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Sechstes Kapitel

Nach diesen geheimen Stürmen nistete sich das lichte Leben wieder in alle Räume des Sintlingerschen Hofes ein. Nicht, daß in den Tagen des Kampfes, der den Bauern und seine Frau nach Münster getrieben hatte, etwas von der finsteren Gemütsart oder jachen Härte früherer Zeit über die Bewohner des nördlichen Hügels unversehens hergefallen wäre, nein, aber die Liebe war doch verschleiert, die Güte etwas dumpfer, und die Armen und Bresthaften erhielten in diesen Tagen die Gaben wie aus der verschatteten Luke einer Mauer schweigend in die Hand gelegt. Jetzt gab es zu dem Stück Brot wieder wie früher einen herzlichen Blick, in den Napf Suppe einen guten Wunsch, hinterher auf den Weg einen tröstlichen Zuspruch und die Vermahnung, in der Not ja nicht an dem Hügel vorüberzugehen. Besonders tat sich in dieser Verbrüderung mit all den Türpochern der Bauer selbst hervor. Von keiner krankhaften Verzerrung der Gestalt wurde er abgestoßen, von keiner Entstellung zum Ekel gereizt, und niemals trieb ihn einer jener Habsüchtigen in Zorn, die von einem halben Dutzend Krankheiten gepeinigt erscheinen, solange sie unter des Gebers Augen stehen, aber lustig und guter Dinge sind, sobald sie sich unbeachtet wissen. Ja, eigentlich, je widernatürlicher und hoffnungsloser der Zustand eines Armen war, desto lebendiger nahm Andreas Anteil. Er ließ sich mit diesen Beladenen am liebsten in ein Gespräch ein, wie sie früher gewesen, auf welche Weise die Plage über sie gekommen und wie ihnen nun die Welt und ihr Leben erschienen, nicht anders, als seien der Schmerz und die Pein der rechte Weg zu geheimen Erkenntnissen. Und gar manchmal, nach solch einer Zwiesprache, stand der Bauer, in stummes Sinnen verloren, lange auf einem Fleck oder ging tagelang mit entgleisten Augen umher und tat seine Arbeit wie im Traume. Seine Frau aber nahm er nie in diese verborgenen Umgänge seiner Seele mit, sondern schob sie wie streichelnd von sich, als seien die Ausblicke von solchen Wegen nichts für die Augen seines Weibes.

Eines Tages traf sie ihn draußen auf dem Felde an dem Rande eines steilen Abhangs neben einem Haufen Lesesteine stehen, versunken und ganz allein. Von Zeit zu Zeit bückte er sich, ergriff einen der runden Kiesel und ließ ihn durch das kurze Gras in die Wiese hinunterrollen. Immer, wenn der Stein ohne Anhalten bergab lief, schneller und schneller, und dann zwischen dem Rasen zur Ruhe kam, erhellte sich sein Gesicht, als bedeute das den Aufschluß eines kostbaren Geheimnisses.

»Ich versteh dich nicht«, sagte Johanna. »Das glaub' ich schon, Klimchen, freilich«, antwortete er. »Aber der Stein, sag' ich dir, weiß mehr wie alle Doktoren und Pfarrer zusammen.« Und als sie in ihn drang, ihr zu sagen, wie das gemeint sei, nahm er ihr Gesicht in beide Hände, sah ihr lange und ernst in die Augen und schüttelte statt aller Antwort nur lächelnd mit dem Kopfe.

Ein anderes Mal gingen beide abends vom Felde heim. Der Sintlinger hatte seinen stillen Tag und schritt mit dem besonnten Schweigen, das er sich angewöhnt hatte, neben seinem Weibe hin. Sie versuchte dies und jenes, um ein Gespräch in Gang zu bringen, aber mehr als ein zustimmendes oder ablehnendes Wort oder gar nur ein verweilender Blick seines Auges war ihm nicht abzugewinnen. Überdem fing eine dunkle Wolke, die sich immer mehr verfinstert hatte, erst zögernd und dann immer heftiger an, ihr Wasser auf die beiden herunterzuschütten. Johanna beschleunigte bei den ersten Tropfen ihren Gang und sprang endlich mit lautem Lachen in den Schutz eines am Wege stehenden Baumes. Der Sintlinger aber blieb in dem strömenden Regen stehen, schaute mit einer Art Andacht hinauf in das Geflitter der fallenden Tropfen und war durch nichts zu bewegen, neben sie unter das Dach der Äste zu kommen. Nach Zeiten langer Dürre haben freilich Bauern eine Art frommer Ehrfurcht vor dem Regen und treten wohl gar aus der Stube hinaus in den Guß des Himmels, um den Segen gleichsam mit der Haut einzuschlürfen. Doch dieser Genuß hielt den Sintlinger nicht draußen in der Nässe. In seinen Augen kam dasselbe glückvolle Feuer auf, das seinen Blick bei dem Spiel mit den Steinen so seltsam tief entzündet hatte. Als träufe eine Offenbarung auf ihn nieder, so beobachtete er, wie die Tropfen über seinen Handrücken liefen und von der Spitze der Finger zur Erde sanken. Endlich sprang er zu seinem Weibe unter das Laubdach, faßte sie schnell um und rieb ihr seine nasse Wange ins Gesicht. Johanna ging wohl auf den Spaß ein, merkte aber, daß Andreas damit nur ihrer Frage nach dem Sinn seines befremdlichen Handelns aus dem Wege gehen wollte. Als sie sich deswegen freigemacht hatte, fragte sie ihn doch, ob etwa der Regen auch so pastor- und doktorklug sei, wie die Steine gewesen seien. Denn sie gedachte vielleicht mit dem Schalk hinter sein geheimes Treiben kommen zu können. Aber dem Sintlinger fiel es sogleich wie ein Vorhang übers Gesicht, und er antwortete voll leidenschaftlichen Ernstes: »Genau so, Johanna! Ich sage dir, da hat dir's Sachen, daß man vor Staunen nicht Worte findet.« Mehr sagte er nicht. Plötzlich unterbrach er sich wie ertappt und zog sie schweigend auf dem Wege weiter, weil es zu regnen aufgehört haue.

Johanna empfand wohl, daß ihres Mannes seltsame Art mit Gedanken zusammenhing, die um Helene kreisten. Doch auf welche Weise ihn noch Unruhe plagen konnte, nachdem der Münstersche Doktor die tröstliche Versicherung gegeben hatte, daß das Leiden der Blindheit eines Tages von ihrem Töchterchen weichen werde wie der Schlaf von einem Ruhenden oder der Rauch über dem Dach eines Hauses, verstand sie nicht. Das hatte der Doktor doch gesagt. Was in aller Welt trieb da ihren Andreas in der Stille und zermahlte gar manche seiner Nächte? Und Johanna fuhr fort, ihrem Mann in alle Heimlichkeiten seiner absonderlichen Unruhe mit dem Wittern ihrer Seele zu folgen, um wenigstens den Zipfel einer Sicherheit zu erhaschen. Ihr Ahnen mußte immer an der Tür seiner verborgenen Sorge umkehren, zurückgeschoben von einer Güte, die manchmal wie Barmherzigkeit schmeckte. Und wenn Andreas recht in sich hineingebohrt hatte wie ein Teich, der sich mit stillen Wirbeln fortwährend selber verschlingt, blühte er entweder in seine alte lachend tolle Heiterkeit auf, faßte Helene unter den Achseln und tanzte singend durch die Stube oder hob sich das Kind behutsam auf den Arm, trug es ins sonnenbeschienene Gras des Gartens und wurde nicht müde, neben ihm zu sitzen und versunken den blonden Scheitel des Mädchens zu streicheln: je nachdem der Strom, der ihn trug, sein Sinnen ins Lichte oder Dunkle geführt hatte; denn daß neben der Vaterliebe noch ein Tieferes das Herz ihres Mannes zu solch leidenschaftlichen Verschlingungen mit dem Leben seines Kindes führte, merkte sie an etwas, das oft wie eine Fernenluft um Andreas und ihr Mädchen stand. Johanna sah die Augen ihres Mannes und verstand deren Blick nicht, hörte sein Herz gehen und wußte nicht recht, was es schlug, fühlte den Atem seiner Seele und sah das Geisterland nicht, über das er hinstrich.


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