Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9.

Ich wußte noch nichts eigentliches von Lamons Handel, da ich ging und meine Grasmücke allein ließ. Unterwegs stieß ich auf einen seiner Richter, der mir sagte warum es zu thun war. Nichts als ein Pack Schelmen, von einem andern Schelme gedungen, der auf Lamons Amt ein Auge hat. Er sollte mit öffentlichem Gelde, das er zu verwalten hatte, ungetreu umgegangen seyn. Sie konnten ihm keine wirkliche Untreue beweisen. Aber er hatte einem Freunde Geld ausgezahlt, der ihm eine Vollmacht von den Archonten vorzeigte, und dieses Geld zu den Geschäften der Republik nöthig zu haben vorgab. Lamon traute seinem Freunde, und wurde betrogen.

Das war sein ganzes Verbrechen. – Aber ihr hättet das Ungeheuer sehen sollen, das seine Ankläger daraus machten!

Lamon antwortete ihnen mit der Erschrockenheit eines ehrlichen Mannes, der sein Schicksal in den Händen seiner Feinde sieht, und weiß, daß sein Urtheil schon beschlossen ist, eh' er noch zu reden anfängt. Er sprach wenig und übel. Laß mich für dich reden, Lamon, sagte ich, und fing an.

Sie wollten Lärm machen, aber da half mir meine Brust; ich überschrie sie und fuhr fort. Ich sprach mit aller der Wärme, die mir die Idee der schönen Frau und der zwey lieblichen Kinder mitgetheilt hatte; ich schonte seine Feinde nicht, – und die Richter bestach ich mit Anpreisung ihrer Frömmigkeit, ihrer Menschlichkeit, ihres Edelmuths, ihrer Unparteylichkeit, ihres Hasses gegen die Unterdrückung. Ein Drittel von ihnen hatte noch Wangen, welche erröthen konnten. – Das feuerte mich an – Ich verdoppelte meine Lobsprüche, und meine Zuversicht zu ihrer Billigkeit, zu ihrer Tugend; – ich brachte noch ein Drittel zum Erröthen. – Nun hatt' ich gewonnen! Ich vollendete meinen Sieg mit dem Gemählde der schönen Frau, und der zwey kleine Jungen, die ich zu ihren Füßen hinwarf und für ihren ehrlichen Vater bitten ließ. – Lamon wurde losgesprochen. Ich schlich mich im Tumulte davon, und da bin ich wieder!

Wie schön der Abend ist! Wie heiter, wie lachend die ganze Natur! Ich bin mit mir selbst zufrieden, ich habe dem Rufe der Menschlichkeit gefolgt. Ich habe die Freude wieder in die schönen Augen der tugendhaften Frau und in die kleinen Herzen ihrer armen Kinder gebracht. Wie süß werden ihre Umarmungen seyn! – Ich genieße sie, ohne sie zu sehen. –

Und wer ist nun an diesem Abend glücklich? Chärea, Klinias, Midas, Sardanapalus, Krösus, – oder ich?


 << zurück weiter >>