Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Das Gesinde des Heiligenhofes ging mit stumpfem Staunen und leerem Verwundern um das seltene Kind herum und hielt sich von ihm immer etwas fern, als handle es sich da doch um ein Wesen, das nicht ganz auf der Erde heimisch war. Unverständliche Aufschlüsse, wie sie in der Erinnerung an vergessene Träume liegen, benebelten und erhellten gleicherweise das Hirn der Dienstleute, sobald sie sich ins klare kommen wollten, ob Helene nun wirklich blind oder nicht viel eher noch mehr als sehend sei und so das Auge nicht brauche, wie etwa die Taube das Horn der Ziege entraten könne, weil sie Flügel besitzt. Und das Leben dieser einfachen, erdgebundenen Menschen bekam von diesem Duft aus einer anderen Welt, der um das Lenlein schwang, selbst einen fremden, sonderlichen Geschmack, bereicherte sich mit ahnungsvollen Möglichkeiten und sog Bedeutsamkeiten um den ganzen Sintlingerhof, die jedem von ihnen einen Stich ins merkwürdig Unterschiedene verliehen. Und darum wurde es ihnen leicht, sich plumper, zudringlicher Neugier zu enthalten und dem schattengefangenen Kinde die Überzeugung nicht zu stören, daß seinem Leben nicht alles beschieden sei, was die anderen besitzen. Denn mit der schmerzhaften Entscheidung des Mangels mußte sich, das ahnten sie zwar wohl nicht, auch der Schimmer verflüchtigen, den sie von dem Traum und Wunder Helenens selbst empfingen. »Wie das Lenlein sehen«, wurde zur Bezeichnung für Tasten unter dem Gesinde, aber man gebrauchte diesen Ausdruck auch für gelegentliche Begegnisse, die gespensterhaft, unerklärlich aus dem eigenen Dasein aufzuckten. Ohne daß einer es wußte, verwandelten sich alle in der Nähe des Kindes und traten durch Seiten ihres Wesens mit ihm in Verbindung, die ihnen selbst verborgen waren und im Verkehr mit andern Menschen sich nie erhellten. Der einzige außer der alten Trine, der sich mit dem Kinde ohne jede Scheu zu schaffen machte, war der Platzhalter des abwesenden Wirtschafters, sein Neffe, der Querhovener Meixner-Gottlieb. Sie ließ sich von ihm auf die Achsel heben, im Kreise schwingen, und hörte sie seinen Schritt, so tauchte sich ihr Gesicht in Fröhlichkeit. Und das offenbar gerade deswegen, weil er keine Umstände machte, sein lautes Lachen nicht dämpfte, seine Worte nicht sonderlich beschnitt und über seine Hände keinen zimperlichen Samt zog. Er ging mit ihr um wie mit jedem anderen kleinen bäuerlichen Dirnlein.

Freilich trug auch er einen Sonnenwinkel in sich, zu dem ihm nur das Kind den Zugang öffnete. Lange wußte er das nicht, bis er es an einem Sonntage erfuhr. Da saß er, wie es seine Gewohnheit war, draußen hinter dem Hofe auf der Graslehne, die sich neben dem Wege vom Rübenacker in den Baumgarten hinunterdehnte. Das Gesinde, alle Knechte und Mägde, hatten sich um ihn geschart, und er arbeitete aus seiner Harmonika ohne Ende Stück um Stück. Die Läufer klirrten nur so durch die Luft; er ließ Lieder wiehern, raschelte Märsche aus dem gefalteten Kästchen und zog und preßte es dann wieder gefühlvoll, daß sich ein schöner Ländler hervorwand. So ging es in bunter Reihe, und wenn er sein Instrument senkte und Miene machte aufzuhören, drangen alle in ihn, doch nur noch eins zu spielen.

Da stand mit eines wie lautlos durch die Luft gehuscht das Lenlein vor dem Burschen im Grase und folgte mit großen Augen, gepreßtem Munde und regungslosem Gesicht seinem Musizieren. Als er geendet hatte, hob das Kind das Köpfchen und schaute mit erstaunten Augen in die Höhe, als seien die Klänge nicht in der Harmonika verstummt, sondern in den Himmel geflogen und sängen dort schöner noch immer weiter. Es war, als sähe Helene einen Schimmer davonziehen, so verklärt war ihr Gesicht. Die Dienstleute wurden von der wundersamen Ergriffenheit der Blinden so gepackt, daß sie einander nicht anzuschauen wagten, sondern auf das Mädchen wie auf ein Wunder starrten. Der Spieler selbst aber erblaßte ein wenig wie vor Schrecken und wußte nicht, wie es zugegangen sei, daß er dem Kinde das angetan hatte. Und da er zur Beruhigung dachte, ich habe doch bloß diesen und diesen Akkord gegriffen, fing die Harmonika unter seinen Händen wie von selbst wieder zu spielen an. Sie sang Töne, die noch nie in ihr gewesen waren, es lief dem Meixner eine Melodie aus den Fingern, die er nicht kannte, und eine Begleitung fand sich dazu, die er in seinem Leben noch nicht gehört hatte. Daraufhin stand Helene unbeweglich, sah noch eine Weile ins Wesenlose hinauf, schaute erstaunt um sich, als blicke sie nach Gestalten, die um sie herumschwebten, und begann dann wie im Traume sich nach dem Takt der Musik erst zu wiegen, darauf zu drehen und tanzte zuletzt mit ausgebreiteten Armen den Abhang hin und her, daß es den Knechten und Mägden den Atem verhielt. Denn jetzt und jetzt mußte sie über den Maulwurfshaufen fallen, an den Stein stoßen oder in einer Vertiefung zu Falle kommen. Allein das Kind schwebte sicher, als trüge es Augen an den Füßen. Endlich ließ es sich mit einem hohen Freudenjauchzer ins Gras fallen, und der Bursch warf sein Instrument weg, sprang hinzu, raffte sie auf und schwenkte sie lachend noch ein paarmal durch die Luft. Seit diesem Tage schien das geheime Band zwischen dem Kinde und dem Harmonika-Meixner noch kürzer geknüpft. Ein Hauch des Wohllautes, von dem das ganze Wesen Helenens erfüllt war, hatte sich in der Seele des Burschen ein Türlein aufgeweht, daß er an seinem gewohnten Musikplärren nicht mehr in das wohlige Entrücktsein kommen konnte, sondern von jenem Nachmittag an, sobald er nur einen Augenblick allein war, an den Klappen seines Wimmerkästchens herumgriff, um jenem Wunderliede wieder auf die Spur zu kommen, das über das Sintlingermädchen wie eine Verzauberung und in ihn selber gleich einer Verklärung gefahren war. Daher schleppte er denn seine Harmonika, wo er ging und stand, mit sich herum, führte sie mit aufs Feld zum Ackern, probierte in der Siedekammer, marterte das Instrument beim Pferdeputzen auf einige Augenblicke und verfiel selbst manchmal mitten in der Nacht auf den Gedanken, jenes Wohllautes habhaft zu werden, der von der Blinden herrührte und um ihn als ferner, verlockender Wirbel kreiste. Freilich kam er dann in diesem Versuch nicht weiter, als daß er die Harmonika sich unter dem Bett hervorlangen und einige schüchterne Töne aus ihr ziehen konnte. Dann mußte er es allemal aufgeben, weil die Knechte und Mägde diesem »Nachtgealbe« schnell und oft handgreiflich ein Ende machten. Aber auch sonst beherrschte ihn ein unausgesetztes Spüren, und oft mitten im Pflügen riß er die Pferde zurück und griff mit den Fingern auf den Oberschenkeln umher, als wären es die Klappenbretter der Harmonika.

Auch dem Lenlein ging es um kein Haar besser. Immer schweifte sie um den Meixner, wußte ihn im Stalle zu finden, stöberte ihn in der Scheuer auf und stahl sich gar mutterseelenallein aufs Feld hinaus zu dem Knecht, und wenn man sie suchte, so hörte man von weitem schon das verhaltene Spiel des Burschen und sah die kleine Dirne um ihn tanzen. Sie war mit einemmal ganz versessen, nicht anders wie ein Bienlein, das hartnäckig eine Blume heimsucht, aus der ihr einst Süßigkeit beschert worden ist.

Dabei sprang gar manches Unerfreuliche von der Art des Spielers auf sie über. Kleine Widersetzlichkeiten spitzten sich aus ihr, leidenschaftliche Wallungen brausten in ihr auf, sie riß den Kopf rüsch herum und platzte manchmal mit Worten los, die etwas von der Derbheit des Knechtes angesteckt waren, so daß der Bauer und die Bäuerin schon ins Erwägen gerieten, wie dem jachen Verdunkeln des Kindes zu begegnen sei. Allein sie hatten es nicht nötig einzugreifen. Denn das Lenlein wurde nicht lange danach durch einen wunderlichen Vorfall ohne Zutun der Eltern in die verwunschene Engelschönheit ihres alten Wesens wieder zurückgeführt. Das ging so vor sich:

Durch Hemsterhus und in den umliegenden Dörfern streifte in jener Zeit ein Weibswesen umher, das, wie man sagte, einst bessere Tage gesehen hatte. Denn wenn sie auch damals schon auf denselben Wegen von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof gezogen war, so hatte sich ihr unruhiges Leben doch mehr der Art angepaßt, wie alle tüchtigen Menschen es sich einrichten. Sie zog als fleißige Gefährtin ihres Mannes ein Leierkastenwäglein durchs Land, sammelte sorgsam die Pfennige in dem verschrumpften Ledersäcklein unter der Schürze, hielt die Räder immer im Fett, duldete keinen Schmutz auf der Orgel, putzte die Messingecken und die kurze Reihe der gelben Schaupfeifen an der Vorderseite, daß sie wie Gold glänzten, und war ihrem Manne eine immer unverdrossene, fröhliche Gehilfin. Der ging, die Hände an der Leitstange der Leier, mit gemessenen, ruhigen Schritten dahin, seiner raschen Ehehälfte nach, sobald sie weiterfuhren, und schob so kräftig, daß des Weibes Anstrengung eigentlich nur darin bestand, das Wäglein sicher zu lenken. Fuhren sie so in einen Hof oder hielten vor einem Hause, so trat, noch ehe der Mann die Kurbel in die Hand nehmen konnte, die Bauersfrau unter die Tür und rief freundlich: »Na, auch wieder zulande, Schwerdtner?« Denn so hieß der Mann. Und alle brachten ihm nicht nur deswegen ein herzliches Mitgefühl entgegen, weil durch eine hitzige Krankheit sein Augenlicht fast erloschen war, sondern weil in seinem großen, wohlgebauten Körper eine ausnehmend gütige Seele wohnte, die aus der heiteren Ruhe seines Gesichtes, der leisen Art seines Sprechens und dem ganzen gedämpften Wesen des blonden, hübschen Mannes richtig hervorglänzte. Daher kam es, daß die Bauern die Leier Schwerdtners für die schönste unter den wandernden Orgelkästen hielten und es dem Halbblinden hoch anrechneten, wenn er sich bemühte, durch das Kurbeln etwas wie Gefühl in die Melodien zu bringen. Nach vollbrachtem Tagewerk saßen die zwei dann in heiterem Einvernehmen hinter dem Tisch des Gasthauses, wo sie zu übernachten gedachten. Die kleine rundliche Frau ging ihrem Manne beim Essen zur Hand, und dabei glänzten die springenden Knopfaugen in richtigem Glück aus ihrem roten, frischen Gesicht. Sie führte eine rührige Schalkszunge im Munde und brachte es fast immer dahin, daß die Wirte sich durch ihre Geschichten und Einfälle als bezahlt erachteten. Zog Schwerdtner am anderen Morgen dann mit seiner Josefa weiter, so ging das zu, als nähme man von guten Freunden Abschied, und manch eine Bäuerin, die in Reichtum und Unfrieden eingekeilt war, wünschte sich für all ihre bittre Wohlhabenheit im stillen das Los dieser glücklichen Landfahrerin. Ja, manchmal, wenn die zwei über Gottes einsame Felder zogen oder in Wäldern zwischen hohen, grünen Baummauern dahingingen, fiel des Schwerdtner-Leiermannes frauliches Pferdchen vor dem Wäglein in ein absonderlich frohes Gemütsschwenken und begann mit ihrer dünnen, harten Grillenstimme nach dem Takt der Wanderschritte zu singen. Der blonde, umdämmerte Mann aber hielt sich dann noch gereckter als sonst und ging so lang und wohlig dem Wäglein nach, als wate er bis ans Knie in einer Blumenwiese. Allein, schöne Stecken, sagen die Handwerksburschen, brechen am ehesten.

Die heiße Krankheit, die dem Schwerdtner-Thaddäus vor Jahren ein graues Tuch über die Augen geworfen hatte, war auch, ohne daß es der Mann wußte, in das Uhrwerk seines Herzens geraten. Es ging stiller und müder seitdem, und nach einer solchen Singwanderung, bei der das Wäglein immer von selbst in schnelleres Rollen kam, hakte das Klopfen in Schwerdtners Brust plötzlich ganz aus. Josefa hörte nur ein leises Gurren hinter sich, wie den erschreckten Laut einer auffliegenden Hohltaube, und fühlte den Wagen mit einem Male so schwer werden, als sei der Leierkasten nicht mit Pfeifen, sondern mit Steinen gefüllt, und da sie sich umdrehte, hing ihr Mann mit verkrampften Fingern an der Leitstange. Sein Gesicht war blauweiß, und das Herzwasser, mit ein wenig Blut vermischt, floß aus dem geöffneten Munde in seinen blonden Bart. Als sie hinzusprang, konnte er schon nicht mehr reden. Nur ein schwaches Regen ging noch durch seine überhauchten Augen. Dann ließen die Finger die Stange fahren, und er lag tot auf der Straße.

So rissen mit eins die glänzenden Stricke, mit denen die Schwerdtner-Josefa in das Leben gebunden war, und sie stürzte in Finsternisse, von denen ihre Mutter nichts ahnen konnte, da sie ihr als Kind auf dem Schoß gesessen hatte. Nachdem das arme Weib monatelang irgendwo gewesen war, begann sie wieder allein die Leier durch die Dörfer zu ziehen. Sie drehte dieselben Stücklein wie ihr Mann aus dem Kasten und wischte die Tränen nicht ab, die ihr dabei übers Gesicht liefen. Aber wenn sie aus einem Gasthofe davonzog, glänzten ihre Augen lustig wie ehedem, die Wangen glühten rot, und am Ende fand sie einmal ein Fuhrmann schlafend neben der Leier auf der Straße liegen, die ausgetrunkene Branntweinflasche ein Stückchen weiter hin. Von nun an vertrank sie jeden Erlös, und da die Bettelpfennige nicht langten, verkaufte sie Pfeife um Pfeife der Leier an die Jungen und rasselte weiter mit der Kurbel zwischen dem Wiehern, Gellen und Fauchen, das in der Orgel steckte wie ein Schwärm geprügelter Katzen. Es war nicht anders möglich, daß die Schwerdtner-Seffe nun schnell für alle Spottlustigen ein willkommener Gokel zu allerhand Schabernack und übermütigen Possen wurde. Die Mägde staffierten die immer Trunkene mit verjährten Hüten aus, hängten ihr unmögliche Bänder und Zieraten an geschenkte Spenser, und die Kinder lachten neckend um die geschmückte Vogelscheuche, die lärmend und mit Stockhieben um sich schlagend durch die Dörfer torkelte.

Das ging so an die zwei Jahr, bis sie auch den völlig leeren Leierkasten und den Wagen verkauft und vertrunken hatte. Mit einem Rausch, der sie wie tot einen Tag und eine Nacht in die Waldstreu warf, war der wahnsinnige Schmerz um ihren Mann ausgerast. Sie erwachte aus dem wüsten Traum ihrer Lebensnot, zupfte die schreienden Zieraten von ihren Kleidern ab und schlich frierend wie ein Mensch, der von langer Krankheit aufgestanden ist, in das nächste Dorf. Und während sie über das Feld den Häusern zustrebte, muß wohl fern ein buntes, klingendes Schellen an ihrer verstörten Seele hingeflogen sein, denn in dem ersten Hofe, den sie betrat, stellte sie sich an die geschlossene Stubentür und sang schüchtern mit klangloser, zerknüllter Stimme eines von den Liedern, das ihr gestorbener Mann so gern gehört hatte, wenn die zwei Glücklichen durch Gottes einsame Felder oder zwischen grünen, hohen Waldmauern hingezogen waren.

Die Bauern hielten das für eine neue Weise, in der der Trunkwahn durch das Weib wirtschaftete. Aber ein gütiger Mann handelte anders wie alle übrigen, die in ein gellendes Gelächter ausbrachen und hinter ihr drein spotteten, wenn sie anfing zu singen. Denn mit der Armen war eine sichtbare Verwandlung vorgegangen, so daß sie nie mehr taumelnd, sondern mit ratlosen Augen, demütig und zaghaft durch die Welt schlüpfte. Der gute Mann langte seine alte Gitarre aus dem Winkel, zog die noch fehlenden Saiten auf und brachte ihr in liebevoller Geduld die paar Fertigkeiten in der Behandlung des Instrumentes bei, die ihm aus früherer Zeit selbst zu Gebote standen.

Während des Unterrichts schlief sie in einem warmen Schüpplein seines Anwesens, aß wie ein furchtsames Hündchen die gereichten Speisen und ging nach Verlauf einer Zeit mit neuem Mut und dem Glück davon, daß sie nun etwas habe, womit sie den Laut ihrer zerbrochenen Lieder verbergen könne. Dieser Vorgang ereignete sich in der Zeit, als von dem wunderhaften Wesen des blinden Mädchens auf dem Sintlingerhofe die ersten Gerüchte in die Dörfer drangen.

Die Schwerdtner-Josefa wurde auf ganz besondere Weise davon getroffen, weil das Kind dieses sonst so wilden, tobenden Hofes halb unwirklich, halb entrückt von der Einbildung des vereinsamten Weibes in Gebiete einer unvorstellbaren Welt versetzt wurde, in die ihr lieber Thaddäus hingenommen worden war. Und das Heiligenhofkind wohnte in demselben Dämmern, das ihren Mann eine große Lebensstrecke umfangen hatte. Aber es ist nicht ganz zu erklären, von wie vielen geheimen Seelenregungen die ratlose Witwe durchs Innere geführt wurde. Sie begann nicht lange darauf, den Sintlingerhübel zu umkreisen, erst von weitem, tauchte bald aus dem Walde auf und schaute sehnsüchtig auf die Bauernburg nieder, bald saß sie auf den Querhovener Hügeln und starrte stundenlang hinüber, bald ging sie auf dem Grenzwege unermüdlich hin und wider und spähte alle Ausgänge des Gehöftes ab. Begegnete sie bei diesem Vigilieren einem Menschen, so erbleichte ihr Gesicht, sie senkte ertappt die Augen und entwich, angeredet, was sie denn treibe, mit Gemurmel und verlegenem Lächeln ganz in der Art Halbsinniger. Allein eines Nachmittags, als sie schon stundenlang im Schatten einer Eiche am Grabenrande des Grenzweges gewartet hatte, war ihr das Glück günstig. Die alte Trine trat mit der kleinen Helene vor das Hoftor unter die Linden, und die beiden begannen bald, auf dem Abhang Blumen zu pflücken. Die Schwerdtner-Witwe saß verborgen, aber nahe genug, daß sie dann und wann die Stimme des Kindes deutlich hören konnte. Da wurde ihr, wie sie später erzählte, auf einmal so, als höre sie den Klang ihrer eigenen Stimme aus der glücklichsten Zeit ihres Lebens, und plötzlich wußte sie auch, warum es sie unausgesetzt um den Sintlingerhof führe und nicht loslasse. Wenn sie hinginge, ganz nahe zu dem Kinde, so würden die Wolken der jahrelangen Trunkverirrung von den Bildern ihrer schönen Vergangenheit weggezogen, und alles Verlorene sei ihr wiedergeschenkt. Kaum daß sie dieser Gedanke überleuchtet hatte, nahm sie die Gitarre fester unter den Arm und schlich sich näher und näher an den Zufahrtsweg auf den Hofhübel.

Droben hatten die beiden indes eine gute Tracht Blumen gesammelt, saßen nebeneinander auf der halben Anhöhe und berieten, ob sie Braut und Bräutigam spielen oder einen Kranz um den Sintlingerstein winden sollten. Sie entschieden sich für das letztere, und die Alte gab dem Kinde auf, nicht von dem Platze, wo sie saß, wegzugehen, und begann, um Wolle Zu holen, den Hügel hinaufzusteigen.

Jetzt faßte sich das arme Schwerdtner-Weib ein Herz. Sie vergaß alle Scheu und eilte, so schnell sie konnte, den Hügel hinauf. Noch ehe Trine unter dem Hoftor verschwunden war, saß die Schwerdtnerin mit klopfender, hochgehender Brust in der Nähe des Kindes, und da ihr in der Aufregung nichts zu reden einfiel, fing sie an, mit bebenden Fingern über die Saiten der Gitarre zu gehen, um das blinde Mädchen zu locken. Schon nach den ersten blätterleisen Akkorden hörte Helene auf, mit den Blumen in ihrem Schoß zu spielen und hob horchend das Gesicht.

»Bist du ein Mensch oder ein Vogel?« fragte das Kind.

»Ich bin ein Weib«, antwortete die Schwerdtnerin.

»Aber womit hast du eben gesungen? Jetzt sprichst du ja anders.«

»Das ist meine Harfe gewesen. Und wenn du sie noch besser hören willst, komm ich zu dir. Ja, darf ich das Sintlingerlenlein?«

Und die Blinde streifte schnell alle Blumen ins Gras und setzte sich bereit aufrecht.

»Komm nur her«, sagte das Kind. »Nicht, ich weiß schon, du bist eine arme Frau, gelt? Ja, komm her.«

Die Schwerdtnerin rückte ganz nahe an das Kind und verschlang das zierliche, elfenschöne Wesen förmlich mit den Augen.

»Laß mich das sehen, womit du singst. Es klingt viel schöner wie Gottliebs Harmonika.«

Die Frau reichte ihr die Gitarre hin, und die Blinde tastete über das Instrument.

»Siehst du, Weib, du hast mich doch belogen.«

»Warum?«

»Weil ich die Sprossen des Bauers seh, in dem der Vogel eingesperrt ist.«

Und da die Schwerdtnerin betroffen denken mußte, daß das Kind recht habe, weil wirklich in der Gitarre ein geheimes Klingen stecke, was herauszulocken ihr nicht ganz gelang, so wurde sie verwirrt und begann allerhand Erklärungen von sich und dem Instrument durcheinander zu reden. Als sie damit zu Ende war, nickte das Lenlein versonnen und bat, sie möchte den Vogel, oder was es auch sei, noch einmal klingen lassen. Da ging der Schwerdtnerin, ähnlich wie dem Gottlieb Meixner, ein innerstes Seelenpförtchen auf, und sie griff zu ihrer eigenen Überraschung die wundersamsten Töne aus der alten Harfe, so schönes Klingen, daß das Kind verzaubert zuhörte. Dann nahm es träumend eine der fallengelassenen Blumen und legte sie liebkosend von der einen in die andere Hand. Dazu begann Helene nach dem leisen Spiel der Gitarre zu singen, so zart, in einer solchen Süßigkeit, tief, so unsagbar rührend, wie etwa die Gebärde eines Blütenzweiges in die Seele klingt, der sich im ersten Mailicht rührt. Die Schwerdtner-Frau begann zu weinen, nahm aber alle Gewalt zusammen, nichts von ihrer Erschütterung merken zu lassen, und als es sie zu überwältigen drohte, erhob sie sich leise und schlich davon, indes das Kind fortfuhr, traumhaft zu singen.

Droben knarrte eben das Hoftor, und drüben auf dem Brindeisenerhübel stand der kleine Peter und sah gespannt auf sie her.

Da wurde das scheue Weib von einem Schreck erfaßt, als habe sie etwas gestohlen.

Sie fing an, wie unsinnig zu laufen, und hörte hinter sich plötzlich die Stimme des Knaben auffahren, die lästernd und drohend ihr nachschrie. Dann hagelten Steine nach, und sie strengte sich nun noch mehr an, aus dem Bereich des zornigen Brindeisenerjungen zu kommen, der wohl glauben mochte, sie habe dem Mädchen etwas angetan.

Endlich war sie geborgen. Das Nachlaufen und Steinwerfen hörten auf.

Sie taumelte erschöpft in den Straßengraben, ließ sich ins Gras fallen und begann zu schluchzen, als wolle ihr das Herz aus der Brust springen. Dabei murmelte sie immerfort in großem Glücke: »Jetzt habe ich alles wieder... alles... alles ... oh, Sintlingerlenlein... alles... alles«..«

Von da an, wenn die Witwe vor den Türen der Bauern sang, entstand eine andere Bewegung in den Höfen als vorher, ja noch eine andere, tiefere, wie sie die Schwerdtnerin früher in der glücklichen Zeit mit der Leier ihres Mannes vor die Häuser gefahren hatte.

Jetzt durfte sie nur zu singen anheben, so legten die Stubenmägde das Geschirr ins Schaff und setzten sich auf die Schwelle., Ihre Augen wurden erst weit, als täte sich das erstemal die Welt vor ihnen auf, und senkten sich dann, weil etwas in der Stimme der Sängerin das Heimlichste, Verborgenste ihrer Seele ausplauderte. Die Knechte traten herzu, wo sie sich immer aufhielten; der Spott wurde aus ihrem Gesicht gewischt, und auch sie lauschten in verlegener Ergriffenheit. Ja, selbst der Bauer vergaß seine Würde, lehnte sich tiefer im Hausflur an die Wand und bewahrte nur mühselig die Überlegenheit, die er sich schuldig zu sein glaubte. Und dabei trug die Schwerdtnerin keine neuen Lieder vor, sie sang wie ehemals von »den Gräslein, welche draußen zittern«, von der Sonne, die über dem sterbenden Soldaten untergeht, dem Mädchen und den hamburgischen Kaufmannsdienern und dem Förster, der auf die Heimkehr seiner Tochter wartet. Aber ihre Stimme schien nun nicht mehr aus ihr zu kommen, sondern drang von da her, wo der Lebenskummer aller Menschen ruht, und war von einem Klang erfüllt, der jeden Zuhörer vor ein heimliches Gericht stellte und ihn von dem Zwange seines Geschickes in den Strom eines ewigen Schicksals erlöst. So stark wurden die Leute von dem Gesänge der armen Witwe erschüttert, daß sie verwundert in ihr rundes gewöhnliches Gesicht schauten, auf die Bewegungen ihrer Lippen achtgaben, ihre Haltung und das Spiel der harfenden Finger sorgsam betrachteten, um herauszubekommen, von woher denn die Gewalt rühre, der sie sich nicht zu entziehen vermochten. Aber obwohl sie auf alles merkten und eine Weile glaubten, die Schwerdtnerin bringe das Zauberhafte fertig, daß sie beim Singen die Augen schloß, als sei sie erblindet, fühlte doch jedes, die Erklärung reiche nicht hin, die wundersame Wirkung zu enthüllen, die von dem Gesange des Weibes ausging. Und als man in sie drang, doch zu sagen, von wem sie die neue Kunst bekommen habe, wehrte sie sich lange und bat inständig, man möge doch aufhören zu fragen, denn sie fürchte, daß durch Reden alles zerstört werde, was in ihr lebendig geworden sei, und sie falle dann womöglich wieder in die alten, fürchterlichen Trunkschatten zurück. Nur so viel dürfe sie sagen, daß alles von einem kleinen Mädchen aus einem Hügelhofe stamme, das Augen wie ihr verstorbener Mann habe. Da quälte sie niemand mehr mit aufdringlichen Fragen, denn nun wußte man es ja; und überall, wo die Schwerdtnerin leise wie eine Zikade und heimlich wie ein Blättersäuseln gesungen hatte, sagte man hinter ihr her, sie habe von dem Heiligenhoflenlein eine neue Seele bekommen.

Die Schwerdtnerin aber kehrte nie mehr auf dem Sintlingerhofe ein, weil sie meinte, den Mut zum eigenen Singen verlieren zu müssen, wenn sie nur noch ein einziges Mal die Stimme des blinden Kindes höre.


 << zurück weiter >>