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Zwölftes Kapitel

Zugleich war das die herrlichste, man möchte fast sagen, süßeste Wirkung der wunderbaren Kraft der kleinen Hübelheiligen. Es ist die Wohltat gemeint, die eine arme Mutter aus Querhoven empfing.

Sie hieß Rütsch und wohnte im oberen Teile Querhovens, der von allen die Wuhle genannt wird, weil sich die schmale Dorfflur da erweitert und ins Runde geht. Der Boden ist von dem nahen Walde angesäuert und beschattet. Will sich dort das Getreide bis zur Ernte durchsetzen, muß es sich in seinen harten Knoten gar wacker halten, und wenn es der Schneefäule des Winters, den frühjahrlichen Nachtfrösten, dem sommerlichen Wildfraß und tausend anderen Gefahren entronnen ist, haben sich sicher von zehn Halmen, die miteinander den Marsch auf das Erntefuder zu begannen, sechs unterwegs verloren, und das Päcklein Erdrusch, das der Hausvater von der Tenne auf den Boden schaffen kann, ist immer nicht gar viel größer, als das Päcklein Samen war, das er hinausgetragen hat. Deswegen wohnen in der Querhovener Wuhle auch wenige, und zwar solche, denen das Geschick irgendwie einmal den Rücken eingeschlagen hat, oder solche, die sich aus der Armut, des Stumpfsinns halber, nichts machen, oder endlich solche, deren Seele sozusagen mit Golde gepflastert ist, daß sie auf dem Pfennig sitzen, als ritten sie auf einem Goldfuchs durchs Leben.

Wenn man die Wirtschaften in der Wuhle zählt, so muß man mit einem armen Schlucker anfangen und mit einem solchen aufhören, und dazwischen sind noch vier Mühselige, denn mehr als sechs Höflein sind in Oberquerhoven nie gewesen.

Dort wohnte die arme Mutter, die auf dem Heiligenhofe eine solch wunderwürdige Erlösung fand.

Ehe sie Frau Rütsch wurde, war sie das Kind der Enderfamilie, wo man »laut« ganz klein schreibt, »grob« nicht kennt und »gut« aus jedem Seigerschlag hört. Dabei hatte sie einen Fleiß wie die Unruhe in der Uhr und war zierlich und flink wie ein Rebhühnchen.

Ihr Vater war der, den man den Vanlyßender nannte, weil seine Abstammung ins Holländische hinüberging, und er hatte verwandtschaftlich nichts mit den Enderleuten zu tun, deren damaliges Haupt der Ender-David war, die, als Holzmacher zwischen groben Schlägen geboren, mit Gepolter durchs Leben gingen und noch als Tote nach Schnaps rochen. Das Anwesen des Vanlyßender befand sich in dem eigentlichen Dorfe, und zwar an seinem untersten Zipfel zwischen der Mühle und dem Gehöft des Prahl-Meixner. Als die Ursula, von der diese Geschichte geht, über die Schulbank hinauskam, entstand die Frage, ob sie dienstenhalber sich aus dem Dorfe hinausmache, wie die meisten Querhovener Schulmündigen, oder ob sie bei einem der Nachbarn unterkrieche, dem großen, krausen Elis oder dem Müller. Aber das Brüllen könne sein Kind noch besser bei einem Ochsen und das Stoßen bei einem Bock lernen, meinte ihr Vater, dazu brauche es nicht in den Meixnerbof zu ziehen, und mehr sei dort nicht zu profitieren, und wenn auch dem Müller nicht alle Tage im Jahr der Schritt gerade gerate, so sei er doch nahe. Und die Ursel zog deswegen in die Mühle, weil sie ein zartes Wesen war, das ihre Mutter noch über die Schule hinaus betreuen mußte.

Kaum hatte sie aber einmal unter dem Dache geschlafen, gegen das ohne Unterlaß das Wasserrauschen und Radbrummen fuhr, schien ihr die ganze Mühle kein Haus, sondern ein Schiff zu sein, das ohne stillezustehen dahinfuhr, und jedesmal, wenn das Mädchen zum Fenster hinaussah oder vor die Tür trat, kam es ihr vor, sie sei wieder ein Stück weiter von ihrem Vaterhaus fortgerückt, daß es wieder ferner und kleiner in der Wiese droben lag, und eine Welt, viel schöner und lichter als die des vorigen Tages, breitete sich um sie aus. Und sie konnte nicht gehen, ohne zu singen, und nicht arbeiten, ohne ein glückliches Gesicht zu machen. Der Müller und die Müllerin fühlten sich das erstemal richtig heimlich in ihrem Hause, und keines konnte sich's denken, wie es gewesen war, ehe die Ender-Ursel in der Mühle gedient hatte.

Die Bauern meinten, der Bauer habe sich heimlich einen Porzellangang ins Werk bauen lassen, denn huschte die Ursel beim Aufladen bloß vorüber oder half gar beim Herausschaffen der Säcke, so kam dem knurrigsten Grammel von Bauer das Mehl plötzlich lichter vor wie sonst. Allerdings war die Ursel da schon eine ausgewachsene Magd, voll und biegsam, lustig und doch mit einem versonnenen Zauber im Gesicht, wie die schimmernde Melancholie eines stehenden Wassers.

Den Burschen aber ging das Herz durch, und manche wollten überhaupt nichts mehr tun, als Getreide in die Querhovener Mühle fahren, wenn sie die Ursula einmal gesehen hatten.

Die Mühle raste nur so den Verdienst aus zehn Dörfern herein, der Müller schüttete öfter als sonst Schenkenwasser auf sein Gangwerk, daß es in Unordnung geriet, seine Frau ertrug »das Abrechnen mit den Bäckern« leichter als sonst, und die Ursel wurde mit dem jungen Mannsvolk, das Tag und Nacht um die Mühle schwärmte, leicht fertig. Denn ein richtiges Mädchen denkt nie ans Heiraten, und der, mit dem sie das Schicksal in der Stille schon verknüpft hatte, der Anselm Rütsch aus der Querhovener Wuhle, ging so leise ums Haus, sah so sehr aus der Weite auf die Mühle, daß sie immer nur über das Gealber der Burschen zu lachen Anlaß hatte, von denen sich mancher herausputzte, als sei er ein Maibaum und kein Mensch. Der Rütsch-Anselm aber ging auf einen andern Steig, sobald er ihr begegnen sollte, schlug das Gesicht nieder, wenn sie unversehens in seine Nähe kam, verließ die Stube, in der über die Mühl-Ursel gesprochen wurde, und das alles, weil er den Gedanken zu überspannt fand, daß sich irgendein Mädchen, und gar noch dazu die Mühl-Ursel, etwas aus ihm machen könnte. Indessen verzehrte den Sanften eine Liebe, die wie eine leichte Trunkenheit fortwährend seinen Kopf bei Tage erfüllte und ihn in der Nacht so beunruhigte, als fei sein Bett mit Kreuzdornen und nicht mit Federn angefüllt.

Allein, nie getraute er sich an sie, und das Mädchen mußte erst vom Tode angerührt werden, ehe er den Mut fand, von dem laut zu reden, was ihm in der Stille das Herz füllte. Dies geschah nach einer harten Winternacht, als der Frost das Mühlrad von oben bis unten so mit Eis behängt hatte, daß es sich nicht mehr rühren konnte. Weil das Mahlgut den ganzen Flur bis hart an die Balken der Decke füllte und alle Mahlgäste, nicht bloß die, die in der Stube saßen, sondern auch die, die vorübergingen oder von draußen herein frugen, sich benahmen, als sterbe die halbe Umgegend unweigerlich aus, wenn die Mühle nur noch einen halben Tag lang stehe, stieg der Mühlknecht mit der Axt ins Rad, der recht angedickte Müller folgte ihm nach, und sogar die Ursel band sich die Röcke zusammen und fing an, mit einem Eisschlägel in den Speichen herumzuwirtschaften.

In der Eile hatte man verabsäumt, das Rad aus den Lagern zu heben. Während die drei Menschen nun in dem Gestänge hackten und pochten, daß es nur so funkte, löste sich wie auf einen höllischen Zauber hin die ganze Eiseslast von den Speichen auf einmal los und fiel mit Gepolter in den Radesumpf. Im nächsten Augenblick fing auch das Rad schnell und immer schneller an, sich in Bewegung zu setzen. Den Männern gelang es noch, mit einem Satz aus den Speichen zu springen. Aber wie sie nach der Ursel schrien, sahen sie das Mädchen schon von Speiche zu Speiche plumpen und im Wasser verschwinden.

Als man sie unterhalb der Mühle endlich aus dem Graben fischen konnte, schien ihr Körper zehnmal erschlagen und nur noch etwas für den Kirchhof zu sein.

Doch ihre Glieder rafften sich, fast ohne Arzt, von selbst wieder zusammen, und als die Fieberschleier um sie zerrissen, fiel der erste Blick ihres todbefreiten Auges auf den Anselm Rütsch, der hartnäckig und blaß wie ein Gespenst an ihrem Bette saß und Tag und Nacht so verzweifelt wie ihr eigenes Herz um ihr Leben gerungen hatte. Die Ursula Ender sah den Burschen eigentlich das erstemal in ihrem Leben, aber so, daß das Geschick der beiden für immer entschieden war.

Sie wurde fast so gerade und fehlerlos wie früher und ganz gesund, aber nicht mehr für die Mühle und auch nicht für das Haus ihrer Eltern, sondern für die Wirtschaft in der Wuhle.

Ihr erster Ausgang war der Hochzeitsgang in die Kirche, und den ersten rechten Schlag Arbeit tat sie für den Anselm Rütsch, der jetzt als ihr Mann vor Glück eher noch sanfter und stiller war als früher.

Ein Schatten mußte freilich auch erst überwunden werden, ehe das Glück der beiden recht zu singen anfangen konnte. Das war die Mutter des Mannes, eine beschränkte, großsüchtige Frau, die an der Armut der Ursel und dem geheimen Sektierertum ihrer Eltern einen Anstoß nahm, den sie nicht verwinden konnte. Deshalb zog sie schon nach den ersten drei Wochen der jungen Ehe aus dem Hause in der Wuhle davon zu einer Tochter, die irgendwo im rheinischen Kohlengebiet verheiratet war. Doch mußte die Ursel ihr vorher in die Hand versprechen, ihren Mann und alles, was etwa Lebendiges von beiden herkomme, mit allem wiedertäuferischen Unwesen zu verschonen. Querhoven galt nämlich als eine Kolonie der Münsterschen Wiedertäufer, die von einem versprengten, ohnmächtigen Häuflein der Schwärmer in diesen damals noch unabsehbaren Wäldern angelegt worden war. Das blutige Strafgericht des Bischofs im Juni 1525 trieb sie nach der Flucht aus dem eroberten neuen Zion hier in die Einöde. Geächtet, versteckt, aus Furcht und Angst um ihr Leben, die Inbrunst ihrer heißen Gottesfurcht tief ins Geheime verbergend, legte dies den Grund zu dem sprunghaften, außergewöhnlichen Wesen der Querhovener Menschen und zu einem religiösen Geheimdienst, von dem Außenstehende nie etwas Greifbares erfuhren, der aber fortwährend geübt wurde und durch nichts auszurotten war.

Die Bewohner der Wuhle dagegen waren die Nachkommen der Waldarbeiter, die das Fürstlich Arenbergsche Haus erst vor etwa hundert Jahren hier angesetzt hatte, und steckten darum so fest im Katholischen wie die Speichen des Rades in der Nabe.

Die alte Rütschin wich also aus ihrem Hause in der Wuhle, weil sie es nicht ertragen konnte, daß selbst ihr Ellenbogen ketzerisch rieche, und drohte der Ursula mit ihrer Rache, wenn sie ja etwa versuchen sollte, ein Kind heimlich zu taufen oder ihm mit einem anderen ketzerischen Hokuspokus zu schaden. Sie wolle mit Gebeten und Messen immerfort auf der Wache sein, und vergehe sie sich, so, das schwöre die Rütschin, komme das Kind als Affe auf die Welt oder wachse sich zu einem Kielkropf aus. Um das Donnermaul der Alten zu stopfen und aus Liebe zu ihrem Mann versprach Ursula alles, und ihre Schwiegermutter rumpelte davon.

Als nun die Kinder anfingen, der Ursula ins Bett zu marschieren, konnte man sehen, wie ihre Mutter das gegebene Versprechen gehalten hatte, denn eines war lieber und hübscher wie das andere. Sie machten der Mutter so wenig Sorge, als wären sie schon fix und fertig für das Leben zurechtgerückt worden, ehe sie der Himmel hatte in Ursulas Schoß fallen lassen. Und je härter die Mutter am Daumennagel vorbeizielen mußte, wenn sie die Schnitten vom Brote abmaß, um so fröhlicher trieb es das Rütschhaus in der Wuhle, als sei Kargheit und Enthaltsamkeit der einzig richtige Klöppel, mit dem die Glocke des Glückes geläutet werden könne.

Allein, als das vierte kam, schien es wirklich der Mutter, Gott habe das Kind mit eigenen Händen in ihr Haus getragen, so ausnehmend schön war es.

Das Junglein hatte Augensterne, so tief, als wäre ihr Blau aus einem Brunnen heraufgeholt worden, und Haare wuchsen ihm auf dem Kopf, Haare, weißgelb wie überreifer Hafer und weich wie Jungfernseide. Ja, obwohl der kleine Rütsch von Kopf zu Fuß ohne Fehler war, so dünkte doch allen, die ihn sahen, das Haar das schönste an ihm zu sein, und man nannte ihn nur das Weißköpfchen.

Überall, wo er hinkam, öffnete man, ehe er klopfte, gab, ehe er bat, nickte, ehe er sprach, und am seligsten wurde seiner eigenen Mutter von ihm aufgespielt. Es kam ihr vor, sie sei erst mit seiner Geburt zur Welt gekommen und wisse erst seitdem, wie lieb sie ihren Mann habe und wie schön das Leben sei, eine wahrhaftige Gottesgabe. Ihre drei anderen Kinder vernachlässigte sie in nichts und hatte sie so gern wie früher. Aber doch liebte sie sie nur wie den vergangenen Sonntag. Das vierte Rütschlein aber, das Weißköpfchen, war ihr immerwährender hoher Feiertag.

Auf diese Weise vergingen fünf Jahre wie das einzige Schwenken eines Blütenzweiges durch blaue Himmelsluft.

In der Frühe eines Ostersonnabends ging Anselm Rütsch, der Vater, mit dem Holz und den Palmen nach Hemsterhus zur Weihe, und das Weißköpfchen durfte ihn begleiten bis zur Brücke über das Hornwasser, hinter der der Waldstreifen über das Tal streicht, der die Wühle von Querhoven scheidet. Dort nahmen die beiden Abschied voneinander. Das Weißköpfchen ließ nicht nach, bis der Vater das Holz und die Palmen auf die Brückenbohlen legte, den Jungen zu sich heraufhob und küßte. Aber das Kind bekam nicht genug. Wenn es Rutsch wieder auf die Füße stellen wollte, verlangte es noch einen Kuß und noch einen. Es drängte sich an den Vater, als möchte es am liebsten in ihn hineinkriechen. Endlich sagte Rutsch, wenn es ihm alles Gutsein gebe, bleibe für die Mutter nichts mehr übrig. Da ließ das Weißköpfchen seinen Vater ziehen, blieb auf der Brücke stehen und rief ihm so lange nach, bis es ihn in den Bäumen des Büschleins nicht mehr sehen konnte.

Den Rückweg nahm es über die Wiesen, um der Mutter einen schönen Strauß von Blumen mitzubringen, sollte es ja dem Vater einen Kuß gegeben haben, der eigentlich ihr gehöre. Aber wenn es eine Handvoll Primeln und Butterblumen gesammelt hatte, sah es noch viel schönere auf der Wiese stehen, warf alle weg und begann von neuem zu pflücken. Dazwischen flößte es Hölzchen im Hornwasser, hielt die Hand an den Mund und ließ den Kuckuck schreien. Jedoch der antwortete niemals, weil er noch nicht da war, und so konnte es das Weißköpfchen nicht herauskriegen, ob es reich werden und noch lange leben werde.

Als das Junglein müde war, sah es eine große Birke auf der Wiese, die stand in der Frühlingssonne, bewegte die langen Äste, daß die goldenen Blütenwürstlein kaum zitterten, und säuselte so verstohlen in sich hinein, als erzähle sie eine Geschichte, die niemand wissen dürfe auf dieser Welt. Das Weißköpfchen hörte eine Weile zu und dachte dann, es wolle schon herauskriegen, was die alte Birke so leise für sich hinsause, ging hin, setzte sich unter den Baum und sah in seine Krone hinauf. Dort flogen Bienen ab und zu, daß es golden stäubte, die blanken Ruten glitzerten, und die Sonne lag dem Weißköpfchen so in den Augen, daß es sich endlich nicht mehr helfen konnte. Es machte sie zu und schlief ein. Mit der Zeit glitt es am Baumstamm nieder, sank ins Gras und träumte weiter. Ein Lächeln krümelte um seinen Mund, es seufzte überglücklich, aber welche schönen Geschichten es von dem Baume gehört hat, davon hat nie jemand etwas erfahren.

Als die Mutter ihr Weißköpfchen vermißte, war es schon um den Mittag, und es lag blaß und eingefallenen Gesichts im Grase; denn die Geister der Erde, die im Märzmonat am gefährlichsten sind, hatten im Schlafe Gewalt über das Kind bekommen. Nun es die Mutter weckte, tat es die Augen auf, lächelte wirr, wußte nicht, wo es war, taumelte, und wenn es die Mutter nicht auf dem Arme nach Hause getragen hätte, wäre es über die eigenen Füße gefallen und sicher nicht von der Stelle gekommen.

Zu Hause setzte die Mutter das Weißköpfchen hinter den Tisch auf die Bank, lachte es aus, daß es so verstriezelt tue, legte ein Stück neuen Kuchen neben ihn hin und ging ihrer Arbeit nach, denn sie pflegte nach einer Sitte, die bei ihrem Vater daheim geübt worden war, am Ostersonnabende das ganze Haus vom Keller bis zur Esse zu reinigen, um der neuen Sonne das Blitzen bis in den letzten Winkel zu erleichtern. Sie schwemmte Seifenwasser vom Boden über die Stiege, durch den Flur in alle Stuben, und als sie am späten Nachmittage den Riemen aufschnallte und die Röcke herunterließ, schlief das Weißköpfchen noch immer auf dem Tisch und hatte den Kuchen nicht angerührt, der neben ihm lag.

Da bekam die Ursel Angst und rief ihren Mann aus dem Schuppen, wo er Unterfeuerholz häckelte, und die Geschwister, daß sie mit ihm redeten und spaßten. Das Weißköpfchen aber lehnte sich bloß zurück und machte Augen, als seien alle, Vater, Mutter und Geschwister, die sich erheiternd um den Tisch drängten, nicht vor ihm, sondern weit, weit weg, etwa am Rande des Waldes, lächelte liebevoll, nachsichtig und sagte nach einer Viertelstunde, nun könnten sie wieder gehen. Sie sollten nicht böse sein, aber es könne sich vor lauter Schlafen nicht helfen. Die Mutter solle ihm das Bett recht tief in die Ecke hineinstellen, und als die Rütschin das getan hatte, rückte das Weißköpfchen, als suche es Schutz, hart an die Wand und lag lange wie in heimlichem Erwarten mit halboffenen Augen da und sagte dann aus einem unerklärlichen Zusammenhange heraus: Nun sei es genug. Jetzt bäte es, das Bett so zu wenden, daß es die heilige Maria und die Englein, die auf dem Eckbrett hinter dem kleinen Ampelchen standen, bequem sehen könne.

Die Mutter tat dem Junglein in allem seinen Willen, und es dankte kaum hörbar, aber so süß und voller Liebe, daß der Ursel ein schmerzhaftes Reißen mitten durchs Herz ging.

Da lag das Weißköpfchen still und schlief ohne Atem. Die ganze Nacht rührte es sich nicht und am anderen Tage ebenso. Es aß ein einziges Kuchenbröcklein und trank einen Schluck. Das war sein ganzes Feiertagsessen. Dann gab es das Töpflein und den Kuchen zum Bett hinaus, lächelte alle in der Stube an und ließ die Augen wieder zufallen.

Am Nachmittage verlangte es die Nachbarkinder. Die kamen und spielten alle jene Spiele, die dem kleinen Rütsch immer am besten gefallen hatten: Ringeleinstreichen, Blindraten und Kauertraben und anderes. Dazwischen erzählten sie alle lustigen Geschichten, bogen sich vor Lachen und ruhten nicht eher, bis auch dem Weißköpfchen ein fröhliches Glänzen ins Gesicht stieg. Endlich öffnete es die Augen, sah alle klar an, streckte das Händchen über die Bettkante heraus und winkte schwach damit. Da wußten die Kinder, daß ihr liebes Weißköpfchen genug habe, und gingen hinaus.

Aber jedesmal Sprechen klang die Stimme des Rütschleins unwirklicher, und jedesmal Augenöffnen kam sein Blick von weiter her aus der Welt, und der Mutter fiel das Ahnen in die Brust, daß das ein Schlaf sei, der aus dem Leben herausführe. Doch sie konnte und konnte das nicht für möglich halten, und sobald er einmal die Augen öffnete, bog sie sich übers Bett und fragte ihren liebsten Jungen, ob ihm nicht schon ein wenig besser sei. Das Weißköpfchen lächelte jedesmal unendlich rührend, fuhr seiner Mutter mit der Hand lind über die Wange und sagte, sein liebes Mütterlein solle sich nicht kümmern, es werde ihm immer leichter. Nicht lange, und es werde alles gut sein. So ging es die ganzen Osterfeiertage, vom Ostersonntag bis in den Dienstag hinein.

Am Ostermittwoch früh, als seine drei Geschwister ihre Leinwandschnappsäcke auf der Bank packten, um in die Schule zu gehen, richtete sich das Weißköpfchen unvermutet auf, ganz gefaßt und still, und folgte jedem Handgriff mit erstaunten, aufmerksamen Augen. Dann, als die Mutter die Stube auf einen Augenblick verlassen hatte, sagte es allen Lebewohl und wünschte ihnen alles Gute in der Schule und in der Welt. Die drei Rütschlein merkten wohl eine fremde Feierlichkeit an ihrem Brüderchen. Allein, es war die höchste Zeit in die Schule. Deswegen stürmten sie davon und riefen der Mutter von dem Garten in den Stall: Das Weißköpfchen habe eben gesprochen, als ob es sterben wolle. Der Mutter fiel die Gelte aus der Hand, die sie eben in die Kanne ausgießen wollte, und als sie fliegenden Laufes in die Stube kam, saß das Weißköpfchen noch immer aufrecht im Bettchen und sah mit einem solchen Ausdruck himmlischen Glückes in das verzweifelte Gesicht seiner Mutter, und in seinen Augen war zugleich ein solch Jahrtausende alter Ernst, daß der Ursula Rütsch vor Staunen und Beklemmung der Schrei im Halse steckenblieb, den sie hatte ausstoßen wollen, und sie konnte nichts tun, als den Blicken des Kindes zu folgen, die es jetzt wieder auf das Bild der Gottesmutter mit den beiden Engeln in der Stubenecke auf dem Brettchen richtete. So blieb diese Verzückung eine ganze Weile in dem Junglein. Als sie aus ihm schwand, senkte es den Kopf und raffte mit seinen blassen Händchen das Deckbett zu einem kleinen Häufchen zusammen. Dann hob es das Gesicht und bat seine Mutter, sie möge ihm die Spielsachen holen, die es zu Weihnachten bekommen habe.

Die Mutter drängte es zwar, zu schluchzen, ihn in die Arme zu reißen und schreiend zu fragen, was in aller Gottes Welt das zu bedeuten habe, aber die weite Tiefe in den Augen des Weißköpfchens war so überwältigend, daß sie ganz stille, wie in einem schweren Traume, ging und alles zusammensuchte, was dem Kinde gehörte: die beiden Wallfahrtsbildchen, das hölzerne Pferdchen, das Räderbrettchen, auf dem einmal ein Schaf gestanden hatte, und noch einiges mehr. Das alles legte sie vor das Kind hin auf das Deckbett.

Nachdem das Weißköpfchen ein klein wenig gesonnen hatte, machte es aus seinem Spielkram so viele Teile, als es Geschwister hatte. Das Pferdchen aber sollte sein liebster Freund Hieronymus, des Nachbars Junge, bekommen.

»Willst du denn gar nicht mehr spielen, Weißköpfchen?« fragte die Mutter und zehrte an ihren Tränen.

Der Junge schüttelte ruhig den Kopf und sagte einfach: Nein, denn er müsse fort, und das gleich. Vorhin, als die Mutter hereingekommen sei, habe das Englein wieder gezittert, und das mehr wie heut nacht. Allein, öfter als zweimal, das wisse er genau, zittere so ein Englein nicht, dann geschieht ganz gewiß, was man sich habe denken müssen. Der Ronymus habe das auch gesagt.

»Aber um Gottes Maria willen, mein Kind!« schrie jetzt die Ursula, die sich nicht länger halten konnte, und stürzte vor dem Bette in die Knie. Doch das Weißköpfchen berührte nur mit seiner verkühlten Hand die Stirn der Mutter und sagte, es möchte noch einmal zum Fenster hinaussehen. Die Mutter raffte ihr Kind auf und trug es hinüber. Das Weißköpfchen lächelte glücklich, streichelte die Glasscheibe und flüsterte verzückt: »Das Wieslein ... das schöne Wieslein ...« Und während es dasselbe Wort leise und immer leiser sprach, neigte es, wie von Freude überwältigt, den Kopf an den Hals der Mutter. Die Ursula Rütsch aber stand wie ein Pfahl und rührte sich mit keiner Faser. Denn sie glaubte, ihr Weißköpfchen sei eingeschlafen, und sie wollte es nicht stören.

Aber als sie ihm endlich in die Augen sah, war es schon gestorben.

Da begannen die Hämmer der Verzweiflung von allen Seiten so gegen ihren Leib und ihre Seele zu schlagen, daß sie rein von Sinnen geriet, das tote Kind auf das Bett fallen ließ, wie ein gepeitschtes Tier schrie und über die Wuhle hin geradezu in den Wald lief. Dabei rief sie immerzu: »Ich geb' mein Kind nicht her! Nein, mein Weißköpfchen darf nicht sterben!«

Der ganze Wald hallte von ihren Klagen wider, bis ihr Mann, tief im hohen Holze, das Geschrei hörte. Er ging mit noch einem Holzmacher der Stimme nach, und sie fanden die Verzweifelte endlich tief hinten im Hornwassergrunde, wo sie an einem alten Fuchsbau kauerte, mit den Fingern in der Erde scharrte und dazu immerfort sprach: »Ich geb' mein Kind nicht her! Mein Weißköpfchen darf nicht sterben!« Aber ihre Stimme war von dem vielen Weinen und Rufen schon ganz heiser, fast erloschen.

Von da an war die Ursula Rütsch umgewandelt, wie vor die zugeschlagene Tür der Welt hinausgestoßen: saß fast immer an derselben Stelle und sah ohne Augenwenden auf das Bett ihres gestorbenen Kindes. Das Begräbnis ging vorbei, Leute kamen, die sie trösten wollten, standen ratlos vor ihrem regungslosen Schmerzensmuttergesicht, schüttelten das Haupt, als hofften sie nichts mehr für die Arme, und machten sich stockstille wieder davon. Die Ursula merkte von alledem nichts. Sie blieb wie verschollen, ließ ihren Mann bitten, sich doch zu fassen, ihre drei anderen Kinder um sie weinen, das Vieh im Stalle vor Hunger brüllen und rührte sich nicht.

So trieb sie es bis in die Zeit hinein, in der der Meixner-Gottlieb von unbegreiflichen Wirbeln aus dem Heiligenhofe nach Querhoven getrieben wurde. Der gab durch sein Tollen den ersten Anstoß, daß die Schmerzbetäubung der armen Ursula etwas nachließ.

Die Leute sagen, genau dreimal drei Wochen nach dem Ostersonnabend, an dem das Weißköpfchen von der alten Birke den Todesschlaf zugesaust bekommen habe, sei der verknüllte Meixner nach tagelangem Brüten im Hornwasserwalde wieder johlend und die ganze Welt anplärrend durch die Wuhle gezogen. Er lärmte auf der Straße vorüber, so daß nicht alles zu verstehen war. Aber so viel konnte man doch hören, daß er die ganze Wuhle warnte, auf der Hut zu sein.

Das hob selbst die Ursula von ihrem Sitze auf und führte sie ans Fenster. Gerade richtete Gottlieb sein Schreien nach dem Rütschenhause hin: »... Ratzekahl, alle seid ihr in der Wuhle verloren, sag' ich«, brüllte er. Allein, als die Ursula am Fenster erschien, todesblaß, aufgeregt, unbeweglich, erwürgte das Getobe in dem Gottlieb wie von einem Griff. Er setzte sich auf einen Straßenstein und sah schweigend der armen Mutter ins Gesicht. Dann griff er neben sich auf den Weg, erwischte einen Stein, schleuderte ihn in den Staub und spuckte ihm nach.

Nach dieser Ermunterung sprang er auf und schrie in einer merkwürdig weinerlichen Art: »Jawoll, Ursel, was ich dir sage, die Lenleinhexe hat dir auch dein Kind, dein Weißköppel, gestohlen. So wahr ich lebe, spricht der Herr. Haha! Rudirum verflucht, rudirum verflucht, jawoll, gestohlen.«

Betreten lauschte Ursula dem Plärrsingen des Unglücklichen, das, immer schwächer klingend, nach Querhoven zu verschwand. Dann kehrte sie auf ihren Platz zurück, schaute noch eine Weile zu Boden, schüttelte verwundert den Kopf und lächelte dann zum ersten Male seit dem Tode ihres Kindes.

Nach diesem Begegnis fand sie sich gleichsam wieder in ihre Arbeit zurück.

Allein sie hatte eine sonderbare Art zu gehen, ungefähr so wie nach dem Fall durch die Speichen des Mühlrades, als bewegte sie sich nicht auf fester Erde, sondern auf einem schwanken Steg, der über einem Abgrund liegt. Dem Zugreifen ihrer Hände ging ein furchtsames Tasten voraus, und sie redete mehr von drüben her, gleich einem Menschen, dem, aus dem Schlafe geschreckt, die Traumverscheuchtheit wider Willen noch durch all sein Reden gespenstert, und wenn der gute Anselm Rütsch nicht immerfort um sie war, fiel sie immer wieder in das alte Sitzen und Starren zurück, in dem sie fortwährend halblaut vor sich hin redete: Bitten an ihr Weißköpfchen um Verzeihung, Vorwürfe über ihre Menschenfurcht, Haß gegen die Schwiegermutter und endlose Selbstanklagen, daß sie ihr liebes Kind in den Tod getrieben habe, weil sie ihm das Lebensbad der Wiedertaufe vorenthalten.

Sie konnte das ganze Leben nur noch durch den Flor ihrer hoffnungslosen Trauer sehen und erlag so mehr und mehr dem Schicksal ganz unterhöhlter Menschen, die selbstgeschaffenen Schatten ihres stets bedrängten Geistes als wirkliche Wesen zu erblicken.

Aber beim Nachhausekommen ihres Mannes an einem frühen Herbsttage dieses verfinsterten Jahres erzählte sie von dem Besuche, den ihr am Nachmittage zwei Engel abgestattet hätten. Der eine sei nach dem Eintritt der beiden in die Stube am Ofen stehengeblieben und habe mit dem Pferdchen zu spielen begonnen, das das Weißköpfchen dem Nachbar-Hieronymus geschenkt habe, der andere ging indes zu dem Bett des Gestorbenen und schrieb allerhand unverständliche, geheimnisvolle Zeichen in die Luft über dem unteren Stollen. Und auf ihr inneres Verwundern, was dies zu bedeuten habe, sei ihr die Antwort geworden, er mache, was er wolle. Darauf schritt er wieder der Tür zu, und der andere folgte ihm ohne Säumen nach. Als der aber auf der Schwelle angekommen war, ward er kleiner und kleiner. Seine Flügel schrumpften ein, bis ein kleines, blondhaariges Mädchen unter der Tür stand.

Das drehte sich um, schaute die vergrämte Mutter liebreich an, winkte ihr und trippelte eilig davon. Die Ursula lief wohl gleich hinter dem Kinde nach, sah aber nichts mehr als einen Glanz, der in den Baumkronen des Gartens hing und dann langsam als ein Lichtrauch nach den Hemsterhuser Fremdhöfen zu in der Höhe davonzog.

Nun sei es ihr immerfort, als müsse es ihr doch noch gelingen, das Weißköpfchen wieder aus der Ewigkeit herauszuscharren.

Der arme Rütsch war von der Erzählung seines Weibes so betroffen, daß er kein Wort hervorbrachte. Dieses Erschrecken bis in die tiefste Seele hinein verließ ihn den größten Teil der Nacht nicht. Denn entweder war sein Weib jetzt wirklich in die Irre geraten, oder Gott selbst hatte ihr ein wunderbares Zeichen gegeben, wie sie aus der Finsternis herausfinden sollte. Nachdem es so weit in ihm geschlichtet worden war, ermannte er sich zu einem inbrünstigen Gebet, stellte alles Gott anheim und schlief ein.

Am Morgen hatte sich wirklich sein Geist ganz geklärt, und er sagte zu seiner Ursula, wenn die Erscheinung wahrhaftig wahr wäre, von der sie ihm erzählt habe, so bedeute das nach seiner Meinung nichts anderes als eine Aufforderung, sie sollten hinüber auf den Heiligenhof zu dem wundersamen Kinde des Sintlingerbauers gehen. Wer weiß, die Wege der Vorsehung seien ja nie zu ergründen, es könnte doch noch eintreffen, was sie nach dem Verschwinden der Engel habe denken müssen, nämlich daß, wie sie gesagt habe, der Himmel das Weißköpfchen nicht mehr so ganz für sich behielte.

Also zogen sich die beiden ihre Sonntagskleider an und machten sich auf den Weg, stiegen den langen Hügelrücken hinan, der Querhoven von dem Gebiet der Fremdhöfe trennt, und traten bald aus dem Waldsaum heraus, der zwei, drei Bäume tief als ein dunkelgrünes Fichtenbärtlein auf der Höhengrenze bis an den Wald der dürren Berge heranlief. Da sahen sie nun die Fremdhöfe vor sich liegen, das wogend ansteigende Gehügel dahinter, den sich daranschließenden Wald der beiden Besitzungen in der ersten, traumhaft aus den Kronen schwebenden Laubbuntheit des Herbstes und am fernsten Horizont über ihm in der Luft ein stilles, verklärtes Licht, jene Glanzstraße durch die Höhe, von der die Meinung ging, sie sei der Widerschein des Rheinstroms, der stundenfern, noch weit hinter dem Walde, vorüberzog.

Anselm Rütsch und seine Ursula standen, schauten zu den reichen Höfen hinüber, und besonders das arme Weib wurde von dem stillen Licht in der himmlischen Höhe so ergriffen, daß sie begann, mit der rechten Hand den Saum ihrer Schürze mit zuckenden Fingern zusammenzuraffen. Aber ihr Mann, dem Liebe und Schmerz das Verstehen tiefer geöffnet hatte, erkannte, wovon sein Weib berührt worden war, und tröstete sie, das, was sie am Himmel sähen, das sei beileibe nicht etwa ein Geisterfahren durch die Luft, und wenn auch schon. Was könnte es in diesem Augenblicke für einen Sinn haben als den, ihr Mut zu machen zu dem Gange auf den Heiligenhof. Denn der Engel, der ihr erschienen sei, habe sich doch als Glanz in die Baumkronen aufgelöst. Deswegen, das sei seine Meinung, sähen sie auch heute den Rheinschimmer in der hohen Luft so klar, wie er ihn sein Lebtag noch nicht geschaut habe.

Nach diesem Zuspruch richtete die Ursula, wie es ihre Gewohnheit war, die großen, schwarzblauen Augen in einer Art finsteren Forschens auf den Anselm. Der aber nickte seinen Worten nur stumm nach, und die Ursula reichte ihm darauf die Hand zum Abschiede und sagte, er solle nur in Gottes Namen wieder zurückgehen. Denn da ihre eigene Not sie auf den Heiligenhof führe, wolle sie es auch allein, ganz allein vollbringen.

Es war in der höchsten Zeit der Grummeternte, und der Heiligenhof lag lautlos, fast von allen Bewohnern verlassen, in der vormittäglichen Herbstsonne. Klopfenden Herzens stieg Ursula den steilen Zufahrtsweg hinauf. Mit jedem Schritt, der sie näher an das große Tor brachte, kam es ihr immer schneidender zu Sinnen, wie ein vor Unglück dummes Weib sie sei, einen Gang zu tun, von dem sie selbst nicht wußte, was sie damit bezweckte. Als sie deswegen unter dem durchsichtigen Schatten der Linden ankam, kniete sie an dem Sintlingerkreuz nieder und betete ein inbrünstiges Vaterunser. Gegen das Ende, da sie wie beschwörend die Worte aus ihrer Seele heraushauchte: »Und erlöse uns von dem Übel«, überfiel sie unerwartet die Gewißheit, sie werde ihr gestorbenes Weißköpfchen wiedersehen. Davon war sie vor Schreck und Glück wie trunken. Als sie, schon am Tore angekommen, noch einmal nach dem Sintlingerstein zurücksah, kam es ihr vor, das schwarze Eisengeländer um das Kreuz sei mit Girlanden roter Rosen durchflochten. Das marktplatzweite Hofinnere, der hohe Flur, der ihr wie der Zugang zu einer Kirche erschien, alles das erhöhte ihre Bestürztheit noch. Sie ging auf das Sintlingerhaus zu und kam bald in den hinteren Teil des unteren Flures, wo rechts und links vom Stiegenaufgang in das zweite Stockwerk die Tür der Küche der Tür zu dem Zimmer gegenüberlag, in dem das Lenlein unterrichtet wurde.

Als sie ratlos, unschlüssig von der einen zur anderen Tür schaute, nicht wissend, wohin sie sich wende, klang aus der Küche das Geklapper von Geschirr. Wenn nur um Gottes willen niemand käme, dachte Ursula. Aber kaum hatte sie diesen Ruf zu Ende gesonnen, hörte sie Schritte, die sich von drinnen der Tür zu nähern schienen, und ohne eigentlich recht zu wissen, was sie tat, flüchtete sie an die Tür der Unterrichtsstube, faßte den Drücker und stand im nächsten Augenblick, nicht als sei sie gegangen, sondern geschoben worden, schüchtern und beschämt in dem Lehrzimmer.

Ihr Herz schlug hörbar, und ein Kreisen drehte sie, daß sie glaubte, jetzt und jetzt müsse sie hinschlagen. In dies Gebrause vor ihren Ohren hörte sie eine harte weibliche Stimme fragen: »Was fällt Ihnen denn ein, den Unterricht zu stören? Wer sind Sie?«

Da hob Ursula endlich die gesenkten Augen und sah die Lehrerin, die das gesprochen hatte, an, um sich zu entschuldigen. Aber da sie Fräulein Knille, die gereckt, in böser Furcht am Tische stand, nur ins Gesicht gesehen hatte, schwand der armen Mutter Hoffnung auf Güte. Sie verschluckte die Bitte um Entschuldigung und schaute voll Verzweiflung ins Zimmer. Die Lehrerin verstand das seltsame Benehmen des fremden Weibes nicht und meinte, sie habe es mit einer Irrsinnigen zu tun, die man durch Härte nicht noch reizen dürfe. Deswegen änderte sie sofort den Ton und sprach:

»Bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Dann schob sie der Ursula ihren eigenen Stuhl hin und retirierte auf die Tür zu.

Die Rütschin hatte indes das Lenlein gesehen, das, noch vom Unterricht bedrückt, auf ihrem Stuhle hinter dem großen Tisch saß. Ihr Gesicht war blaß, die blonden Locken standen wie ein Duft der Verklärung um die Stirn, ihre Augen hielt sie in forschender Entrücktheit still nach der Gegend gewandt, wo Ursula stand.

Nicht lange dauerte dies rätselvolle Ineinandersinken der beiden, da sah die Lehrerin die eben noch eingesunkene Gestalt Ursulas sich heben, ihr verhärmtes Gesicht blühte in ein förmliches Strahlen, und dann geschah das Überraschende, daß sie die Arme verlangend gegen das Lenlein hob und mit seliger, tränenerstickter Stimme rief: »Mein Weißköpfchen!«

Nach diesem Ruf schien ihre Kraft erschöpft. Sie sank auf den Stuhl, und ihre Arme fielen abgeschlagen in den Schoß.

Das Heiligenhofkind lächelte jetzt über das ganze Gesicht und sagte mit seiner unwirklich singend schönen Stimme: »Siehst du, jetzt bist du doch ganz hell geworden.« Mit diesen Worten näherte sie sich der Ursula, die nicht wußte, was ihr geschah, schmiegte sich innig an sie und sagte: »Aber ich heiße nicht Weißköpfchen. Ich bin doch das Sintlingerlenlein, und du mußt nicht mehr weinen.«

Die Rütschin aber nahm jetzt zaghaft den Kopf des Mädchens wie eine Kostbarkeit zwischen ihre Hände und drückte das Gesicht in die blonden Locken, als seien sie ein heiliges Wasser.

Sowie aber die Lehrerin sah, daß Ursula nach dem Kopfe Helenens faßte, dachte sie, nun breche der Wahnsinn der fremden Frau aus, und sie flüchtete aus dem Zimmer, um Hilfe zu holen. Aber kaum stand sie bebend draußen auf dem Flur, als ihr einfiel, daß sie ja eben das Kind in der Gewalt des Weibes gelassen habe. Sie fürchtete sich vor den Vorwürfen des Sintlingers und lief und lief aus dem Hofe hinter den Scheunen ins Feld, immer auf den Buchengrund zu, und wenn es ihr den Atem verschlug, sagte sie bloß: »Keinen Augenblick mehr bleibe ich auf diesem Hexenhofe«, dann hatte sie wieder Kraft, ihre Flucht fortzusetzen.

Indes die Lehrerin so aus dem Hofe gejagt wurde, fanden sich das Lenlein und die arme Rütschin immer heimlicher ineinander. Dem Weib aus der Wuhle war es, als sei es nicht auf dem Sintlingerhofe bei einem Menschenkind, sondern sitze in dem Gemache eines unirdischen Hauses, und die Augen des Mädchens schimmerten in dem verwunschenen, weltweiten Lichte, mit dem ihr gestorbenes Kind sie in den Nächten und in den Träumen des Schlafes angesehen hatte, doch ganz ohne das Zucken der Trennung, ohne den Schmerz um den unwiederbringlichen Verlust, daß sie alles, ohne es zu wissen, aus den Ängsten der Seele und den Wunden ihres Herzens mit hinzugetan hatte. In den Augen der kleinen Hübelheiligen sah sie ihr gestorbenes Kind in himmlisch-wunschloser Verklärung an, und sie waren auch wie zwei Guckfenster, durch die ihr Ahnen von einem unnennbaren Hauch des himmlischen Jenseits getroffen wurde, zu dem ihr liebstes Knäblein entrückt worden war. Während das Lenlein sie nach ihrem Namen fragte, wo sie her sei, ob sie auch Kinder habe, wie sie heißen und noch vieles andere, was die Blinde im Glück redete, weil sie die Lehrerin nicht mehr spürte, hatte sich ihr Händchen achtlos in die Hand der Rütschin gespielt, und die beiden gingen aus der Stube, den Flur hin und verließen zum Tor hinaus den Hof. Und immer und immer mußte die arme Frau sich neigen und in den Augen des Sintlingerlenleins nach den verklärten Blicken ihres Weißköpfchens spähen, dessen Stimme sie in den Worten des Mädchens klingen hörte: aber erlöst, unirdisch, himmlisch. Als die beiden dann draußen das ebene Stück des Zufahrtsweges bis zu der Stelle gewandelt waren, wo er sich in steilem Fall nach dem Grenzwege kehrt, überwand die Rütschin die geheimnisvolle Furcht vor dem Kinde, faßte es unter den Armen, hob es gegen den blauen Himmel, herzte es und sagte in glückvoller Überstürzung, nie werde es ihm vergessen, was es ihm gegeben habe, denn sie habe ihr gestorbenes Weißköpfchen direkt aus dem Himmel wiederbekommen, und eher noch schöner, als es im Leben gewesen sei.

Dann lief sie förmlich den Abhang hinunter. Erst als sie schon den jenseitigen Hügelrücken emporstieg, der Querhoven von dem Gebiet der beiden Fremdhöfe trennt, wandte sie sich um und erblickte die Hübelheilige in ihrem rosa Kleidchen im Grün neben den Torlinden sitzen, daß sie mehr aussah wie eine große Blume, die im Schatten der mächtigen Bäume in himmlischer Stille blühte.

Ihr Mann wartete noch getreulich, wo sie ihn verlassen hatte, in dem leichten Schatten der Baumzeile, die vom Walde der dürren Berge her auf der Höhe des Hügelrückens hinstrich, und hatte schon allerhand Befürchtungen durcheinander getrieben, warum sein Weib so lange im Sintlingerhofe bleibe. Nun sah er sie eilig den Hügel heraufkommen, und je mehr sie sich den Bäumen näherte, desto mehr beschleunigte sich ihr Gang. Da trat er endlich aus dem Baumschatten hervor, tat auf dem Steig zögernd einige Schritte ihr entgegen und sah ihr forschend ins Gesicht. Die Rütschin aber, als sie ihrem Mann gegenüberstand, erinnerte sich plötzlich aller Qual und Finsternisse, die in langen Wochen auf ihr gelegen hatten, noch einmal und ward von dem Wunder erst recht in tiefster Seele erfaßt, das die Blinde in ihr bewirkt hatte. Deshalb war ihr Gesicht vor Glück ganz erschüttert. Langsame Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie sagte erschöpft: »Anselm, komm, komm!«, nahm seine Hand, drückte sie herzlich, und so stiegen sie schweigend nach Querhoven hinunter.


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