Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5.

Nun ist es Zeit, daß ich meine Kolonie in ihre neue Wohnung einführe.

Ich habe sie, kraft meines magischen Stabes, die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens wegschlummern lassen; und nun erwachen sie sämmtlich, Jünglinge und Mädchen, auf einmahl mit dem Wuchs, der Stärke und vollen Blüthe des achtzehnten Jahres, reif zu jedem süßen Gefühl ihres Daseyns, und zu dem ganzen kleinen Kreise angenehmer Verrichtungen, in welchen die Natur ihre Thätigkeit einschränkt.

O Amor, und du, freundliche Venus, alles vermehrende Gottheiten, – euch ruf' ich jetzt für meine Kinder an! Euch kommt es zu, den süßen und mächtigen Trieb, der, indem ich sie einander entgegen führe, zum ersten Mahl in ihrer Brust klopfen wird, zu entwickeln, und, was ohne euch ein bloßes Spiel der Fibern wäre, zu Liebe und zärtlicher Empfindung zu bilden.

Man denke nicht, daß ich hier einen Gott aus der Maschine hervor rufe; ich habe des höhern Beystandes, den ich erbitte, mehr als zu sehr vonnöthen. Es ist keine so geringe Sache, hundert und dreyßig tausend Leute von achtzehn Jahren auf ihr ganzes Leben glücklich zu machen. Wie es nur darum zu thun war, sie machen zu lassen, dazu hatte ich nichts als den Instinkt vonnöthen; sie geriethen nur desto besser. Aber nun, da sie gemacht sind, sie auch glücklich zu machen, oder vielmehr, weil die Natur so ziemlich dafür gesorgt hat, zu verhindern, daß sie nicht aus Unverstand und Unerfahrenheit sich selbst unglücklich machen, – das ist der Punkt!

Ich wünschte, meine Zauberkunst möchte sich so weit erstrecken, daß ich eine andre Art, ihr Leben und ihre Gattung zu erhalten, für sie ausfündig machen könnte, als die gewöhnliche. Denn, alles ohne Vorurtheile überlegt, ist doch nicht zu läugnen, daß das Bedürfnis des Essens und Trinkens, und ein gewisses andres, welches sich gemeiniglich anmeldet, wenn ihr wohl gegessen und getrunken habt, – die wahren Quellen der meisten Übel unter den Sterblichen sind. Lange schon vor der schönen Helena gab ein Ding, das ich nicht bey seinem rechten Nahmen nennen darf, Anlaß zu tausend verderblichen Unordnungen; und wie wenig eigennützige und gewinnsüchtige Laster blieben übrig, wenn wir – von Luft und Sonnenstrahlen leben könnten!

Allein das ist nun nicht zu ändern! Meine armen Pflegekinder, hier nützt euch mein guter Wille nichts; ihr müßt euch nähren und begatten wie alle andre Erdenbewohner auch. Alles was ich thun kann, ist, die Natur für euch zu fragen, wie sie haben wolle, daß ihr das eine und das andre thun sollet. Denn so unverschämt bin ich nicht, daß ich mir einbilden sollte, es besser zu wissen – als die Natur.

Fangen wir immer beym Begatten an; es ist wirklich der angelegenste Punkt: denn meine Jünglinge und Mädchen sitzen in diesem Augenblicke alle unter den Bäumen von ihren Wohnungen durch die ganze Insel zerstreut, und werden von meinen dienstbaren Geistern mit einer frugalen Mahlzeit von Reiß und Früchten bewirthet, worin künftig ihre gewöhnliche Nahrung bestehen wird. Nach der Tafel werden sie zum Tanzen aufstehen, – und bis dahin muß dieser Theil unsrer Gesetzgebung ins Reine gebracht seyn. Die Sache leidet keinen Aufschub.

Plato hält die Gemeinschaft der Weiber für das unfehlbarste Mittel, die unschädlich zu machen. Das mag in seiner Republik gut seyn, die aus lauter Ideen zusammen gesetzt ist, und lauter Ideen zum Endzweck hat! – In der meinigen, wo alles natürlich zugehen soll, würde diese Methode nicht gut thun. Die Bevölkerung meiner Insel würde darunter leiden; unsre Kinder würden in jedem Manne ihren Vater suchen, und ihn eben deßwegen nirgends finden, weil es ein jeder andrer eben so gut seyn könnte als dieser oder jener. Die Liebe, aus welcher die Natur, wie mir däucht, eine Quelle von Glückseligkeit für uns machen wollte, würde bloß auf Bedürfniß und thierischen Instinkt herab gewürdigt. – Kurz, ich begreife nicht, wie meine Leute bey dieser Einrichtung so glücklich seyn könnten, als ich sie gern machen möchte.

»Aber, sagt Plato, durch welches andre Mittel willst du den unzähligen Unordnungen vorbeugen, denen du durch Einführung des Eigenthums unter beiden Geschlechtern tausend Pforten öffnest? – Und siehst du nicht, daß indem du deine Menschen in kleine Familien absonderst, dein Staat in unzählige besondere Gesellschaften zerstückelt wird, deren jede ein näheres Interesse hat als das allgemeine?«

Das sehe ich, göttlicher Plato, – so wie ich sehe, daß du allen den Unordnungen, die dir so fürchterlich vorkommen, dadurch abhilfst, daß du die Nahmen der Dinge umtauschest, und die äußerste Unordnung in deiner Republik zur Ordnung machst; – und wie ich sehe, daß du, um das allgemeine Interesse deines idealischen Staates zu befördern, alls die Empfindungen vernichtest, wodurch das allgemeine Beste für einen jeden einzelnen interessant wird, oder, kurz zu sagen, wodurch ein allgemeines Interesse sich denken läßt.

Ich kann nichts dafür, daß die Natur so viele Öffnungen und Ritzen am Menschen gelassen hat, durch welche sich Irrthum und Verderbniß einschleichen kann.

Aber, bey allem dem, will ich mich zu einem Priester der Mutter Berecynthia machen lassen, wenn das nehmliche wunderliche Ding, wovon ich euch sagte, auf meiner Insel nicht tausendmahl weniger schlimme Händel veranlassen soll, als auf allen euren Inseln, Halbinseln und festen Ländern der ganzen Welt.

Ich habe ungefähr sechzig tausend Knaben, und zehen tausend Mädchen mehr als Knaben, – die ich wahrlich nicht der Diana zu weihen gedenke! – Wie? Ich sollte zehen tausend schöne, frische, vom gesundesten Blute strotzende Mädchen brach liegen lassen? – Nicht eine einzige, so wahr ich Diogenes, meiner Mutter Sohn, bin!

Nun ist kein ander Mittel als, entweder für diese zehen tausend Mädchen eben so viele neue Jünglinge machen zu lassen; – und das ist mir jetzt gerade nicht gelegen; oder, sie unter alle sechzig tausend zu vertheilen; und das wäre wider meinen Anti-Platonismus; oder –

Dacht' ich's nicht? – Sie sind des Tanzens bald müde geworden; Paar und Paar, oder drey und drey, wie die Grazien, haben sie sich in die anmuthigen Gebüsche geschlichen, womit sie ihre Wohnungen, wie mit Kränzen durchflochten haben. – Nun kann ich mir die Müh ersparen, auf Auswege zu denken! Amor und seine Mutter würden meiner spotten, und es ginge doch weder besser noch schlimmer als sie es haben wollen. Lieber will ich mirs gutwillig gefallen lassen.

Alles, o ihr holden Götter der Liebe, sey demnach euerm Einfluß überlassen! Stiftet an diesem Abend, dem Einweihungsfeste meiner Republik, so viele Bündnisse als ihr wollt und könnt. Weder das blinde Loos, noch ein fremder Befehl, dem das Herz sich selten unterwirft, soll der Ehestifter bey meinen Pflegekindern seyn. Ich begebe mich, für jetzt und allezeit, aller Willkühr, die ich mir, unter welchem Vorwand es sey, über sie anmaßen könnte. Amor allein hat das Recht über ihre Herzen zu gebieten. Ich denke, er wird meine zehen tausend Mädchen nicht vergessen. Kann er zehen tausend von ihren Schwestern überreden, sich mit eben so vielen Jünglingen in Güte zu vertragen, wer hat was dawider einzuwenden? –

»Aber, werden die übrigen funfzig tausend Jünglinge nicht eifersüchtig werden?« –

Nein, wenn jeder seine Schöne so lieb hat als ich einst meine Glycerion.

»Aber wenn das nun nicht wäre?« –

So mögen sie selbst zusehen! Ich kann nicht für alles Rath schaffen.


 << zurück weiter >>