Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Auf diese Art wurden Peter Brindeisener und das Sintlingerlenlein aus derselben Gegend ihres Lebens, ohne voneinander anderes als die wilden Träume des eigenen Herzens zu wissen, durch Dämmerungen einem neuen Tage entgegengeführt. Das hübelheilige Mädchen wohnte jetzt allein in dem Lindenzimmer, und das riesige Rauschen der uralten Bäume war immer um sie. Weil nun die stets anders werdende Welt ihres Daseins nicht mehr so oft mit dem Wesen anderer Menschen zusammenstieß und deren Auffassungen Formen annahm, die dem Lenlein selbst fremd und schreckhaft erschienen, so verwunderte sie sich über alles Neue nicht mehr so sehr, sondern erlebte die Wandlungen neu begierig wie ein Märchen, das sich an ihr ereignete. Manchmal wehte der machtvolle Laut der Lindenkronen ganz fern von ihr hin, manchmal stand das Brausen in der Nacht traumleise über ihr hin, als sei es wer, der sich über sie neige und säuselnd zu ihr rede. Die Räume des Hauses und des Hofes, sonst nur Gegenden in ihr selbst, glitten aus ihr und stellten sich als Wirklichkeiten um sie. Alles klang anders, bis auf den Ruf des Hahnes und das Knarren des Wagens. Alles, was ihr sonst unzertrennlich eigen gewesen war, wie der Traum ihrer Seele, den der eigene Wille so oder so umbilden und verflechten kann, nahm scharfe Umrisse, feste Gestalt an, die sich unverrückbar eindeutig, aber fremd um sie baute. Auf diese Weise wurde die Welt enger um sie, denn die Welt des Blinden hat keinen Horizont. Nun aber legte es sich wie ein Gürtel um alles, sie fühlte alles geordneter, gesammelter, nach einem Zweck zwar, den sie nicht begriff, gefangen wie ein aufgestautes Wasser, und Hitzewellen jagten durch sie, Ansätze zu einem Sprung. – Einmal, als es sie wieder so packte, geschah es, daß ihre Mutter die Küchentür drunten aufmachte und über sich hinauf horchte, denn es war ihr doch gewesen, als sei eben ihr Andreas mit reißend leidenschaftlichen Schritten über den Flur droben gegangen. Und sie wußte doch genau, der Sintlinger war mit sämtlichen Gespannen in den Wald gefahren. Allein, der jähe Gang über den Flur droben hatte ganz den Schritt ihres Mannes, und zwar aus der Zeit, da er noch auf aller Welt herumtrat. »Was ist denn das?« sann sie bei sich, da der Schritt nicht nachließ. »Spukt es wirklich im Sintlingerhofe? Der Schritt kann sich doch nicht von einem Menschen fortstehlen und allein, wo es ihm gerade behagt, das Gehen vollführen.« Und als sie dieses kurze Furchtaufstoßen überwunden hatte, lief sie resolut die Treppe hinauf, um zu sehen, was es mit dem Sinnschreiten ihres Andreas für eine Bewandtnis habe.

Aber da sah sie niemand als Helene. Das Mädchen hielt den zurückgelehnten Kopf in den hinten verschlungenen Händen und lief leidenschaftlich den Flur hin und wider, mit ausholenden Schritten, als stiege sie über Gewölk hinan. »Lenlein«, rief ihr Johanna über das Gebaren des Kindes verwundert und zugleich lächelnd zu, und als das hübelheilige Mädchen nicht nur nicht hörte, sondern sogar anfing, zu ihrem flammenden Gehen noch zu summen und den Kopf zu wiegen, wiederholte die Bäuerin ein wenig gekränkt den Ruf. »Lenlein, du, Lenlein«, sagte sie, »so hör' doch schon. Du erschreckst einen ja mit deinem wilden Einsamlauf.« Aber Helene, die gerade darüber her war, den Flur hinzujagen, auf die Bodentreppe zu, warf erregt und jäh den Kopf über die Achsel und antwortete schroff, fast patzig: »Geh, laß mich! – Was frägst du mich? – Ich will allein sein.« Aber kaum, daß ihr die Worte wie Peitschengeknall aus dem Munde geflogen waren, machte sie kehrt und stürzte sich den Flur hin, die halbe Treppe hinab der Mutter an die Brust und bat unter Tränen die Heftigkeit ab.

»Aber Mädel«, sagte Johanna verweisend und strich ihr die Haare aus der heißen Stirn, »was denkst du denn, so zu laufen? Du kannst dich ja unglücklich machen!«

Da umschlang das Lenlein wieder leidenschaftlich den Hals ihrer Mutter und sagte: »Ja, Mutter, glücklich oder unglücklich! – das ist gleich! – Ich liebe dich, Mutter ... ich liebe dich! ... ach, wie ich dich liebe!!«

Dabei fand sie mit Liebkosungen und Küssen kein Ende.

Diese gelegentlichen Sprünge in Exaltationen empfand Helene wie eine Erholung von dem leisen Minieren ihres Innern, das sie durch immer neue Erlebnisse führte, eines wundersamer, ungewöhnlicher als das andere. Zuzeiten nahm das Lenlein um die Gestalt der Dinge neue, ganz andere Umrisse wahr, die schwankten gleich einer heißen Einbildung von ihr und auch so, als würden sie von einem Luftzuge hin und her bewegt, einem Luftzuge, der gleichwohl mit nichts zu spüren war, weder mit den Ohren zu hören, noch mit den Fingern, nicht einmal mit der Stirn zu sehen. Trotzdem griff Helene nach den Dingen, und zwar nach der Gestalt, die ihr durch das bisherige Leben gewohnt war und die fest hinter dem Schwanken der neuen Umrisse stand, matt, kraftlos wie ein nutzloser Rückstand. So kam es, daß sie sich unvermutet an Kanten stieß, an Spitzen verwundete und dann so bis in die Seele hinein erschrak, wie sehende Menschen, die auf ebenem, sicherem Wege unvermutet über eine Stufe geraten. Jedesmal stand sie vor diesem Neuerleben in starrem Schrecken. Denn sie erinnerte sich einer Geschichte der alten Therese, daß es einst einen Mann gegeben habe, der mit nichts, aber auch rein mit gar nichts auf der Welt zufrieden gewesen sei und dem sich zur Strafe alles in dem Augenblick verwandelte, wenn er danach griff. So gerade ging es ihr eigentlich auch, aber sie konnte nichts finden, wodurch sie sich vergangen, und war auch nicht imstande, sich vorzustellen, wer ihr so etwas mitspiele, daß sie immerfort alles doppelt sah, als Traum und Wirklichkeit, als Tag und Nacht. Sie lebte bis zu den Bewegungen in den feinsten Kapillarien ihres Gemütes in einem fortwährenden Vertauschtsein. Alle die Veränderungen waren mit ihrem Tanz auf der Wiese und der Empfindung und dem rätselhaften Erleben des Männerhauptes in Verbindung, der einzigen Sicherheit in ihr, die, geschwunden, sich immer wieder erneuerte. Deswegen aber gerade scheute sich das hübelheilige Mädchen, jemand um Rat zu fragen, was das eigentlich zu bedeuten habe. Denn dann hätte sie ja auch erzählen müssen, daß sie manchmal mitten in der Nacht durch ein gewaltsames Umfangen aus dem Schlafe gerissen wurde, mit einem solchen wilden Packen, daß sie den Griff der Hände noch schmerzhaft am Arme fühlte, so lange spürte, bis sie die Stellen oft lange und inbrünstig geküßt hatte. So was konnte man doch unmöglich sagen. Doch etwas nicht tun dürfen, ist zugleich der gefährlichste Drang, es doch zu tun.

Und wirklich, nicht lange danach – der Winter war im Abzuge, und die ersten warmen Märztage wandelten mit laulichem Atem über das Hügelgewoge –, da lehnte das Lenlein am Zaun des Blumengartens hinter dem Hofe, hielt ihr Gesicht dem freundlichen Luftzuge entgegen und sann darüber nach, wie seltsam das doch mit dem sei, was die Menschen den Wind nennen. Wenn man genau darauf achte, so sei es nicht anders, als gingen rund um einen herum Menschen vorüber, ein langer, leissohliger, unendlicher Zug, von dessen Schritten nur das Rauschen der Gewänder zu vernehmen sei. Niemand weiß, woher diese Luftwesen kommen und wohin sie gehen, und es ist, als verstände man sie nur, wenn man sich ihnen entgegenstellte; denn dann komme es vor, daß sie einem ihre Lieder in die Ohren singen, ohne Aufhören, immer das gleiche und doch immer ein ewiges anderes. Man höre in alle Welt hinein, und in der Stimme des Windes wachen alle Stimmen der Nähe und Ferne auf. Der weite Wald brause vor sich hin, die Rainsträucher säuseln auf, die einsamen Feldbäume sausen leise, und selbst Häuser noch pfeifen mit den Firsten und Rinnen. So geht die ganze Erde als ein luftiges Wehen an einem vorbei, und glücklich, daß man dem lausche, was doch nie zu verstehen sei, streicht es uns wie mit linden Händen die Haare aus der Stirn und schmiegt sich so um uns, daß wir uns, in die Luft gedrückt, deutlicher als je fühlen. Diesem Sinnträumen gab sich das hübelheilige Mädchen hin, während sie am Zaun lehnte und auf die Laute des Märzenwindes lauschte. Ganz weit von sich, ganz weit hinaus wurde sie von ihrem feinen Gehör getragen, und zuletzt war es ihr wirklich, als kämen durch die Luft die leisen Schritte von vielen Menschen auf sie zu. Da wußte das Lenlein, daß es nicht mehr lange dauern würde, und aus dem Gange der vielen sei der Gang eines einzelnen geworden und das unbekannte Männerwesen, in das sie verstrickt war, stehe wieder bei ihr.

Aber ehe das geschehen konnte, kam ihr Vater, der, vom Felde zurückkehrend, schon von fern ihr unbewegliches, weißes Gesicht gesehen hatte, und trat zu ihr in den Garten. Was sie so still mache, fragte er, und sie, vor inneren Wirbeln, ihrer auferlegten Verschwiegenheit nicht achtend, antwortete, daß es gar nicht stille sei, denn weit draußen gehe immerfort der Schritt von vielen Menschen. Was das eigentlich zu bedeuten habe – das sei vielleicht das Gehen und Fahren der Leute, die im Walde draußen das letzte Stück der neuen Chaussee arbeiteten. – Ob man in die Welt komme auf der neuen Straße, fragte sie weiter. O ja, antwortete der Heiligenbauer und sah wegen der Leidenschaftlichkeit in ihrer Stimme dem Lenlein scharf ins Gesicht. Aber das sei ganz gleich, wohin man gehe, man komme nie weiter, als wenn man sich unter dem ersten besten Baum auf seinem Felde setze und darauf achte, was er mit seinen Blättern rede. Denn das Neue unter den Füßen sei nichts Neues in der Seele.

Als der Sintlinger das geredet hatte, merkte er, daß sein Mädchen plötzlich einen fremden, abweisenden Zug ins Gesicht bekam. Dann wandte sie sich um und schritt das Gänglein herab in die Laube. Dort setzte sie sich, die Hände in dem Schoß, auf die Bank. Denn sie hatte ihren Vater noch fragen wollen, ob es sein könne, daß einmal wer aus jener fernen Welt hier auf den Heiligenhof käme. Da aber der Sintlinger so verstiegenes Zeug geredet hatte, mochte sie nicht weiter reden, sondern saß da, enttäuscht und in eine leere, aber selige Betäubnis versunken, aus der sie ihr Vater nicht zu verscheuchen vermochte, so vieles er auch noch redete. Sie senkte nur den Kopf und hörte gar nicht auf ihn. Endlich stand sie jäh auf und sagte schneidend, sie wisse das besser. Damit ging sie davon, und es rührte sie gar nicht, daß ihr Vater betroffen und wortlos über die immer weiter fortschreitende Veränderung seines Kindes zurückblieb.

In dieser selben Zeit des Frühlings, da die ersten Vogelschwärme über den Heiligenhof strichen, spürte die alte Therese, daß es mit ihr zu Ende ging, und wie das greise Wild, wenn es kaum mehr fort kann, nur tiefer in den Wald kriecht, aus dem es geboren ist, so entstand in der verwelkenden Dienerin die unbezwingliche Sehnsucht nach dem Ort ihrer Kindheit, nach Querhoven. Was auch sollte sie auf dem Hofe noch, wo sie nichts mehr nützen konnte, sondern mit ihrem gokelnden Gekrame nur hinderte oder wenigstens im Wege war. Sie hatte für andere ihr ganzes Leben hingegeben. Nun wollte sie wenigstens den eigenen Tod sterben. Und weil ihr Wesen nie gewohnt war, die notwendigen Dinge mit bunten Seidentüchlein anzufangen, sondern mit rüstiger Hand alles ergriff, was zu tun war, so saß sie auch bei diesem letzten Geschäft nicht lange im halben Taumel in Winkeln und kochte es mit heimlichem Geflenne zurecht, sondern hatte sich in weniger als drei Tagen von allem losgeschnitten, was sie auf dem Heiligenhof hielt. Freilich, als sie vor der Heiligenhofbäuerin und Sintlinger stand, um Abschied zu nehmen, lief ihr doch das Tränensäcklein über, weil Johanna der einzige Mensch war, auf dem noch ein Widerschein der Zeit lag, in der auch sie jung gewesen war. Aber sie greinte auch hier nicht, sondern die stummen Tropfen verloren sich nur stumm in dem zerknitterten Gesicht, und die Hände kneteten bebend und krampfhaft an dem Taschentuch herum, während sie im übrigen tapfere, ja sogar spaßhafte Worte von alten Hennen sprach, denen man Zeit lassen müsse, das letzte Ei auszubrüten. »Und nun lebt wohl, Bauer und Bäuerin«, sagte sie zum Schluß und erhob sich, »ihr beide seid ja mit dem Hofe gut aufgehoben. Da hab' ich keinen Kummer. Nehmt's nicht krumm, daß ich euch alle in meinen Topf warf. Ja, und mit dem Lenlein, verlaßt euch, wird's nicht bloß wieder besser, nein, da wird's noch einmal über alles Verstehen gut. Und auch wegen des Mädchens mach ich, daß ich schnell über den Hübel hinunterkomme. Denn den einen nimmt's langsam weg, den andern macht's überm Essen sargfertig. Und wenn das Lenlein an einen Toten stoßen sollte, jetzt, wo sie über alles in der Welt stolpert, so könnte sie, wer weiß, das Drehen vielleicht noch schlimmer kriegen. Einmal freilich wird sie ja wohl noch lernen müssen, was Sterben heißt. Aber ich wenigstens will die Tür so leise hinter mir zumachen, daß sie denken soll, ich ginge geradeswegs in die grüne Wiese. Nun bin ich doch noch ins Meckern gekommen, ich alte Ziege. Also noch mal, lebt wohl und nichts für ungut. Sie ist doch droben, in der Lindenstube?«

Etwas umständlich stieg sie zu dem Lenlein hinauf, das, die Hände aufgestützt, am offenen Fenster saß und hinausträumte.

»Guten Tag, Lenlein«, sagte die alte Therese. Das Mädchen rührte sich nicht. »Guten Tag, Lenlein«, wiederholte die Greisin nach einem Weilchen. Versonnen drehte sie sich endlich um, und ihre blicklosen, großen Augen sahen lange ins Zimmer. »Ach, du bist's, Therese«, sagte sie endlich mit einem tiefen Atemzug, aus ihrer Hingebundenheit sich loslösend. »Ich soll wohl schon wieder hinunterkommen? Sage, ich mag nicht. Nein, nein.« Damit stand sie auf und begann, die Hände an steifen Armen hinter sich gefaltet, erregt die Stube hin und her zu wandern, aber mit leisen, langen, fast unhörbaren Schritten. Und während das hübelheilige Mädchen rastlos hin und her schwebte, mehr ein Falter, den es durch die Luft trägt, als ein Mensch, sprach die Greisin, was sie zu sagen hatte, daß sie ein paar Wochen nicht da sein würde, weil sie hinüber nach Querhoven zu ihres Bruders Tochter müsse, die einen Haufen Kinder habe und manchmal nicht wisse, wo ihr der Kopf stehe. Da sei sie gekommen, um adieu zu sagen und solcherlei.

Aber das Lenlein hörte nicht auf zu schreiten, sagte zu allem nichts und schwieg auch noch lange, nachdem die Alte zu sprechen aufgehört hatte.

Endlich blieb sie vor der greisen Dienerin stehen und fragte sie: »Sage mal, Therese, bin ich sehr böse?« – »Nein, Lenlein.« – »Aber ich mag doch nicht so sein wie der Vater.« – »Ach, Lenlein, liebes Mädel!« – »Du sollst nicht sagen liebes Mädel! Denn ich mag das auch nicht mehr.«

Dann begann sie wieder schwebend zu schreiten und verfiel abermals sofort in grübelndes Träumen. »Das möcht' ich. Das möcht' ich«, sagte sie dabei einige Male glückvoll und inbrünstig vor sich hin.

»Was möchtest du, Lenlein?« fragte Therese. Da blieb das Mädchen stehen und sagte leidenschaftlich: »Weißt du, ich an deiner Stelle ging nicht nach Querhoven, ich ginge weiter, viel, viel weiter! Ich ginge und ginge immerfort, ohne Aufhören ginge ich.«

Und als die Greisin darüber fröhlich lachte, wurde das hübelheilige Mädchen fast zornig und rief: »Jawohl, das kann ich dir sagen! Und ich weiß gewiß, wenn das noch lange dauert, so schrei ich einmal und lauf fort.« – »Ja, Lenlein, wohin willst du denn da?« – »Wo Wege sind, gehe ich. Einfach. Wo Menschen sind.« – »Ach, Lenlein, überall kommst du ins Leben, weiter nicht. Sollst auch nicht.« – »Gerade! Ihr denkt, ich weiß das nicht. Da gibt es Städte, die so groß sind, daß sie nicht aufhören, und Menschen mehr wie Bäume im Walde. Alle auf einem Haufen beieinander. Ja, ja!«

Darauf ging das hübelheilige Mädchen wieder ans Fenster, nahm den Kopf in die Hände und ward traurig.

Therese betrachtete sie lange mitleidig. Dann stand sie auf, legte die Hand auf ihre Schulter und sagte liebreich: »Lenlein, willst du auf mich hören?« Das Mädchen nickte stumm mit dem Kopfe. »Weißt du, ich bin eine alte Frau. Da kenn ich das auch. Das ist halt die alte Geschichte mit dem Welttürlein. Das geht bloß von draußen aufzumachen. Vom Herrgott nämlich. Durch das Türel müssen die Menschen, wenn sie ins Leben wollen und wenn sie wieder 'naus wollen. Aber auch alles, was sich der Mensch im tiefsten Herzen wünscht, kommt von da. Und wenn das, was du willst, seine Richtigkeit hat, da kommt's eines schönen Tages zu dir. Da verlaß dich auf mich, auf die alte Therese. Nu adje, Lenlein, und laß dir's gut gehen. Jetzt muß ich, muß ich aber sehen, daß ich nach Querhoven 'nüberkomm.« Das hübelheilige Mädchen war unter den Worten der Greisin ruhig geworden, wie schlafend. Sie rührte sich auch nicht, als die Alte die Stube zögernd hinging und die Tür hinter sich schloß.

Nach langem aber sprang sie auf, breitete die Arme jubelnd aus und rief: »Es wird kommen! Es wird kommen!«

Auf diese Weise wuchs ihre rätselhafte Erwartung immer höher. Das rote Licht aus dem Mittelpunkt ihres jungfräulichen Wesens verbreitete sich über alle Gebiete ihres Lebens, daß bald ihre ganze Welt loderte.

In diesen seelenheißen, entscheidungsreichsten Frühling aller ihrer Lebensjahre fiel seltsamerweise ein Ereignis, das den ganzen Duft der unirdischen Zeit ihrer Kindheit noch einmal über das Lenlein und den Heiligenhof brachte und ihres Vaters Gestalt der ganzen Gegend noch einmal in tiefem, wunderbarem Schimmer zeigte.

Es ist die rührende Geschichte mit dem Scherenschleifer Liebeneiner aus dem Dorfe Alt-Lessig im Essener Kohlengebiet.

Dort wohnte er mit seiner zahlreichen Familie in einem großen Mietshause, das wie all die anderen verrauchten, trostlosen Riesenkasten war und sich nur dadurch auszeichnete, daß es etwas abseits auf einem Hübelchen stand. Aber so konnten wenigstens Liebeneiners Kinder in einem Höfchen spielen, das immer noch besser war als die Straße, und im Winter rutschten sie tagein, tagaus auf Brettstücken oder überfrorenen Steinen, manchmal auch auf einem geliehenen richtigen Schlitten den kurzen Abhang hinunter und verübten wie die übrigen einen beträchtlichen Lärm aus lauter Fröhlichkeit, manchmal freilich auch aus Hunger, denn es wurde Liebeneiner von Jahr zu Jahr immer schwerer, sie satt zu machen. Mochte er den anderen Leuten Messer und Scheren noch so scharf schleifen, für sich selber fand er kein Schneidewerkzeug, das seine Not und Armut mitten entzwei zu säbeln imstande gewesen wäre. Und dabei hatte es sein Weib mit dem Kinderkriegen und war zudem leider noch so beschaffen, daß sie mit jedem Kinde mehr und mehr aufblühte. Schließlich aber: Mehr drehen konnte sich doch sein Schleifstein nicht, und das war ihm in alle Ewigkeit nicht beizubringen, daß bei jedem Umschwung eine Schnitte Brot von ihm abflog. Die Stube wurde mit jedem Jahr enger, und sein Weib werkte schon mit zwei Wiegen. Als das fünfte Kind geboren wurde, war bei dem Scherenschleifer von Taufschmaus keine Rede mehr. Sie nannten den kleinen Liebeneiner Silvester, um dem Herrgott damit einen Wink zu geben, daß es der letzte sein möge, weil es ihnen mit dem Durchkommen schon gar zu schwer wurde. Vater und Mutter aber gaben sich das Versprechen, der Liebe so lange zu entsagen, bis für den Storch des Scherenschleifers Liebeneiner Tür in Vergessenheit geraten sei, und sie machten damit auch sofort Ernst, indem der Mann schon an demselben Abend mit dem wenigen Schlafkram in die Kammer unters Dach zog. Also stand der feste Wille eigentlich mehr auf der Seite Liebeneiners.

Der merkte freilich nach kurzer Zeit, daß es sich mit einem Vorsatz hinterher schwerer umgeht als vorher. Aber er hielt es tapfer eine ganze Woche in seinem freiwilligen Nachtgefängnis aus, und wenn ihn die Sehnsucht nach seinem Weib zu sehr hernahm, fing er mitten in der Nacht an zu singen, und damit es die Leute im Hause nicht hörten, kroch er dabei mit dem Kopfe unters Bett und sang mehr in sich hinein. Das half wohl einen und den andern Tag. Aber dann wurde es eher schlimmer als besser. Die Lieder schlugen ins Blut, und schließlich fingen gar in einer Nacht die Bretter seines Verschlages lichterloh zu glühen an. Deswegen richtete er sich des andern Tages entschlossen seine fliegende Werkstatt her und fuhr mit Sausen davon. Er fuhr ohne Absetzen, als sei jemand hinter ihm, der ihn verhaften wolle, und ruhte nicht eher, bis er in ein entferntes Dorf kam, wo man Alt-Lessig nur vom Hörensagen kannte. Dort goß er Wasser in den Schleifkasten und fing an loszuschnurren. Als aber der Sonnabend herankam, koppelte sich unversehens sein Schleifwäglein an sein Herz. Er drehte die Deichsel herum und begann, aus einem lachenden Traum heraus, das Gefährt heimwärts zu schieben. Aber mitten auf dem Felde ermannte sich sein Schutzengel und riß ihm die Rosenschleier, die dichter und dichter vor seine Augen sanken, entzwei, daß er sich seines Versprechens erinnerte und sein liebes Weib sah, das dann wieder neun Monate schwer und verzweifelt umhergehen mußte. Darum ließ er den Wagen auf der gotteseinsamen Straße stehen, setzte sich auf einen Stein und fing an, seinen Wochenerlös zu zählen. Dabei erkannte er nun freilich gar bald die Narretei, die er zu begehen im Begriff gewesen war. Er mochte hin und her rechnen, es blieb, wie es immer gewesen war: Er mußte jeden Pfennig siebenmal spalten, und kam ein neues Maul dazu, so langte es kaum, jedes Kröpflein mit Luft zu stopfen. Also stand er auf, drehte seine Werkstatt wieder und fuhr noch weiter ins Land hinaus.

So kam es, daß er oft sechs Wochen umherkutschierte, und wenn er zu Hause anlangte, war sein Bart bis zum letzten Westenknopf gewachsen, und seine Kinder erkannten ihn nicht eher als ihren Vater, bis er die Semmeln aus dem kleinen Almerkästchen nahm und jedem eine in den Mund stopfte. Aber sein blühendes Weib, der er das beste und größte Stück des Weißzeuges mitbrachte, faßte ihn erst herzhaft um den Hals, schluchzte ein Gesetzlein, daß er solange fortgewesen, und verwünschte ihre Armut, die ihr nicht erlaubte, den Mann da zu haben, wo er hingehörte, neben sich. Dann erst langte sie nach der Mitbringe und verzehrte sie langsam.

Einmal aber beim Fortgehen drängte sie sich so inbrünstig in ihn, als wollte sie durch den Leib des Mannes aus der Welt hinausfahren, und beinahe wäre es über den Scherenschleifer gekommen, daß er sie beiseite geführt und ihr ein heißes Gesänglein aufgespielt hätte. Die Luft in der Stube fing schon zu flimmern an wie ein Loderofen. Allein, Liebeneiner faßte sich doch, trat an die Tür, machte die Hand zur Faust und fuhr damit in einem energischen Reißen an der Füllung hinunter, daß ihm das Blut aus den Knöcheln sprang. »So, das wäre geschafft«, sagte er erleichtert und trat zurück.

»Was hast du denn da gemacht?« fragte ihn seine Frau, die neben ihm stand und immer noch nichts als wogender Atem war.

»Den Feuerstrich hab' ich weggelöscht«, antwortete er lächelnd, ging schnell hinaus, faßte die Deichsel seines Schleifwägleins und rasselte laufend über das Berglein hinunter. Hätte Liebeneiner gewußt, wie es mit seiner Frau beschaffen war, diesmal würde er anders gehandelt haben. So aber blieb er noch dazu volle acht Wochen fort und kam nahe bis ans Holländische hinauf, daß er schon die Holzschuhe der Flamen klappern hörte. Sein Weib saß indes zu Hause und jeden Augenblick, den sie nicht von der Arbeit gejagt wurde, verbrachte sie am Fenster und sah den fallenden Gang hinunter, bis auf die Straße, auf der ihr Mann von ihr gegangen war, und wenn ein Mann auftauchte, der sich dem Hause näherte, erschrak sie und wurde puterrot vor Freude, weil sie meinte, es sei ihr Konstantin, den die Liebe unversehens gepackt und heimwärts getrieben habe. Dies Erbleichen und Verglühen des jungen Weibes war keine drei-, viermal geschehen, so spürte es der und der unter den Männern des Hauses, in dem die Liebeneinern saß und wartete, daß da ein Feuer brenne, an dem sich vielleicht schmieden lasse. Und der Wirt kam, saß betulich in der Stube, redete mancherlei und erkundigte sich zum Schluß, ob nichts anzurichten sei. Der Milchmann goß ihr anderthalben für einen Liter in den Krug. Die jungen Bergleute kämmten sich die Haare noch kecker in die Stirn, lachten ihr glücklich in die Stube, und wo sie nur konnten, faßten sie nach ihren vollen Armen.

Nicht lange, und vor der jungen Frau drehte sich die ganze Welt als buntes, sprühendes Rad. Sie ging in seligem Taumeln umher, und zuletzt wurde das heiße Kreisen so stark in ihr, daß von all dem schwärmenden Geziefer es einem gelang, den Schelmenhonig bei ihr abzusetzen.

Konstantin Liebeneiner fuhr rastlos von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, und sein Beutel schluckte sich so voll von Nickel- und Silberstücken, daß er nahe am Bersten war. Da meinte er, nun sei es endlich an der Zeit, nachzusehen, wie es zu Hause in Alt-Lessig stünde. Und wahrend er heimfuhr, überlegte er, wenn es ihn diesmal nähme und über die beiden Berglein weiterführte, so wolle er nicht mehr bremsen. Diese Aussicht machte ihn so lustig, daß er mit seinem Schleifwäglein lief wie ein Junge, und sowie er auf freiem Felde war, sang er mit den Vögeln um die Wette.

Als er dann endlich in Alt-Lessig von der Straße in den Gang abbog, der über das Hübelchen zu dem Hause führte, in dem er wohnte, traf er alles, wie er es in seinem beglückten Gedächtnis trug, und sah sein Weib am Fenster sitzen, das Haupt sehnsüchtig an die Scheiben gelehnt. Allein, da sie seiner ansichtig wurde, erbleichte sie, fuhr wie gestochen zurück, und es war ihm gerade, als risse es ihr die Arme in die Luft und knüpfe sie über dem Kopfe zusammen. So sah er sie wie in das Dunkel der Stube zurückfallen.

Liebeneiner hielt dieses Erschrecken und Auffahren für den Ausdruck weiblicher Freude, die fast ans Verzweifeln gesteigert ist, rückte eilig seinen Wagen quer, daß er nicht allein wieder über den Hübet absause, raffte schnell Geldsäcklein und Mitbringe an sich und eilte mit dem frohen Gedanken ins Haus, daß seiner heut ein besonders glückliches Geschäft harre; denn einen Trauernden fröhlich zu machen, bedeutet den seligsten Menschenhandel, zumal wenn es das eigene Weib ist. Aber da er mit lachendem Gruß in die Stube stürmte, sah er seine Frau im Finstern sitzen, auf einem Stuhl, im finstersten Winkel, gegen die Wand gekehrt, den Kopf auf die Brust geneigt wie eine zum Tode Verurteilte, und sie gab keinen Laut und rückte sich nicht.

Da dachte der Scherenschleifer: Oho, hat mein Weib die Mucken gekriegt, während ich fort war, so will ich's ihr schon recht machen, daß sie nicht nur ins Lachen, nein, ins pure Jubeln hinaufspringt.

Er warf also Geld und Semmeln auf den Tisch, faßte sie um den Leib, schwenkte sie in die Luft, und indem er sie lustig durch und durch rüttelte, rief er ein übers andere Mal: »Holla, Christel, wach' auf!« Aber bald spürte er, daß er da einen Menschen und nicht sein Weib, und nicht einen Menschen, sondern einen Stein in den Händen halte, wurde weiß bis ins Augenhäutchen hinein und kalt bis zum Zehennagel hinunter, ließ sie behutsam auf den Stuhl gleiten und brachte lange aus Furcht leinen Laut hervor. Da er sich dann aber faßte und ins Reden kam, wurde es ihm etwas leichter. Seine Frau aber blieb, wie er sie getroffen hatte: gegen die Wand gekehrt, zusammengerutscht, lautlos. Endlich geriet er von seinem lustigen Gepolter und dem spaßigen Hämischtun ab und fühlte, daß es ihm jetzt die rechte, liebreich-gütige Rede in den Mund schob. Kaum aber, daß ihm das erste liebe Wort gediehen war, schrie sein Weib auf, warf sich vor seinen Füßen zu Boden und bekannte ihm unter Schluchzen alles, was in seiner Abwesenheit mit ihr geschehen sei.

Liebeneiner stand lange wie vom Blitze getroffen und rührte sich nicht. Als aber seine Knie anfingen zu zittern, machte er sich mit übermenschlicher Kraft stark, sagte leise, daß er wiederkomme, ließ die Gefallene liegen, Semmeln und Geld auf dem Tische und machte sich so behutsam mit seinem Wäglein davon, als stecke er bloß in einem albischen Traum und nicht in einer furchtbaren Welt.

Er fuhr diesen selben Nachmittag und die ganze Nacht ohne Auf- und Umsehen, ohne Denken, fast ohne Herzschlag, und als er gegen Morgen vor einem Dorfe an den Grabenrand sank, hatte er gerade noch so viel Kraft, die Welt mit einem Pfeifen davonsausen zu sehen. Dann verfiel er in einen Schlaf, als sterbe er.

Beim Erwachen fand er sich in einem Bett, und eine Menge Leute standen um ihn und betrachteten ihn mit erschreckten und mitleidigen Gesichtern. Um ihnen und sich selber Mut zu machen, fing er an, aus vollem Halse zu lachen, daß die Leute vor Grauen davonliefen bis auf ein altes Weib, das es aber auch nicht anders ertrug, als daß sie sich die Ohren zuhielt und wegsah. Liebeneiner war bei seinem ganzen Gelächter selber nicht wohl. Er hatte das Gefühl, sein Gesicht friere ihm ein,, und als er endlich aufhören konnte, liefen ihm wie dem alten Weibe die Tränen über die Wangen.

Aber damit hatte er auch den Krampf zerbrochen, und er stand auf, ging in den Hof und sah sich nach seinem Wäglein um. Als er es endlich fand, war es ihm, seit er es auf der Straße vor dem Dorfe hatte stehenlassen müssen, weil ihm die ganze Welt wie ein Pfiff davongefahren war, seien zehn Jahre vergangen und nicht drei Tage, wie die Leute ihm versicherten, die dabei standen und über den Scherenschleifer den Kopf schüttelten, der noch vor ein paar Stunden im Schreifieber gelegen hatte und nun darauf bestand, davonzufahren, obwohl er doch noch baumelte wie sein hängender Strick am Wagen. Als er aber einige Bemerkungen über seine Not machte, glaubten sie vollends, das Schicksal seines Gewerbes sei vorzeitig über ihn gekommen, wichen von ihm zurück und ließen ihn davonfahren. Denn nach der Ansicht der Leute werden alle Scherenschleifer im Alter so sicher verdreht, wie alle Schornsteinfeger als Trinker sterben.

Sie sahen den armen Liebeneiner die Straße hinabtaumeln, so, als solle er bei jedem Schritt stolpern und hinschlagen, waren tief ergriffen und atmeten doch erleichtert auf, als sie ihn endlich aus den Augen verloren hatten.

Da war nun Liebeneiner mit sich, seiner Not und seinem Herrgott wieder allein auf der Welt und wußte nicht, was anfangen, ob er sein Herz mit der rechten Hand erdrossele oder mit der linken wegwerfe, oder ob ihm nicht anders zu helfen sei, als daß er sein und der Seinen Leben wie Spülwasser durch Kehrichthaufen sich bergab schlämmen und in der Moderlache eines Straßengrabens verfaulen lasse.

Wen er auch von ferne um Rat fragen mochte, kaute die Zunge auf dem hohlen Zahn, ruckte die Schultern und spielte sich verlegen um die erste beste Ecke, und was er als Antwort zurückließ, war bei genauem Zusehen so viel wert wie ein Otterei, ohne Schale, ohne Weißes und ohne Dotter, und was Lebendiges drin war, schmeckte wie Gift. So schleifte sich Liebeneiner von Dorf zu Dorf und gab gar nicht acht, wo er hingeriet in der Welt.

Und als er in Hiesfeld, fünf oder sechs Stunden weit von Hemsterhus, angekommen war, viele Tagereisen von zu Hause entfernt, stand es um den Scherenschleifer so, daß er von niemand auf der Erde mehr einen Rat verlangte, sondern zufrieden sein wollte, träfe er nur irgendwo ein Herz, das noch genau so lautete, wie es einst vom Herrgott bei der Geburt eingehängt worden war, oder er sähe in zwei Augen, die noch nie von einem argen Schatten versehrt worden wären. Denn sr hatte das unbeschreibliche Gefühl, daß sich während des wochenlangen Irrlaufens alles von selber in ihm zurechtgewachsen habe. Er traute sich nur nicht die reine Hand, das seine Gefühl und das mutige Denken zu, dies fertige Neue aus der tiefsten Seelenheimlichkeit unverletzt in sein Leben zu heben.

Mit solcherlei Gedanken faß er am ersten Abend im Hiesfelder Gasthause und verzehrte am hintersten Tisch seine kargen Bissen. Es schimmerte schon tief ins Dämmern hinein, und außer ihm war nur ein greises Weiblein da, die im Dunkel mehr wie eine Kugel aussah, so fett war sie. Sie klapperte gleich ihm selber vorsichtig mit dem Eßgerät, wie es die Art vom Unglück gedemütigter Menschen ist, redete nicht, und er hörte sie kaum atmen. Da dachte Liebeneiner: Aha, das ist wohl auch eine, der das Leben alles verschüttet hat. Und weil er bald darauf eine Zupfgeige sah, die ihr gehörte, wurde er in dieser Ansicht noch bestärkt, denn die für Geld und vor den Leuten singen, weinen allemal, sobald sie allein sind. Und da nach einigen Augenblicken die Wirtin hereinkam, sich zu dem Weiblein setzte und vertraut mit ihr zu reden begann, spitzte der Scherenschleifer die Ohren, um herauszubekommen, an welchem geheimen Schaden das Gitarrenweib eigentlich leide. Das fette Weiblein war niemand als die Schwerdtnerin; aber Liebeneiner kannte sie noch nicht.

Darum dauerte es nicht lange, und die alte Straßensängerin redete von dem großen Wunder, das sie erfahren hatte, wie sie durch das hübelheilige Sintlingerlenlein zu Hemsterhus von ihrem Trunk und von ihrer Verzweiflung geheilt worden sei und zu allem eine Stimme, eine überirdische Stimme erhalten habe, die heute noch genau so jung klinge wie vor zehn Jahren, und die sie sicher nicht verlasse, und sollten ihr vom Alter auch alle Haare ausgehen. Denn was der Herrgott durch einen Engel schicke, ändere sich nie, und daß das Sintlingerlenlein auf dem Hübet bei Hemsterhus kein Mensch, sondern ein Engel sei, das wisse man hundert Meilen weit in der Runde. Und zur Erhärtung des Mirakels, das an ihr geschehen, erzählte sie noch andere wunderwürdige Heilstaten des Heiligenlenleins: die Geschichte mit dem Meixner-Gottlieb, der schönen Ursula in der Wuhle und viele andere.

Liebeneiner hörte die Erzählungen der Schwerdtnerin gar nicht zu Ende, stand leise auf und schlich im Dunkel aus der Stube zu seinem Wäglein unter dem Schuppendache. Denn mit einem Lichtblasen war es ihm in die Seele gefahren: Wenn ihm jemand in seinem Leben Hilfe bringen konnte, so war es nur das Sintlingerlenlein, von der er eben das unbekannte Weib hatte sprechen hören. Und ehe es noch ganz Morgen geworden war, klapperte er mit seiner Werkstatt aus dem kleinen Höfchen des Gasthauses zu Hiesfeld. Die Glocke zu Hemsterhus läutete gerade den Mittag ein, als der Scherenschleifer auf der neuen Straße in das Tälchen einbog, das zwischen den Hügeln zieht, auf denen die beiden Fremdhöfe lagen, links der Brindeisenerhof, rechts der Hof des Sintlingers. Und er wußte nicht welches von den beiden der Heiligenhof sei. Aber er hatte nicht lange auf dem Almerkästchen seines Wagens unentschieden an der Stelle der Straße gesessen, wo die Zufahrtswege, der eine da, der andere dort hinaufgeht, so war der Zweifel in ihm geschlichtet, denn der Hof links, finster und halb verfallen, mehr ein riesenhafter Moderhaufen, mit halb blinden, grämlichen Fenstern, schiefen Toren und verwichtelten Gartenbäumen, konnte nun und nimmer der Ort sein, wo ein Herz ungestört in den Herrgottsfrieden hineinzuwachsen imstande war.

Er wartete nur, bis das Glöcklein auf dem Heiligenhofe seine Mittagsstimme erheben würde, weil er als kindhafter Mann dachte, wenn ihm auf dem Hofe droben Hohes geschehen sollte, so müsse er auch hoch gerufen werden. Aber das Glöckchen hing und schwieg und schwieg und hing, bis er sah, daß es gar keinen Strick zum Läuten hatte. Da lachte er über sich, wie dumm er doch sei, nicht zu wissen, daß jemand keine Klingel brauche, der inwendig voll seliger Stimmen sei. Damit erhob er sich guten Mutes und zog sein Wäglein den Hübe! hinauf. Als er durchs Tor in den Hof kutschierte, kam das Gesinde eben aus der Tür des Wohnhauses vom Essen, und die Knechte und Mägde waren bald um ihn, fragten spaßhaft, wo er den Dampf zu seiner Maschine habe und ob er wie alle Schleifer die Messer verbrenne, damit sie niemals mehr scharf würden und er immer zu tun habe. Liebeneiner gab die Späße auf lustige Art zurück und musterte indessen die Gesichter aller, besonders der Mägde, ob vielleicht eine von ihnen das Wesen sei, auf die er seine verborgenen Hoffnungen gerichtet hatte. Aber obgleich keines ein Hudelgesicht, versteckte Augen und eine widrige Art hatte, so ging ihm doch bei keinem das Herz auf. Zuletzt erschien die Heiligenhofbäuerin, grüßte ihn freundlich, fragte ihn nach seiner Heimat, wie es komme, daß er gar so weit in die Welt streife, und mancherlei. Und Liebeneiner gab auf alles in seiner einfachen Art Bescheid, konnte aber nicht verhindern, daß ihm bei den Worten von seiner Heimat die Stimme etwas gedrückt geriet und ein wehes Erbleichen über sein Gesicht ging. Von seiner Frau sagte er, sie leide schwer, und niemand wisse, was eigentlich mit ihr sei. Und wenn er die Ehre haben sollte, alles Schneidewerkzeug auf dem Hofe in Ordnung zu bringen, so bäte er, draußen unter den Linden schleifen zu dürfen, weil er doch hier nur im Wege stünde, draußen im Baumschatten aber ginge alles viel besser.

Aus Betretenheit übernahm sich Liebeneiner etwas mit Reden, und die Sintlingerin schmunzelte gütig zu seiner kuriosen Art, besonders über die verschnörkelte Liebenswürdigkeit, mit der er ihr zum Schluß versicherte, »die Nähscheren der geehrten Frau und des Fräuleins als Zugabe umsonst und besonders schön zu schleifen«, ließ ihn mit seiner Werkstatt unter die Linden ziehn und schickte ihm durch eine Magd einen tüchtigen Pack Arbeit und einen Topf Essen hinaus, damit er sich vorher stärke.

Nicht lange, so fauste und pfiff Liebeneiners Schleifstein, daß das Wasser flog und die Funken spritzten, aber den Scherenschleifer umdüsterte es mehr und mehr, ob die Lindenkronen noch so weiches Licht durch des Frühjahrs junge Blätter fallen ließen, und ob ihm jeder Blick, den er von der Arbeit weghob, ein felderbuntes, weites Hügelgewoge der besonnten Erde schenkte; denn vor dieser gütigen Bäuerin, die so frisch und fest in dem reichen Hofe schaffte, fühlte er den Fehltritt seiner Frau wieder bitterer wie je und fürchtete, wohl nie von Armut und Niedrigkeit loszukommen. Und das nahm, wie die Sonne tiefer und tiefer rückte, noch fortwährend zu, denn die, wegen der er so weither auf den Hof gekommen war, ließ sich nicht sehen. Und so würde ihm wohl nichts übrigbleiben, als am Abend mit seiner alten Schmerzensbürde und der Hoffnungslosigkeit dazu wieder davonzufahren.

Wenn es aber so ist, dachte Liebeneiner vergrämt, dann hat alles, was ich jetzt trage, schon mit mir in der Wiege gelegen.

Dieser Gedanke packte ihn so, daß er vor Schrecken nicht mehr weitertreten konnte. Der Sinn stand still, und Liebeneiner richtete sich schwer auf, um in den Himmel zu sehen, ob das denn wirklich sein Schicksal sei.

Aber als er die Augen hob, sah er das Heiligenhoflenlein vor sich. Sie hatte ein blaues Kleid an, saß auf dem Bänklein neben dem Kreuz, hielt eine goldgelbe Schmirgelblume in den Händen und schaute mit ihren blicklosen, großen Himmelslaugen unverwandt auf ihn. Dieses Schauen, das nicht von der Erde und nicht von einem Menschen kam, ging dem Armen durch und durch.

Allein, fast zum Hinfallen war es, als das Lenlein jetzt zu ihm sprach.

»Du, Scherenschleifer«, sagte sie mit leiser Stimme, »warum ist es finster um dich?«

Liebeneiner konnte vor einem Wallen in der Brust nicht antworten.

Das Lenlein senkte das Gesicht und strich mit der Hand über die Blume und wartete.

»Fräulein ...«, brachte Liebeneiner endlich stotternd hervor; aber mehr wurde nicht. Nur ein ehrfürchtiges, ringendes Atmen ging noch von ihm zu ihr.

Aber das Lenlein schüttelte wegen des Tones, in dem er sprach, den Kopf.

»Nein, laß sein«, sagte sie. »Ich weiß schon alles von dir. Die Mutter hat es mir gesagt, und ich sage auch: Laß gut sein. Du fährst davon, und alles wird wieder gut. Ich weiß es, alles Schöne kommt zu dem Menschen. Und wenn es auch lange dauert.«

Das sagte das Heiligenhoflenlein, denn sie schwebte noch in der seligen Erwartung, in die sie der Trost der alten Therese gehoben hatte.

Dann stand sie auf, ließ die goldene Blume fallen, hob ein wenig die Arme und sagte in leidenschaftlicher Inbrunst: »Es wird sich erfüllen!«

Liebeneiner, der nicht wußte, wie es um das Lenlein stand, glaubte nicht anders, als das hübelheilige Mädchen beschwöre sein Unglück, und er fühlte mit einem Male die Mauer in seiner Brust zerbrechen. Das tat so weh, daß er begann, seinen Stein schneller und schneller zu drehen, und wenn er auf Helene sah, die sich wieder auf das Bänklein gesetzt hatte, war er weder unglücklich noch arm, hatte keine hungernden Kinder zu Hause, war kein betrogener Mann und sein Weib nicht anders befleckt als von einem wüsten Traum, der sie ungerufen, wie im Schlafe überfallen hatte.

In diesem Augenblicke war das sonnenhafte Neue, das er sich nicht getraut hatte, aus seiner Seelenheimlichkeit heraufzuheben, wahrhaftig in sein Leben getreten. All die finsteren Bürden von Schmerz und Gram, die er seit Wochen getragen, waren verschwunden, und er fing an, das Lied zu singen, das die Tür der Jugend für immer zumacht und zugleich das Leben für immer segnet mit aller vergangenen, aber unverwelklichen Seligkeit:

»Schön ist das Leben bei frohen Zeiten,
schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.
Drum sag' ich's noch einmal: Schön sind die Jugendjahr',
schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.«

Liebeneiner hatte eine ungeübte Stimme, denn seit langen Jahren war er nur dazu gekommen, seinen Schleifstein singen zu lassen. Er sang, als habe er einen Wattebausch im Munde, daß die Töne verschwommen, wie hinter einem Walde, aus weiter Ferne her klangen. Aber das gerade bewegte neben der Schönheit der Melodie das hübelheilige Mädchen so, als höre sie nicht den Scherenschleifer singen, sondern als beginne alle Pracht ihrer unfaßbaren Erwartung tönend aus der weiten Welt zu blühen.

Besonders ergriffen sie die Worte: »Und aus den Reben quillt edler Wein.«

Darum, als Liebeneiner geendet hatte, bat ihn Helene, das Lied noch einmal zu singen.

Am Ende mußte ihr der Scherenschleifer von seinen vielen Kreuz- und Querfahrten durch die Welt erzählen, und vor den Augen des schönen Mädchens spürte Liebeneiner, was für ein ausnehmend herrliches Gewerbe ihm doch beschert worden. Seine Dörfer wurden zu blühenden Städten, und die Stadtnester, in die er gekommen war, standen wie Paradiese auf der Welt. Und als er endlich schied, war er der glücklichste Mensch auf Erden. Er fuhr in das Abendrot wie in einen neuen Morgen hinein. Das Geklapper seines Wagens deuchte ihm ein immerwährendes Lied, und er bestaunte in einem fort das Wunder, durch das er in- und auswendig neugeboren war.

Das Sintlingerlenlein aber saß noch eine Weile in dem Segen, den sie dem Scherenschleifer geschenkt und als ein reicheres Geschenk zurückerhalten hatte, und in ihrem Träumen wurde der Besuch Liebeneiners zu einer märchenhaften Botschaft aus der neuen Welt, in die sie von ihrer Sehnsucht getrieben wurde.

In diesem glückvollen Verlorensein traf der Heiligenbauer sein Töchterchen unter den Linden, und das erstemal wieder nach so langer, wirrer, dunkler Zeit blühte ihm ihre Seele in dem alten, unwirklichen Zauber entgegen. Aber sie redete nicht mehr von verwunschenem Streifen durchs Feld, von geheimnisvollen, tiefsinnigen Berückungen, die sie von Blumen und Bächen, von dem einsamen Himmel und dem Rätsel in den Menschen erlebt hatte, sondern schwelgte von den Wundern, die auf sie warteten, wenn sie einmal von dem Hofe hinab- und in alle Welt hineinführe.

Der Sintlinger störte sie nicht mit seinen Zweifeln, sondern ließ sie in alle bunten Einbildungen hinausschwärmen und versprach ihr sogar, einst mit ihr davonzureisen, so weit in die Welt hinaus, daß man gar nicht mehr in Gedanken auf den Hof zurückkäme. Helene lachte glücklich wie ein Kind über diese Aussicht und bedeckte das Gesicht ihres Vaters mit leidenschaftlichen Küssen. Aber als der Heiligenbauer sie in die Stube geführt hatte, kehrte er an den Ort zurück, an dem er mit Helene gesprochen hatte. Und da er einige Augenblicke einsam auf dem Bänklein gesessen, tönten ihm seine eigenen Worte zu Helene tiefer aus der Seele wider: »Dann reisen wir beide so weit in die Welt, daß wir auch nicht mehr in Gedanken auf diesen Hof hier zurückfinden.«

Doch nun klangen sie ihm wie eine schicksalsschwere Drohung.

Sind wir nicht schon weit genug fort, mein liebes Lenlein? sann er für sich hin. Dann fühlte er sich von der Bank emporgerissen und begann den Hübel hinunterzueilen, dem Scherenschleifer nach, um sich den Mann anzusehen, der ihm sein Kind wieder ein Stück fortgelockt hatte. Er irrte auf den Wiesen zwischen Querhoven und Hemsterhus umher, schlich auch um die Schenke dieses Ortes, traf den Mann aber nirgends und kehrte im Finstern wieder auf den Hof zurück.

Auf seinem Zimmer zündete er ein Licht an und las noch lange in den Aufzeichnungen seines Lebens. Aber es glückte ihm auch heut nicht, in seine hohe Welt zurückzufinden. Seim tiefsten Erkenntnisse erschienen ihm teils belanglos, teils fremd, teils unverständlich. Wenn das so fortgeht, wird mir ja bei lebendigem Leibe das Hirn aus dem Kopf und die Seele aus der Brust genommen, dachte er.

Dann stand er auf, schlich leise an die Tür Helenens und lauschte lange, um wenigstens ihren Atem zu hören.

Aber er vernahm nichts als das Knacken und Knistern des großen schlafenden Hauses, ging zurück und sank benommen in schweren Schlaf.

*

Das Dämmerirren, das den Heiligenbauer an diesem Abend über die wiesige Flur zwischen Querhoven und Hemsterhus dem davongefahrenen Scherenschleifer nachtrieb, wurde die Veranlassung zu dem Gerücht, der Herner Rebell Franz Faber sei auf dem Heiligenhof gewesen.

Das kam so: In der Zeit, von der hier die Rede ist, befand sich der Kaufmann Stenzel aus Dingden auf einer Wanderung in die Dörfer der Umgegend, um bei den kleinen Krämern, die von ihm die wenigen Schnittwaren bezogen, die fälligen Gelder einzukassieren. An demselben Abend verließ er schon nach dem Eindunkeln Querhoven auf dem Wiesenwege, der fast schnurgerade nach Hemsterhus läuft. Als er so, vor sich hinrechnend, durchs Grüne ging, hörte er auf der nicht allzuweit abgelegenen Straße einen Mann hinter sich laufen, von dem er hätte denken können, er wolle ihn einholen, wenn er auf dem Wiesenwege ihm nachgeprescht wäre. So aber kümmerte er sich um das eilige Laufen des Fremden nicht weiter und scherte sich auch nicht im mindesten, als er hörte, daß ihm mit abgetriebener Stimme unausgesetzt nachgerufen wurde.

»He, holla, he!« klang es, und dann wieder war es Stenzel, als rufe der andere: »Herr Faber, he!«, den Namen, der damals wieder durch alle Zeitungen ging, und als er das erst einmal zu hören geglaubt hatte, hörte er es dann wirklich. Und ärgerlich über die Störung nicht weniger als darüber, mit einem Rebellen verwechselt zu werden, sagte er zu sich: »Ei was! ich seh nicht ein, warum Stenzel stehenbleiben soll, wenn Faber gerufen wird. Platz' dir meinetwegen den Halskragen!« Und ohne sich umzudrehen, tat er zu seinen langen Schritten eher noch etwas dazu. Endlich aber, weil das Gerufe des Nacheilenden den Großkrämer gar nicht zu seinem rechnerischen Kopfhandel kommen ließ, blieb er doch stehen und kehrte sich dem Fremden zu, der eben im Begriff war, über den Graben zu springen und quer über die Wiese auf ihn zuzukommen. Allein, kaum hatte der Heranbringende den Handelsmann nur einen kurzen Augenblick gemustert, so bat er mit Handwinken und Rufen um Entschuldigung, lüftete grüßend die Mütze, machte reißend kehrt und ging, wie es Stenzel schien, in der Richtung auf die Fremdhöfe zu davon. Als der Dingdener Kaufmann bald nachher ins Hemsterhuser Gasthaus kam, erzählte er diesen Vorfall und schilderte den, der ihn so hartnäckig verfolgt hatte, als einen kleinen, sehnigen Mann mit bartlosem Gesicht. Und während er noch im Sprechen war, trat einer herein und sagte, er habe eben den Heiligenbauer an der Schenke wie einen vorübergehen sehen, der jemand suche. Sofort waren alle einig, daß der, der dem Kaufmann zugerufen habe, niemand anders als der Heiligenbauer gewesen sei, rannten hinaus und hielten Umschau nach ihm aus, konnten ihn aber nirgends mehr entdecken. Die aber, die das Gras wachsen hören, meinten, wenn der Sintlinger den Faber-Rebellen erwartet habe, müsse er sich doch vorher bei ihm angemeldet haben, und sei das geschehen, so werde er auch sicher gekommen sein, wenn auch nicht an dem nämlichen Abend, da der Dingdener Stenzel von dem Heiligenbauer angerufen worden war. Daß sich daran ein Rattenknäuel abenteuerlicher Vermutungen knüpfte, versteht sich von selbst, zumal in jener Zeit irgendwer irgendwo auch den Niemand-Alb gesehen haben wollte, der seit Jahren auf dem Hemsterhuser Kirchhof begraben lag. Nachdem sich aber dieser bunte, wirre Schaum gesetzt hatte, blieb in den Köpfen aller die Überzeugung zurück, der Heiligenbauer stecke von jeher mit dem Faber-Rebellen unter einer Decke, und alle Weisheit seines Kopfes und seines Lebens habe er nur von diesem unheimlichen Allesstürzer, dessen Befehlen er unverweigerlich gehorchen müsse, weil er mit der gleichen Teufelssalbe eingeschmiert sei. So merkwürdig das auch die geheimnisvolle Kraft des Volkes erweist, dem Sinn verborgener Zusammenhänge ahnungsvoll auf die Spur zu kommen, so sicher irrte sich das Gerücht über den Besuch Fabers bei dem Heiligenbauer in jener Zeit. Denn dieser Mann, den seine Anhänger den neuen Heiland, die Massen aber den Rebellen nannten, saß damals in einem Berliner Gefängnis hinter Schloß und Riegel, weil er zugunsten einer armen Frau Zeugnis abgegeben hatte, deren alter, gebrechlicher Mann während des großen Moabiter Krawalls beim Überschreiten des Fahrdamms von den Schutzleuten mit dem Säbel niedergeschlagen worden war, daß bald darauf sein Tod eintrat. Faber, der sich gegen die wild gewordene Sicherheitsmannschaft des Alten angenommen hatte, war dabei selbst lebensgefährlich an der Stirn verwundet worden und saß nun im Gewahrsam, weil das Gericht versuchte, ihn zu einem der Hauptanstifter dieses ärgerlichen Aufruhrs zu stempeln.

Den Heiligenbauer störte dies nahe und ferne Brodeln, das ihn umschäumte, wenig, höchstens, daß es ein Verfinstern mißmutiger, ja geringschätziger Gleichgültigkeit in sein Gesicht furchte, wenn man ihm wieder eine neue Geschichte zutrug, die sein Leben mit diesem Menschen verflocht, den er als eine verderbliche Macht innerlich von sich stieß.

Doch da er eines Tages gar unter Kreuzband eine Nummer der »Vossischen Zeitung« erhielt, die, blau angestrichen, den Prozeß der Witwe Hermann (so hieß die Frau, für deren Recht Faber eingetreten war) enthielt, musterte der Sintlinger erst unwillig die Adresse, weil sie von weiblicher Hand herrührte, überflog halb zerstreut den Artikel und brach endlich in höhnisches Auflachen aus, als der Berichterstatter zur Charakterisierung Fabers eine Stelle aus einer seiner Reden anführte. Voll grimmiger, fast zorniger Belustigung las er die Worte, welche lauteten: »In jedem Augenblick, den sie leben, mit jedem Worte, das Männer sprechen, können sie die Revision und Revolution des Staates herbeiführen, dem sie angehören, und zwar einfach dadurch, daß sie selbstlos ihre Interessen fördern, ohne Eitelkeit stolz, ohne Würdelosigkeit bescheiden, ohne Hinterhältigkeit wahr, ohne Berechnung gütig sind, königlich wie ein Kind und einfach wie ein Herrscher, dessen unbestreitbare Macht ihre Hervorkehrung verbietet. Wenn jemand die Revolution, d.h. eine Umwandlung zum Bessern will, wahrhaftig will, hier muß er damit, und zwar bei sich beginnen. Denn Zustände der Seele müssen die Ordnung des Staates herbeiführen, nicht umgekehrt. Wer Freiheit nur durch Ordnung der Einrichtungen erzielen will und denkt, die innere Freiheit des einzelnen sei damit geschaffen, der handelt wie einer, der ein Haus baut für einen Menschen, der noch nicht geboren ist, der einen ungefangenen Fisch bratet und der das Siegesfest einer noch zu durchkämpfenden Schlacht feiert.«

Als der Heiligenbauer das gelesen hatte, packte ihn eine solche Aufregung, daß er das Blatt in kleine Schnitzel zerriß und mit den Worten vor den Ofen warf: »Schwätzer, elender Schwätzer! So halt das Maul und lebe.«

Dann spuckte er noch zornig auf das Häufchen Papier, und als Johanna nach dem Grunde seines fessellosen Ausbruches fragte, antwortete er mit bleichem Gesicht und bebenden Worten: »Nichts hat es, Weib! Ich speie auf das Gericht eines Narren. Das ist alles.«

Damit ging er aus der Stube und schmetterte die Tür hinter sich zu.


 << zurück weiter >>