit ausgerüstet hat, tausend Künste zu erfinden, welche sich einzig mit Verschönerung des Lebens beschäftigen; – hat sie dadurch nicht selbst zu erkennen gegeben, ihre Absicht sey nicht bloß daß wir leben, sondern daß wir auf die angenehmste Weise leben sollen?

D.  Es ließe sich vielleicht manches gegen die Einbildung sagen, womit wir uns zu schmeicheln pflegen, als ob alles in der Welt um unsertwillen gemacht sey. Der Schluß, »ich kann etwas zu einer gewissen Absicht gebrauchen, also ist es dazu gemacht,« ist offenbar falsch; denn ich kann, zum Exempel, einen Becher für einen Topf gebrauchen, ob er gleich zum Trinkgeschirr bestimmt war. Die Frage bleibt immer: ob wir nicht viele Dinge durch den bloßen Gebrauch, den wir davon machen, schon mißbrauchen? – Es käme auf besondere Untersuchungen an, in die wir uns jetzt nicht einlassen wollen; ich hab' es auch zu Beantwortung deines Einwurfs nicht vonnöthen. Gesetzt die Natur habe alle ihre Werke, mit allen Schöpfungen der Kunst, (welche in gewissem Sinne die Tochter der Natur genannt werden kann) zu unserm Gebrauch und Vergnügen bestimmt: so könnten wir sie hierin einem reichen Manne vergleichen, der ein großes Gastgebot angestellt, und dazu alle Arten von Gästen aus allerley Ländern, Völkern und Zungen, von allerley Klassen, Ständen, Geschlecht und Leibesbeschaffenheit, eingeladen hätte. Natürlicher Weise würde er recht daran thun, so vielen und mannigfaltigen Gästen vielerley Gerichte, und alles in großem Überflusse vorzusetzen. Nun stelle dir unter diesen Gästen irgend einen starken Kerl vor, der, nicht zufrieden mit dem was vor ihm stände, auch die entfernten Schüsseln alle zu sich raffte, und, ohne zu bedenken, daß nicht alles für ihn allein zubereitet worden, und daß er nur Einen Magen hat, oder daß gewisse Speisen nur für die schwachen und kränklichen Gäste aufgestellt sind, alles allein zu verschlingen suchte, bis er so voll wäre daß er das Überflüssige wieder von sich geben müßte – was würdest du von einem solchen Menschen sagen, oder wie meinst du daß er von dem Herrn des Gastmahls angesehen würde?Die Leser Lucians werden sich erinnern wem diese Stelle zugehört.

X.  Die Antwort giebt sich von selbst.

D.  Und die Anwendung meines Gleichnisses auch. Eure Reichen, die ihre Speisen aus allen Elementen und Himmelsgegenden zusammen suchen lassen, sind der Gast, der das ganze Gastmahl der Natur, wenigstens so viel an ihm ist, allein verschlingen will. Laßt einen jeden nach dem greifen, was ihm zunächst liegt, und nicht mehr essen als er bedarf um seinen Hunger zu stillen: so werden wir alle von der Tafel der Natur gesättigt aufstehen, werden uns alle wohl befinden, und niemand wird über Unverdaulichkeit klagen, oder seinen Mitgästen durch unziemliche Entladungen beschwerlich fallen. Das wäre alles, was daraus entstände, wenn jedermann nach meinen Grundsätzen lebte. – Aber sey immer unbesorgt, Xeniades. Ich werde nie so viel Nachfolger bekommen, daß die dermahlige Verfassung der Welt darunter Gefahr liefe. Und wenn wir auch den unmöglichen Fall setzen, daß mein Beyspiel Kraft genug hätte, ein ganzes Volk zu meinem System zu bekehren; meinst du, daß es desto schlimmer für sie wäre? – Ich habe gute Lust – Aber, was ists? Hörst du nicht ein ängstliches Geschrey vom Ufer her? – Ich will dir meine Republik schuldig bleiben, Xeniades – ich muß sehen was es ist.


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