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Zehntes Kapitel

In der Frühe des folgenden Tages ging der Hemsterhuser Totengräber Wachsmann nach dem Morgengeläut über den Kirchhof, um sich einen Überschlag zu machen, nach welcher Ordnung in den nächsten Monaten die Gräber anzulegen seien. Erst schritt er den breiten Baumgang zwischen den Gräbern der Reichen hin und genoß beim Anblick der großen, prunkvollen Denksteine noch einmal lebendig die Einnahme der hohen Sporteln, daß er vergnügt wurde, mit dem großen Bund Schlüssel gegen sein Bein schlug und es ihm war, das verdiente Geld schwirre wieder frisch und jung in seinem Beutel. Und als er dann mit der Biegung des Ganges aus dieser vornehmen Gegend seines Leichengartens in die Region erst der Halbseidenen und dann der Pfennigarmen kam, blieb er stehen und sah ziemlich mißmutig über die breite Flucht der einfachen Holzkreuze und der eingesunkenen, oft gänzlich verwilderten Hügel bis an die graue Wackenmauer der Kirchhofseinfriedigung und dachte bei sich, wenn er hätte von der christlichen Liebe leben sollen, die er in dieser Region so oft erwiesen, so wären er, sein Weib und seine Kinder in Gottes Namen schon lange verhungert. Allein, das war nicht das Schlimmste was hier zu denken war. Unter denen, die sich mit einer stillen Messe und einem dürftigen Weihwedelspritzer davongemacht hatten, sah er da und dort das Grab eines Filzes, der auf seinem heimlichen Geldsack kalt geworden war und, wie er vergeizt gelebt, nun sich auch ehrlos und schandbar unter Pack und Gesindel aus der Welt geschmuggelt hatte, nur um ihn, den Totengräber, um den gehörigen Lohn zu prellen.

So kam er in ein immer bittereres Meditieren und sah ein, daß es mit dem Ehrgefühl in der Welt überhaupt beinahe Matthäi am letzten sei und vielleicht, wenn nicht die Polizei einschreite, verbrenne noch jeder seinen Verstorbenen im eigenen Backofen, dünge seinen Kohl mit der Asche, und die Totengräber könnten derweil ihren Magen an den Zaun hängen, damit er vom Winde satt werde.

Aber man täusche sich nicht. Wer sich als ein Schubiack unter die Erde trolle, der werde auch als Hundsfott an der Himmelstür behandelt werden. Denn das wisse Gott und der Papst so gut wie Wachsmann in Hemsterhus, daß die Todesangst aufrechterhalten werden müsse, wenn man den Menschen die Religion bewahren wolle.

Kopfschüttelnd und höhnisch vor sich hinlachend ging er nun schneller durch diesen unerfreulichen Teil seines Hügelgartens dem Tore zu und warf einen letzten unwirschen Blick über die Armengräber, so, als wäre es ihm angenehm, irgendeinen Unfug zu entdecken, an dem er seinen inneren Mißmut auslassen könnte. Und wirklich, hinten im letzten Mauerwinkel der namenlosen Toten rührte sich eine graue, zusammengekauert Gestalt.

Wachsmann blieb stehen und schrie ein aufrüttelndes »Holla« hinüber. Aber das eingesunkene Menschenhäuflein rührte sich nicht. Darum, schon von Ingrimm angefeuert, fragte er, wer denn da in der Gottesfrühe herumlungere. Denn es kam wohl manchmal vor, daß ein trunkener Landstreicher sich in der Sommernacht vertorkelte, auf den Kirchhof geriet und zwischen den Gräbern seinen Rausch ausschlief. Und weil das fremde, zusammengewichtelte Gezücht dort auf einen zweiten Anruf noch keinen Bescheid tat, setzte Wachsmann erbost über die Gräber und stand bald wild gestikulierend und schimpfend vor dem Verkommenen, der trotz alles Gelärms, den Kopf zwischen die Knie gesunken, nur ein Haufen zerlöcherter, übelriechender Kleider, ruhig dakauerte.

Endlich hob er den kleinen Kopf, rückte die schmierige Mütze nach hinten und starrte ihn aus roten Triefaugen mit blöder, listiger Dumpfheit an.

Es war ein alter Vagabund mit einem gramvollen, vertrockneten Gesicht. Weißgelbe Haare hingen ihm wirr wie Werg an den Ohren herunter, und aus den Winkeln des faltigen, alten Echsenmaules floß noch der Geifer des tiefen Schlafes.

Nicht der Ekel allein war schuld, daß dem Totengräber die Worte der Entrüstung ausgingen; um den greisen Landstreicher lag ein rätselhaftes Grauen. Seine Nase schnoberte, sein horniger Mund schnalzte, aus den erloschenen Augen flackte manchmal ein Blitz verrückter Tiergeilheit.

Wachsmann trat schrittweise den Rückzug an und sagte in sicherer Entfernung, aber schon sehr schonend, daß doch der Kirchhof keine Bettstatt sei.

Darauf erhob sich der greise Bummler langsam und umständlich, und dem Totengräber kam es wie Zauberei vor, so, als ziehe er seinen Leib aus den Schäften seiner langen Stiefel. Eine überlange, menschliche Moderstange mit einem Eichhörnchenkopf obendrauf, der unsicher wackelte, als solle er fortwährend herunterfallen, richtete sich auf. Dann griff der Bummler ein paarmal mit gespreizten Fingern in der Luft herum, tastete den Boden ab, schüttelte den Kopf und sagte darauf zu dem Totengräber:

»Sie, Sie! Was da is, kann doch nich verlorengehn, und was verlorengeht, muß man doch wiederfinden. Denn stirbt einer, so knallt's, und knallt's, so hört man's. Das ist doch klar. Das muß doch zu finden sein. – Wissen Sie, ich bin ganz und gar nich verrückt, wenn sie mich auch jahrelang mit Tollhausaffen gefüttert haben, damit ich den Verstand verliere. Haha, haha! Sellerie is gut gegen Wahnsinn, und so hab' ich den Kopf zusammengehalten. Verstehn Sie, bis eines Abends der rote Vogel an meinem Fenster vorübergeflogen ist. Da war's Zeit, und in derselbigen Nacht bin ich heidi, pst, pst, widewitt, witt, witt! Verstehn Sie mich? Es hat mich wohl im Walde über den Bauch gehaun, haha, und nich zu knapp. Tobak!«

Dann griff er wieder auf dem Erdboden umher und murmelte dabei: »Es muß doch zu finden sein... ich bin nämlich... bin nämlich...«

Zuletzt schnellte er wie geschossen in die Höh und schrie mit verfärbtem Gesicht:

»Ha, du denkst, meine Finger sind wie deine? Nee, nee, Freundchen! Das is Hexenspagat. Da pass' auf!«

Er faßte mit der Rechten die Fingerspitzen der Linken und entfernte die Hände langsam voneinander, als dehne er einen Gegenstand von Gummi aus.

Den Totengräber packte nun wirklich ein Grauen, und er trat noch mehr zurück.

»Wart doch!« rief ihm der offenbar irrsinnige Landstreicher zu: »Ich bin mit Erzählen noch nich fertig. Du glaubst das wohl nich, hahaha? Der Hopser im Walde hat das auch nich für möglich gehalten und hat mein braunes Täubchen gequält, bis ich ihm den Hexenspagat um die Gurgel gewickelt Hab'.«

Aus dem wilden Funkeln versank er unversehens wie zerbrochen in Verzweiflung und sang:

»Mein schönes Vöglein im schwarzen Wald,
wo bist du geblieben? Find ich dich bald?
Ich such' bei Vöglein und rotem Klee
und finde bloß Winter und weißen Schnee.«

Er rang dabei gramvoll die Hände, und die Tränen liefen ihm in Strömen aus den alten Triefaugen über das ausgezehrte Gesicht hinunter. So in sich versunken, immerfort weinend und leise singend, ging er an dem Totengräber vorüber und verschwand vom Kirchhofe.

Wachsmann stand betäubt und starrte wie in einen Spuk. Als der Vagabund um die Mauerecke geschlendert war, kam der Totengräber zu sich, und sofort war es ihm sicher, dieser ungeheuerliche Mensch sei ein Gespenst, und zwar kein anderes als das des Niemand-Albes gewesen.

Dem ersten, dem er begegnete, einem alten Bauerauszügler, der zur Frühmesse ging, erzählte er, der gestorbene Niemand-Alb sei soeben auf seinem Grabe gewesen, und er habe mit eigenen Augen gesehen, wie er auf einem Holunderstrauch ins Feld davongeritten sei. Die ganze Luft rieche noch nach Schwefel.

Der alte Bauer hob die Nase in die Luft und sagte: Ja, er rieche es auch, und gestern sei das Heiligenlenlein sehend geworden. Es sei nicht mehr geheuer in der Welt. Denn auf dem Heiligenhofe habe es auch geläutet. Er nickte dem Totengräber bekümmert zu und gokelte der Kirche zu.

Unter dem Volke verbreitete sich die Nachricht, der Niemand-Alb sei in der folgenden Nacht wiedergekommen, habe seinen eigenen Grabstein aus der Erde gehoben, ihn mit den Händen wie eine weiche Pfeffernuß zusammengedrückt und in die Tasche gesteckt. Am nächsten Morgen war auch der Denkstein wirklich von dem Hügel dessen verschwunden, den man vor langen Jahren als den Niemand-Alb begraben hatte.

Der Totengräber, den man deswegen befragte, zuckte die Achseln und sagte, er habe ja vor vielen Jahren schon immer behauptet, der Niemand-Alb gehe um, damals, als er die Rütschin in der Wuhle bei Nacht geritten und die Schwerdtner-Josefa im Brederoder Steinbruch geprügelt habe, da werde es wohl auch nicht anders sein, und es kämen überhaupt Dinge vor, von denen man am besten schwiege. Aber so viel sei sicher, daß auch das Jenseits jetzt eine schwere, unruhige Zeit habe, und es plumpe manchmal in den Gräbern, als wolle es die Toten partout wieder heraus und auf die Erde bringen. Aber die Gräber, die durch ein richtiges Begräbnis geschlossen seien, mit der großen Glocke gut zugeschlagen, nicht mit der kleinen Klingel bloß zugepinkt, schön überräuchert, heilig gesungen, womöglich noch geblasen, da lege er seine Hand ins Feuer, die seien sicher, denn der gute Glaube helfe überall.

Es konnte nicht fehlen, daß das Volk das Erscheinen des Niemand-Albes mit dem Sehendwerden des Sintlingerlenleins und überhaupt mit dem Geschicke der beiden Fremdhöfe in Beziehung brachte und meinte, der rote Vogel, von dem dort das Niemand-Gespenst geredet, sei nur recht zu verstehen, wenn man an die roten Läppchen denke, die der Narr zu seinen Lebzeiten über der Wiege des schlafenden Heiligenlenleins unter gramvollem Geschluchze einst zerrissen habe.

Diese Verflechtungen zu gewagten und oft absurden Vermutungen hörten auch nicht auf, als durch die Polizei nach einem der Idiotenanstalt zu... entsprungenen Insassen gesucht wurde, der bisher hartnäckig seinen Namen und Geburtsort verweigert habe, nach der Beschreibung aber kein anderer als der Vagabund war, den der Totengräber Wachsmann am Morgen nach dem Sehendwerden Helenens auf dem Hemsterhuser Kirchhof getroffen hatte. Allein, der schlaue Leichenpfleger wußte sich von jedem Zeugnis zurückzuhalten, um das Gewicht seiner Gespenstergeschichte nicht zu entkräften und den Nutzen der tüchtig aufgefrischten Todesscheu ungestört wirken zu lassen. Der Gemeinde Hemsterhus war auch an dem gespenstisch umhervagierenden Niemand-Alb mehr als an dem lebendigen gelegen, und so schlief das amtliche Vigilieren nach dem entsprungenen Narren langsam ein. Die Gleichheit der beiden Wesen kam gar nicht mehr in Frage, und das Volk genoß die Freiheit in vollen Zügen, immer neue geheimnisvolle Taten des herumspukenden Niemand-Gespenstes zu erzählen, zumal er wirklich von Zeit zu Zeit in Dörfern auftauchte, auf geheimnisvolle Weise sich plötzlich neben einsamen Wanderern auf abseitigen Wegen einfand, im Feldschweigen gell aufschrie und im Dunkel allerlei Scheuel verübte. Beeren- und Pilzsuchern guckte er aus dem Stamme alter Eichen mit verzerrtem Gesicht zu, am Schluß wie ein junges Pferd wiehernd, und wenn man hinsah, verwandelte sich seine Fratze in einen Astknorren. Auf dem Hofe eines Brederoder Bauern verkalbten alle rotscheckigen Kühe, und um das Heiligenhoflenlein hatte er vor dem Sehendwerden als ein bunter Wundervogel geschwebt, erzählte man sich, und war dann als eine glänzende Himmelsmusik mit unendlichem Wohllaut davongefahren. So abenteuerlich diese Geschichten sich gebärdeten, so seltsam waren die Folgerungen, die das Gerücht daraus zog: Die Engelhaftigkeit des Lenleins, sein außerirdisches Wesen; das jahrelange Verharren des Sintlingers in einem hohen, weithin wirkenden Leben nach fesselloser Jugend; den sanften Geist, der dem tollen Fremdhof während anderthalb Jahrzehnten den Schimmer der Heiligkeit verliehen hatte, das alles erklärte man für nichts als albische Berückung. Von unreinen, arglistigen Geistern als ein Blendwerk aufgerichtet, die wahren von den Scheinchristen zu sondern und alle Guten auf die Festigkeit des Glaubens hin zu prüfen, Die Kirche half dem hochgeladenen Wagen voll Flausen und Aberglauben in dieser Richtung etwas weiter und fand es für die Kräftigung ihrer erschütterten Macht sehr heilsam, das Ansehen des Heiligenbauers zu verdunkeln und herabzusetzen. Man ging sogar so weit, die Erlösung des Sintlingerlenleins aus dem grausen Wunder ihrer Blindheit in das volle Glück der befreiten Augen gerade als den Beginn des Verfalls der Sintlingerschen Segenswege zu sehen. Auf diese Weise unkte es unausgesetzt um den Heiligenhof, der sich aber von dem Gebläse all dieser böswilligen Mäuler nicht in Schatten hüllen ließ. Außer etwa einer albernen Magd oder einem tölpischen Ochsenjungen kaufte niemand auch nur eines der vielen scheelsüchtigen Märlein für bare Münze.

Ja, gerade die Bäuerin lachte am lautesten über die Geschichten, die man auf dem Hofe ablud, obwohl sie doch sonst leidenschaftlich gern in dem Zwitterlicht des Aberglaubens gestanden hatte.

Aber sie war offenbar für immer von dieser Verirrung menschlicher Lebenssorge geheilt, nachdem sie trotz langer Ahnungen und finsterer, drohender Anzeichen auf so herrlich unbegreifliche Weise in der Erfüllung ihrer inbrünstigen Hoffnung gelandet war.

Der erschlossenen Helene erging es wohl wie einem, der unvermutet aus der tiefsten Finsternis in die grelle Hochsonne tritt. Ihr Gemüt taumelte erst vor der vollkommen neuen, unbekannten Welt in seine Tiefe zurück und wäre am liebsten dort in der Gesellschaft der tönenden Schatten verblieben, von denen sie seit jeher umgeben gewesen war. Deswegen lag sie in den ersten Tagen noch die längste Zeit mit geschlossenen Augen da, und zwar meistens gerade in der Anwesenheit von Menschen. Sobald man die Tür schloß und sie allein ließ, hob sie zögernd, in furchtsamer Neugier, die Lider und ging mit ihren Blicken überall umher. Alles war bunt, fest, fremd, schimmerte, stand nah und steckte doch durch die Schärfe der Umrisse voll einer drohenden Feindseligkeit. Oh, und wie verwandelt waren die Menschen, der Hof, der Garten, die Wege, die Hügel, Wald und Himmel! Alle, die vor ihr erschienen, Knecht, Magd und Wirtschafter, wurden von ihr einen Augenblick betrachtet, dann ließ sie die Lider einsinken und verglich die sichtbare Gestalt mit ihrer augenlosen Vorstellung von früher. Und fast niemand kam vor sie, den sie nicht immer wieder staunend geprüft, mißtrauisch betastet hätte. Bei dem alten Zenker erstaunte sie über das verrunzelte Gesicht und die gebeugte Gestalt, weil der Greis im Scheine ihres augenlosen Sehens aufrecht, mit einem sanften Kindergesicht gelebt hatte. Vor Gottlieb Meixners grotesker Vierschrötigkeit brach sie in Gelächter aus, ihre Mutter maß sie mit einem stillen Lächeln, dem man die leise Enttäuschung anmerkte, und als des Heiligenbauers blasses, erschüttert durchfurchtes Gesicht mit den zurückgeflossenen übergroßen Schwarzaugen vor ihr erschien, erschrak sie geradezu, schrie schmerzvoll auf: »Das ist mein Vater?«, vergrub ihren Kopf ins Bett, schluchzte auf und warf sich dann dem Sintlinger an die Brust. Sie umschlang seinen Hals und rief unter Tränen fortwährend leise: »Mein Vater ... mein lieber Vater ...« Niemand konnte genau entscheiden, ob an der Erregung Helenens beim ersten Anblick des Sintlingers Enttäuschung oder Freude, glückhafte Überraschung oder Schreck den Hauptanteil habe. Und der Heiligenbauer selbst wurde von den widerstreitendsten Gefühlen überstürmt, als er das erstemal sein sehend gewordenes Lenlein in den Armen hielt. Das Zusammenschlagen seiner Hände konnte ebensowohl Entsetzen als Staunen, sein Erbleichen und Einsinken der Augen höchstes Glück und Gram bedeuten.

Als er von Helene endlich freigegeben war, stand er ihr gegenüber, schaute sie groß an und sagte ungläubig mit einer schmerzhaften Bewegung in Gesicht und Stimme: »So, so! Also, mein Lenlein, du bist nun wirklich auch ein Mensch geworden wie wir andern. Nun, wie ist dir denn da, Kind?« Das Mädchen erschrak einen Augenblick, ließ ihre Lider sinnend herabsinken und antwortete: »Ach, denk' doch, Vater, natürlich bin ich glücklich.« Darauf wurde der wehe Zug in der Freude des Heiligenbauers nur noch tiefer. Er antwortete mit einem inneren Wegwenden: »So, so. So, so.« Und ging kopfschüttelnd hinaus.

Dem Sintlingerlenlein ging es mit allem, wenn auch nicht so kraß, wie mit ihrem Vater. Ihr Vertrautestes sah sie vertauscht, ihr Nächstes fremd. Bekanntes entrückt. Was schon vor Monaten begonnen hatte, war nun vollzogen: Ihre ganze Welt, die sie sonst gleich einer sanften Mondlandschaft in sich getragen hatte, lag nun als schreiend bunter, unbeherrschbarer Tumult um sie. Ihre Seele, die noch vor Tagen das Klingen der Nachtsterne in der Tiefe der eigenen Brust vernommen hatte, war gleich einem friedfertigen König aus der alten Hauptstadt aufgescheucht worden und lag nun an den äußersten Grenzen ihres Reiches im endlosen Ringen mit hunderttausend Eindringlingen.

Als sie das erstemal vom Hof aus das Hügelgewoge des weiten Landes um sich erblickte, mußte sie sich an Peter Brindeisener festhalten, der ihr die Erde zeigen wollte, wie er glaubte, ihr die Augen erschlossen zu haben. Helene sah da nichts Festes, in seit Jahrtausend erstarrter Bewegung, um sich liegen. Sie erblickte ein lebendiges, schäumendes Tanzen aufgewühlter Wellen gegen den Heiligenhübel heranbranden, daß sie schwindlig wurde und grell auflachte wie ein Kind, das das erstemal Karussell fährt. »Holla!« rief sie dabei in übermütiger Furcht. »Das ist ja ein verrücktes Rundsausen, Peter. Sieh, und alles stürzt in die Sonne hinein. Pardautz! Du, sieh doch, was für ein Feuer das ist.«

Dann schloß sie die Augen, und in die Arme ihres Geliebten zurückgelehnt, sammelte sie dies neue, große Bild der schönen Erdunruhe mit der Stille ihres jenseitigen, blicklosen Sehens, während die Glut des Abends über ihr Gesicht blühte. Bis Peter sie auf die geschlossenen Augen küßte, immer feuriger, daß sie endlich die Lider hob und ihn groß und erstaunt ansah, fast so wie das erstemal im Walde draußen, als die Nacht um sie zerriß und sie sich auf der Welt gefunden hatte, einem Geliebten leibhaftig gegenüber, dem sie monatelang im Traume als unbekannten Schatten entgegengepilgert war. Die Heiligenhofbäuerin aber unterdrückte tapfer das Aufstoßen ihrer einfachen Natur beim Anblick des krausen Schweigens, in das ihr Lenlein im Glück über die neu geschenkte Welt und ihre Liebe geriet. Ja, sie förderte sogar unauffällig die Zusammenkünfte der beiden. Denn sie hatte Peter Brindeisener nicht nur die feindselige Art abzubitten, mit der sie das ohnmächtige Lenlein aus seinen Händen empfangen hatte, sondern sie mußte möglichst all das Böse wieder in sich gutmachen, das sie seinem Wesen seit je innerlich angetan hatte. Wenn sie den mächtigen Jüngling mit den unbezähmbaren Augen so zart, fast scheu um ihr zierliches, elfenartiges Lenlein dienen sah, begriff sie nicht, wie sie denselben Menschen ehemals nur mit Wegwenden, ja geradehin feindseligen Empfindungen hatte sehen können, daß er ihr einst sogar bei der Beerdigung der Brindeisener-Amalie als Mörder erschienen war. Jetzt empfand sie freudigen Stolz, wenn sie den Studenten mit schwerer Gelassenheit, in der doch bei jedem Schritt ein federndes Reißen aufzuckte, wie heimliches Knistern unter den Sohlen, wenn sie ihn so in wogender Würde herankommen oder davongehen sah.

Nur die Gebärde seines Lachens flößte ihr noch manchmal Scheu, fast etwas wie Grauen ein. Wenn seine schmalen, blutroten Lippen sich über die weißen Zähne hinaufhoben, sah es aus, als grinse er mit seinem mächtigen, kalkweißen Raubtiergebiß.

Aber hörte sie sein knabenhaft argloses Plaudern und Schäkern mit Helene auf dem Torbänklein unter den Linden, erschien ihr auch dieser Eindruck nur als ein letzter, hartnäckiger Rückstand ihrer alten Feindseligkeit, und sie machte sich Vorwürfe, daß sie im Grunde genommen doch ein recht böses Herz habe.

Noch nie, solange der Sintlingerhof stand, hatten die Amseln von den Wipfeln der Linden so tief, so inbrünstig, so leidenschaftlich in den Abend hinausgeflötet als in jenen wenigen Maitagen, da die Kinder der beiden feindseligen Höfe auf dem Ruhebänklein neben dem Tore saßen und sich gegenseitig das Wunder ihrer Liebe und ihres Lebens aufschlössen. Die Liebenden trugen die Kostbarkeiten ihres Lebens zusammen, flochten ihre Erinnerungen in einen Kranz und staunten über ihre Liebeswahl, die Peter Brindeisener der ergriffen lauschenden Helene als die Wirkung eines uranfänglichen Weltallbeschlusses erklärte. Er versicherte, ihren ersten Schrei gehört zu haben, mit dem sie auf die Welt gekommen sei, und daß er fast glaube, sie in einem Traum singen gehört zu haben, den er selber noch vor seiner Geburt geträumt habe. Denn wann immer ihm nur der Laut ihrer Stimme zu Gehör gekommen sei, dann habe es ihn, wie er überschwenglich sagte, »jedesmal bis in die vorirdischen Tiefen der Seele ergriffen«.

Die akademischen Ferien Peters waren auf diese Weise nur zu schnell zu Ende, und er fuhr in einem Hochgefühl, in einem Lebensjubel in das alte, finstere Münster zurück, wie er es noch nie in seinem Leben erfahren hatte.


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