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Neuntes Kapitel

Johanna war tatsächlich unter die Räder von Geisterwagen geraten, vor denen sie der Sintlinger so früh gewarnt hatte. Sie besaß keine Gewalt mehr über ihre Gemütskräfte, die in heillose Unordnung geraten waren. Der Tod ihres Vaters hatte eine Kluft neben ihr aufgerissen, von der sie durch ihre Furcht überzeugt war, daß ihr und der Ihrigen Leben darin untergehen mußte. Gerüchte über ihre Enterbung zugunsten Helenens, die wahrscheinlich durch den Notar, wenn auch nur aus Schwatzhaftigkeit, in die Gegend gestreut worden waren und, mißverstanden und aufgebauscht, wochenlang von Haus zu Haus liefen, beluden ihr Herz aufs neue mit der marternden Gewißheit, daß ihr Vater, wenn nicht mit abgeneigter Seele, so doch ohne jedes Vertrauen auf einen guten Ausgang ihres Lebens in den Tod abgeschieden war. Und als nach Ablauf von drei Wochen die Testamentseröffnung alle Gerüchte Lügen strafte, kam sie von ihrer Angst doch nicht los.

Sie ließ wohl den größten Teil vom Hausrate ihres Vaters auf den Heiligenhof führen und verteilte ihn auf die vielen Räume, wie um in alle Stuben, in jeden Winkel einen Hauch und Klang des Segens ihrer Jugend, von Vater und Mutter zu pflanzen und damit das Verderben zu vertreiben, das auf dem Hügel umging. Aus dem gleichen Grunde nahm sie die alte Wirtschafterin ihres Vaters auf den Hof und betraute sie mit der Wartung Helenens. Sie selbst aber lief fast jeden Morgen hinter dem Rücken ihres Mannes in der Frühe in die Hemsterhuser Kirche, drückte sich in den dunkelsten Winkel und sah während der ganzen Messe kaum einmal von dem Buche auf, aus dem sie wie als Kind wahllos alles, am liebsten aber jene Gebete bebend in sich hineinsog, in denen von der Niedrigkeit, Schlechtigkeit und Verderbnis der Menschennatur die Rede war. Und immer, wenn sie sich so ganz zerstört und niedergetreten hatte, fühlte sie das Drohen nicht mehr so finster über sich und dem Scheitel der Ihrigen.

Einmal, beim Lesen eines »Gebets für unsere Feinde«, trat aus dem großen Taumel, mit dem ihr Inneres angefüllt war, die Erinnerung an die Art, wie sie am Begräbnis ihres Vaters sich von dem Brindeisener und seiner Familie losgerissen hatte und über die Friedhofsstufen hinabgeeilt war. Sie sah das kalte Gesicht des riesigen, alten Bauern, seine verschlossene Stirn, seine weißblauen, kühlen Augen plötzlich so grell vor sich, daß sie die Überzeugung gewann, durch ihr Betragen die Feindseligkeit der Bewohner des andern Fremdhofes aufs neue erregt zu haben, und wenn sie nichts zu ihrer Versöhnung tue, werde der oberflächlich verscharrte Haß auf dem Nachbarhügel wieder ausbrechen und die Gefahr vermehren, von der sie ihre Familie umlauert sah.

Noch an demselben Tage, ehe der Sintlinger vom Felde heimgekehrt war, machte sie sich unter dem Schutze des Abends auf den Weg nach dem Brindeisenerhofe. Ein paar verlaufene Gänse gaben den Vorwand zu ihrem Besuch ab. Aber als sie der alten Bäuerin am Fenster gegenübersaß, ihre trockene wie brüchige Stimme hörte, ihre gütigen Scheelsuchtsaugen sah, brachte sie es nicht über sich, von ihrer Verfehlung auf dem Kirchhofe zu sprechen. Mit Gewalt zwang sie sich zur Freundlichkeit und behandelte die Nähe der Höfe wie eine Nähe der beiden Familien, gedachte jedes gleichzeitigen Heraustretens vor das Hoftor wie einer Begrüßung und redete von den gemeinsamen Arbeiten in der Wirtschaft wie von der Erledigung einträchtig beratener Pläne. Brindeisener trat auf Augenblicke zu den plaudernden Frauen, hörte ihnen mit halbzugekniffenen Augen wie in spöttischer Belustigung zu, der älteste Sohn ging schwer und lang ein paarmal durchs Zimmer, stand und horchte und machte sich beim Herumwenden Johannas eilig und betreten davon. Auf allen Stiegen polterten ungefügige Schritte, das ganze Gehöft war wie von dem dumpfen Getöse einer plumpen Maschine erfüllt; alles war freudlos und ernst.

Nur der kleine Peter, jetzt schon ein siebenjähriger straffer und weißköpfiger Junge, jener, der am Tage der Geburt Helenens den hohen Notschrei Johannas mit angehört hatte, war der einzige Klang, das einzige Licht in diesem schweigsamen, düsteren Hofe.

Die Sintlingerin hatte sich jetzt erhoben und ging langsam neben der alten Bäuerin der Tür zu. Da sprang er lachend über die Schwelle und zog hinter sich einen jungen Hund nach, der sich spielend in eine Schnur festgebissen hatte, die er knurrend hin und her schüttelte. Als er Johannas ansichtig wurde, verstummte er sofort und versteckte sich hinter den Rock seiner Mutter. Er war nicht zu einem Gruß zu bewegen, sondern bohrte beide Hände wie zum Schutz mit steifen Armen tief in seine Hosentaschen; aber während die Brindeisenerin sofort von seinem Lobe beglückt überzufließen begann, sah er ganz verwundert Johanna ins Gesicht, so wie Kinder Gestalten anstaunen, von denen sie im Märchen gehört haben. Unter der Haustür zupfte er die Brindeisenerin am Rock, zog sie zu sich herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Bäuerin hielt ihm den Mund zu, schob ihn ins Haus zurück und lächelte Johanna bedeutsam an. Beim Überschreiten des Hofes erzählte sie der Sintlingerin das Anliegen des Kleinen. Er hatte wissen wollen, ob Johanna jetzt nach Hause fliegen werde. Denn seit er an jenem Abend ihren gellen Ruf in der Luft gehört hatte, dessen Bedeutung er nicht begreifen konnte, hielt er die Sintlingerin für ein Wunderwesen, das, wie es ihr gerade in den Sinn komme, bald als Mensch auf der Erde gehen und bald als Vogel in der Luft fliegen könne.

Kopfschüttelnd stieg Johanna über den Brindeisenerhügel hinab und dachte bei sich: O ja, das Kind hat schon recht, es nimmt einen wohl manchmal und führt einen durch die Luft, wohin man nicht will.

Am Grenzwege unten fühlte sie plötzlich ein warmes Kinderhändchen in ihrer herabhängenden Rechten. Als sie, aus ihren Gedanken aufschreckend, neben sich hinsah, stand Peter bei ihr und schaute sie in sehnsuchtsvollem Glück an. Ehe sie aber etwas zu ihm sprechen konnte, stürmte er lachend zurück, bis er sich in Sicherheit gebracht hatte. Dann drehte er sich um und rief jubelnd so lange ihren Namen, bis sie unter dem Tore des Heiligenhofes verschwand.

»Sintlingerin! Sint–liiing–er–rinn!« sang der kleine Brindeisener über das kleine Tälchen zwischen den beiden Fremdhöfen. Der Grenzweg floß wie ein lautloser, gelblicher Bach durch das Eindunkeln. Die Weiden standen wie gebückte Bürdenträger, die ein wenig ruhen, am Grabenrande. Die riesigen Torlinden des Sintlingerhofes glichen schon finsterem Gewölk.

Dorthinein sah der kleine Peter Johanna verschwinden und dachte mit glücklichem Gruseln, jetzt sei sie wieder ein Vogel geworden und in die Himmelsluft geflogen.

Da wurde sein Singen immer leiser, und zuletzt trug er es wie einen klingenden Schimmer nur noch in sich.

Vor dem Einschlafen tappte er noch einmal wie trunken auf und griff sich zum Dachfenster, denn er schlief mit seiner Schwester in der Kammer.

»Was machst du denn wieder für Dummheiten?« fragte sie und schlief sofort weiter.

Peter aber öffnete das Fensterchen und guckte in den Himmel hinauf. Die Sterne irrten wie Glühwürmer in dichten Schwärmen durch die Höhe, und der weiße Ballon des Mondes schwankte leicht im Winde.

»Sintlingerin«, sagte der Kleine in leiser Sehnsucht hinaus und sah den Namen als ein weißes Band aus seinem Munde in die Höhe rauchen, denn es war schon Herbst. Da hielt es Peter für gewiß, er habe der Bäuerin einen silbernen Faden in den Himmel geblasen, davon sie sich zu ihm finden konnte, wenn sie wollte, und beglückt fühlte er sich durch die Dunkelheit der Kammer am Lager seiner Schwester vorbei in sein Bett zurück.

*

Allein der Sintlingerin gereichte dieser Besuch auf dem Brindeisenerhofe nur zu neuem Schaden. Da sie nicht den Mut zum Bekenntnis ihrer Verfehlung auf dem Kirchhofe gefunden, aber doch auch die Bitte um Verzeihung nicht unterlassen hatte – ihre ganze freundliche, liebenswürdige Art mußte doch von den Brindeisenern als Werbung einer Schuldbewußten aufgefaßt werden –, so litt sie gleicherweise unter beiden, unter der mißglückten Unterlassung und der halben Ausführung. Sie konnte nur mit Beklemmung an den Brindeisenerhof mit seinen vielen dämmrigen Winkeln, unholden Ecken, drohenden Schattenstiegen und der grauen Wohnstube denken, als habe sie sich mit dem Besuch allein schon etwas angetan, was nicht wieder gutzumachen war, und ob sie auch den Vorsatz, nie wieder einen Fuß in den anderen Fremdhof zu setzen, in sich aufrichtete, es nutzte nichts. Sie hörte sich mit der Stimme des kleinen Peter immerfort hinübergelockt. Die klang so jubelnd, als sei es ausgeschlossen, daß sie dauernd zu widerstehen imstande sei. Der Gedanke an die schicksalsmächtige Verflechtung und die Sage von dem schreckhaften Ausgang der beiden Familien tat das seine, dieses ungewisse Blaken der Furcht so zu vertiefen, daß sie einmal bis hart an die Wirbelschwelle des Wahnes geführt wurde.

An jenem Tage schritt sie durch den langen, Halbdunkeln Korridor des zweiten Stockwerks des Sintlingerschen Wohnhauses. Nur die beiden Stiegenmündungen, die eine vom Hausflur, die andere vom Boden aus, hauchten ein schwaches Licht in den breiten Gang. Die Türen zu den Stuben steckten rechts und links wie finstere Schränke in der Wand. Und da Johanna den Korridor hinuntersah, wie immer umnebelt von dem unausgesetzten Sieden ihrer Lebenssorge, bemerkte sie drei Türen von ihr entfernt nach der Treppe zum unteren Flur hin einen Schatten aus der Mauer treten. Er kam aus der Wand heraus, leicht und mühelos, wie ein Mensch durch die Tür sein Zimmer verläßt, und trug sich aufrecht, ohne Schritte, auf sie zu, gegen die Bodentreppe hin, doch so, als ob er an ihr vorüber wolle.

Johanna dachte, es sei ihr eigener Schatten, obwohl sie nicht begreifen konnte, wie der in dem dunklen Flur überhaupt möglich sei, trat aber doch, da er unhörbar immer näher an sie heranglitt, hart an die Wand, ja, drückte sich nicht nur mit dem Rücken flach daran, sondern legte sogar die Hände an den kalten Putz und zog die Füße so zurück, daß sie zur Not auf den Zehen stand. Kaum hatte sie sich so gesichert, als das schwarze, hohe, lautlose Wandeln auch schon nahe bei ihr war.

Entsetzt starrte Johanna auf die Halluzinationen ihres überreizten Gemütes und merkte nicht, daß der Sintlinger vor sich hinsinnend die Stiege vom Hausflur her heraufstieg. Als er auf dem Treppenabsatz, wo sich die Wendung der Stiege vollzog, angekommen war, erblickte er sein Weib wie an die Wand genagelt, blaß, regungslos. Sie starrte verzweifelt etwas an, was vor ihr stehen mußte. Mit zwei leisen Sätzen war er auf dem Gange. Keine Seele außer ihr befand sich oben, kein Verhuschen flüchtender Schritte, kein Knacken der Tür war zu hören.

Da rief er ihren Namen, und plötzlich, wie ein Bild von der Wand fällt, löste sie sich von der Mauer, und wenn er nicht hinzugesprungen wäre, es hätte sie lang hin auf die Diele geschmettert. So konnte er sie noch in den Armen auffangen. Doch kaum begann er ihr über dies hartnäckige Schmerzversenken liebenswürdige Vorwürfe zu machen und sie gütig auszuschelten, da fing sie an zu röcheln und versuchte mit Gewalt, sich aus seinen Armen zu winden und ihm zu Füßen zu stürzen. Andreas raffte das arme Weib zusammen, drückte mit dem Ellbogen die nächste Tür auf und rettete sie so vor der Neugier des Gesindes. Vom unteren Flur flog schon eilig ein Weiberrock lauschend über die Treppe herauf. Der Sintlinger stieß die Tür schnell mit dem Fuß ins Schloß und legte Johanna auf das Sofa. Kaum aber hatte er sie losgelassen, sank sie vor ihm in die Knie und bat inständig unter Schluchzen: »Andreas, lieber Andreas, sei nicht böse, ich bitte dich, nimm mir's nicht übel ... Ich war auf dem Brindeisenerhofe.«

Er hatte Mühe, sie zu beruhigen. Anfangs gebrauchte er Redewendungen, die zur Besänftigung Erregter gang und gäbe sind: vom Unrecht, eintönig im Schmerz zu wühlen, vom guten Willen als einzigem Retter und was sich in der Eile leicht darbot, und spürte doch, daß er mit diesen Worten nichts erreiche, obwohl ihre Brust leiser ging und ihre Tränen zu versiegen begannen.

Die Hand vor das Gesicht gepreßt, gegen die Sofalehne gekehrt, hörte Johanna den Zuspruch des Sintlingers an, der halb auf dem Sitze Platz genommen hatte und ihre Linke streichelnd in den Händen hielt. Sie wühlte sich immer tiefer in den Sofawinkel, als suche sie Schutz vor seinen Worten. Endlich wandte sie sich um, sah ihn flehend an und sagte, das Haupt schüttelnd, nichts als dies: »Lieber Mann!« vorwurfsvoll, fast bitter, als wollte sie sagen: Ich bin dein Weib, und du redest wie zu einer Freundin.

Der Sintlinger schwieg betroffen und sah sie forschend an. Johanna nahm seinen Blick in großen Augen auf und nickte ihm bestätigend zu.

»Ich bin einsam«, sprach sie sehr leise, »ganz einsam, Andreas, und weiß mir keinen Rat mehr. Ich bringe meinen Vater nicht unter die Erde ... und Helene, unser Kind, nicht ins Leben hinein ... ich weiß nicht! Ich weiß nicht!! ... Und deine und meine Tür hält jemand von draußen zu, daß wir wie gefangen sind ...«

Kopfschüttelnd brach sie ab, kehrte sich wieder gegen die Sofalehne und sprach unverständlich weiter.

Der Sintlinger sah, daß er falsch gehandelt hatte, seine Frau der Kraft ihrer Natur zu überlassen. Er bat sie, alles, was sie bedrückte, doch laut zu sagen, damit er ihr wenigstens antworten könne.

»Johanna, sieh, wenn du so liegst und leise redest, kann ich dir ja nicht helfen«, sprach er dringend.

Da warf sie sich plötzlich wieder herum und fragte ihn fast schreiend: »Jawohl, und was sollte das heißen: das Meer hat sich zurückgezogen, was du zu dem Vater sprachst, als wir am Tage vor dem Begräbnis an seiner Bahre standen drüben in Brederode?«

»Liebe, liebe Johanna«, sagte der Sintlinger nach einigem Sinnen. »Weißt du, das war nichts weiter. So, als wenn jemand etwa sagte: das ist ein guter Weg oder eine schöne Blume,«

»Und wer hat dir die Ruhe gegeben! Du! Überall. Am Sarge, am Grabe, nachher, auf dem Wege, im Haufe, bei der Arbeit ... wer?«

Der Sintlinger sah sein Weib überlegend an.

»Und deine Ruhe lag in einer tieferen Grube als meine?« fuhr Johanna stoßend zu reden fort, als ihr Mann nicht gleich antwortete.

»Warum meinst du das?« fragte Andreas leise.

»Lieber Mann, ich mach dir keine Vorwürfe!« sprach Johanna, umschlang seinen Hals, zog ihn zu sich nieder und küßte ihn inbrünstig.

Als sie ihn freigelassen hatte, strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und sagte: »Weiblein, du bist ein Kind. Der Tod ist etwas, worüber die Menschen keine Gewalt haben. Der ist ganz im Dunkeln, ganz in der Welttiefe angebunden. Wenn es Zeit ist mit einem Menschen, löst er sich los, tritt ins Haus und kommt über ihn. Weißt du, Weib, das ist nicht so, man kann solches bloß nicht anders sprechen, man muß ein Maler sein, der ein Bild malt. – Ach, Johanna, Leben und Tod! Nein, nein. Sei ruhig, ich habe deinen Vater nicht getötet.«

»Aber warum hast du gesagt: Das Meer hat sich zurückgezogen?« fragte die Bäuerin ratlos.

Der Sintlinger überlegte eine Weile, und dann, sie ernst ansehend, fragte er entgegen: »Willst du stark sein und nicht erschrecken?«

Johanna erblaßte noch mehr und nickte zustimmend.

Die beiden befanden sich in derselben Stube, in der der Sintlinger die Nacht nach der Geburt Helenens zugebracht hatte. In dem einfensterigen Räume stand außer einem Bett, einem Schrank und einigen Rohrstühlen noch ein einfaches Stehpult, an dem der Bauer die wenigen Schreibarbeiten erledigte, die notwendig waren.

Während er sich diesem primitiven Möbel näherte, es aufschloß und darin suchte, sagte er zu seinem Weibe erklärend: »Denk' ja nicht, daß in den Wochen mein Kopf eine Tenne gewesen ist, auf der es nicht gedroschen hat. Aber wie das mit dem Sinnen immer so kommt. Wenn man worfeln will, scheint es dann, als hätte man stundenlang nur in die Spreu geschlagen. Nicht? – Siehst du, und doch wußte ich, daß ich mit meinen Gedanken nicht bloß Schalen gerührt hatte. Aber wenn ich mein Sinnen wissen wollte, war's weg. Deswegen habe ich mich drübergemacht und aufgeschrieben, was ich ... nicht eigentlich ich, sondern Helene mir gebracht hat. Allein davon erzähl' ich ein andermal.«

Mit einem Blatt Papier in der Hand kehrte er zurück, setzte sich zu Füßen Johannas und sah sie ein klein wenig betreten an, sogar mit einem Hauch von Selbstverspottung im Gesicht.

Sein Weib aber achtete nicht auf seine Verlegenheit; sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und betrachtete das Blumenmuster des Sofabezuges.

»Ich weiß schon«, begann der Sintlinger zu sprechen, »alle Leute haben eine große Angst vor dem Tode. Ich hab's auch gehabt, und das nicht wenig. Vielleicht war es bloß dies, das mich jahrelang so herumgetrieben hat. Auch meinen Vater und Großvater. Alle Sintlinger. Siehst du, und doch ist eine solche Angst eine reine Torheit. Dann lebt das Leben bloß vom Tode. Außerdem, wer vor dem Tode Furcht hat, muß sich auch vor dem Leben fürchten. Auf die Weise stirbt man immerfort. Der ein Jahr lang, ein anderer vierzig oder achtzig Jahre. Ist's nicht so, Johanna? Wenn man sich's recht überlegt?«

Die Sintlingerin bog langsam ihren Kopf und sah ihren Mann schwer versonnen an. Der aber fuhr zu reden fort:

»So kann's nicht sein. Denn da wäre die Freude der Eltern über die Geburt eines Kindes der reine Torsinn.«

Johanna nickte ihm zu. Ihre Augen tauchten sich in dunklen Schimmer und starrten dann wieder aufs Sofamuster. Andreas, der bisher frei gesprochen hatte, überlas nun, was auf dem Papier geschrieben stand, die Lektüre mit Kopfnicken begleitend. Darauf fuhr er zu reden fort:

»Das hab' ich mir alles überlegt. Und es ist falsch. Die Menschen sagen: Ich lebe und sterbe, ganz so wie sie sagen: Ich grabe oder ich fahre. Das Graben und Fahren hat so viel und so wenig mit ihnen zu tun wie das Leben und Sterben. Der Mensch ist nicht mehr, wenn er fährt und gräbt, und nicht weniger, wenn er damit aufhört. Auf dieselbe Art verhält es sich mit dem Leben und Sterben. Das ist wie das Feuer, das nicht aufhört, ob auch das Holz in Asche zerfällt, durch das es sich gezeigt hat.«

Johanna fuhr leise aber heftig auf, packte beschwörend seinen Arm und hatte einen Ausdruck im Gesicht und in den Augen wie ein Kind, das man über einen Abgrund in die freie Luft hält.

»Und brennt das Feuer nie wieder, das aufgehört hat zu brennen?« fragte sie atemlos. »Sind Menschen für immer tot, wenn sie gestorben sind?«

»Ach, liebste Johanna«, antwortete der Sintlinger. »Ich habe deinem Vater Blumen ins Grab nachgeworfen. Ich hätt's nicht getan, wenn's so wäre. Glaub's mir. Ich kann meine Hand nicht von meinem Körper schleudern. Und der Tod reißt uns nicht aus der Welt. Weiblein, mit dir, allen Menschen und mit mir ist das so: Ich weiß, daß ich schlafe, wache, jung und alt bin, arbeite und ruhe, lebe und sterbe. Deswegen muß etwas in mir sein, das weder schläft noch wacht, das Jugend und Alter nicht kennt, keine Arbeit und Ruhe, nicht Leben und nicht Tod.«

»Aber was dann?« fragte Johanna angstvoll.

»Werde nur ganz still. Dann bist du wie einer, der durch ein hohes Fenster die ganze Welt übersieht«, antwortete der Sintlinger leise und berührte leicht ihren Scheitel. Weil er aber bemerkte, daß sie seinen Worten nachsann, ging er auf leisen Sohlen, schloß geräuschlos das Blatt mit den Aufzeichnungen ins Schreibpult und verließ unhörbar das Zimmer.

Nach langer Zeit schreckte die Bäuerin auf und fragte: »Aber die Brindeisenerleute, wenn sie uns doch schaden?«

Da sah sie, daß sie allein war. Und sie begriff den Vorgang mit dem Schatten nicht, und nicht, wie sie in dies Zimmer gekommen sei. Die Worte ihres Mannes und alles war wie ein Traum, den sie nicht fassen konnte. Sie erhob sich und trat ans Schreibpult und berührte es mit den Händen.

Doch die Unwirklichkeit wich nicht von ihr.

Und da sie zum Fenster hinaussah, erblickte sie die ganze Erde von dem unergründlichen Traum erfüllt, der von den Reden ihres Mannes herrührte. Die Hügel waren allenthalben von dem weißen Gespinst des Altweibersommers überzogen. Die schrägen Sonnenstrahlen verfingen sich darin und liefen zitternd darüber hin, daß über das ganze hügelwellige Land ein Beben kam, so als sei es ein Meer, das sich fast unmerklich im Lichte rührt. Bis in die Tiefe des fernen Horizonts reichte dies Silberspielen.

Sie riß das Fenster auf und schrie seinen Namen über die Hügel in das grenzenlose Verlieren: »Sintlinger? – Sintlinger!! –«

Doch während sie, mit brünstigem Insichhineinsinken, im Zurückneigen leiser und leiser rief, nahm ihre Stimme den Klang jener des kleinen Peter Brindeisener an, da er im Abenddämmern sehnsüchtig ihren Namen durch das Tal über den Grenzweg hatte flattern lassen, und es war Johanna, als komme das Locken in den Fremdhof aus ihrem eigenen Leibe.


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