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Elftes Kapitel

Dann und wann blieb schon einer stehen, der von Hemsterhus oder aus einem Orte weiter nach dem Westfälischen hin an dem Heiligenhof vorüber mußte, um durch den großen Wald an den Rhein zu kommen; er blieb auf der Straße stehen, wo der Zufahrtsweg abzweigte, äugelte hinauf zum Sintlingerstein, streifte mit eiligem Blick ums Tor oder schaute auch vom Waldrande her nach dem Hofe hinunter, und mußte es sich im einsamen Weiterwandern gestehen, daß wahrhaftig um den Hübelhof eine geheimnisvolle Luft stehe, und wenn man nicht gar zu zweifelsüchtig sei, so könnte man ruhig sagen, es schimmere gar etwas wie ein verborgener Glanz um die Torlinden und spiele den First der Häuser entlang.

Manch andere stiegen eigens von Brederode durch den Buchengrund herauf und wanderten wie von ungefähr hinter dem Hofe am Blumengärtlein vorüber, die Augen rund wie Hosenknöpfe vor Neugier, das Gesicht zu einem gefälligen Lächeln, den Mund zu einem geschickten Worte schon vorbereitet, im Fall man ja das blinde Lenlein zu erblicken das Glück hätte.

Und so kam es denn wohl vor, daß solch Aufgeregte förmlich erschraken, wenn das Mädchen plötzlich in der Nähe fröhlich auflachte oder gar neben ihnen stand, und in ihrer Eitelkeit und Prahlsucht beteuerten sie nachher, sie hätten beim Anblick des Kindes ein Schauern ums Herz gefühlt, als wäre etwa das Jesulein leibhaftig vor ihnen gestanden.

Tölpelhafte lehnten sich geradeswegs unters Tor und drohnten unentwegt in den Hof, bis sie das Mädchen erblickten oder endlich von irgendwem über den Hübel hinuntergewiesen wurden. Dann fuhren sie im Davongehen unter die Mütze, kratzten sich den Schopf und meinten so vor ihre Füße hin: »Jeje, freilich könne es schon möglich sein, daß in dem Kinde Außergewöhnliches stecke. Aber eigentlich zu sehen sei da weiter nichts, und der Heiligenbauer habe eben auch den Boden hinten in den Hosen.«

Nicht lange, und der Ruf des hübelheiligen Mädchens gloste nicht nur durch jene Ortschaften, die von dem Zungenwirbel des Meixner-Gottlieb oder durch die Lieder der Schwerdtnerin vorbereitet waren, noch darüber hinaus munkelte man von einem Wunderkinde, das irgendwo am Rheine aufgekommen sei.

Keinem ging das mehr wider das Blut als dem Andreas Sintlinger und seiner Frau. Johanna wurde von diesem Treiben vornehmlich wegen der Stille und Einfachheit ihres Gemüts unerfreulich berührt, den Heiligenbauer stieß es wider die Seele, weil er fürchtete, das wunderwürdige Wesen seines geliebten Kindes könne durch solch vorzeitiges Lobgebläse auf Abwege der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit geführt werden und, von dem Atem der Menge versehrt, in ähnliche Verwicklungen geraten, wie sie dem Faber-Rebellen widerfahren waren, der ja auch nur gefallen war, weil er sich auf die Schultern aller niedergelassen hatte. Doch das waren Gründe, die er ganz für sich behielt, zu seinem Weibe sprach er von seinem äußerlichsten Widerwillen, von dem Ärger, daß das Leierweib, die Schwerdtnerin, gleichsam mit der Stimme ihres Lenleins von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf ziehe und sich Kropf und Schürze fülle. Und weil das Lenlein zu der Zeit in ihr siebentes Jahr eintrat, wo andere Kinder zur Schule zu wandern beginnen, beschloß der Heiligenbauer, eine Lehrerin auf den Hof zu nehmen, um seinem einzigen Mädchen durch nichts die Welt zu stören, in die es hineingeboren war. Eigentlich stammte der Gedanke mehr von der Heiligenhofbäuerin und floß bei ihr aus einer Überlegung her, die gerade das Gegenteil vom Ziele ihres Mannes bezweckte. Das Kind sollte nach der geheimen Absicht des Weibes aus den eigenen wundersichtigen Traumweiten für die Erde der anderen vorbereitet werden, in die sie nach der Meinung des Münsterschen Arztes doch einmal eintreten würde, wenn ihr Schicksal reif sei.

Die beiden vergatteten Menschen, der Sintlinger und seine Johanna, fanden, wenn ihnen auch vom Ahnen ein Geruch dieser geheimen Entfremdung zugetragen sein sollte, nichts als die Betätigung unverbrüchlicher Liebe darin, der der unbedenkliche Mut eigen ist, dem anderen Teil die Freiheit des Wesens ganz einzuräumen, weil jedes weiß, daß verschiedene Instrumente dieselbe Melodie eben ein wenig anders spielen.

Der Sintlinger fühlte sich nun der Aufgabe nicht gewachsen, irgendwo aus dem grauen Weiten heraus den richtigen Menschen zu finden, der seinem Lenlein Genossin und Führerin sein könnte, und überließ so mit erleichtertem Aufatmen seinem Rechtsbeistande, dem Schwiegersohn des wunderlichen Notars, der des alten Klim spärliche Rechtsverrückungen repariert hatte, die Auskundschaftung zu betreiben. Der Zufall, die Menschen sind gewohnt so zu sprechen, wollte es, daß der Münstersche Professor Flöreck in seinem Hausblatt die Anzeige fand, die der Rechtsanwalt hatte für den Heiligenbauer einrücken lassen, und die Tochter eines kleinen Böttchers empfahl, in dessen Familie er aus barmherziger Liebe der ärztliche Helfer und tatkräftige Freund war. Dieses Mädchen hatte das Lehrerinnenexamen abgelegt und war dann aus Anlässen des Hauses in den Blindenunterricht hineingekommen. Eigentlich ihrer Mutter halber. Die hatte zwar keine blinden Augen, aber die graue Hand hatte ihr darübergestrichen, und wie beim Schwerdtner, dem Orgelmann, schwankten alle Dinge der Außenwelt seitdem als unbestimmtes Gewölk um sie, und es hatte sich schon etwas von dem hoch ausholenden Schritt der Blinden an ihr eingefunden, doch wenig von deren friedensweiter, stets wundersichtiger Seele, sondern sie füllte ihr Leben mit Seufzen und Mißvergnügen, so daß ihre Kinder die Kostbarkeit einer Mutter eigentlich mehr durch ein grämliches Zwielicht spürten, das um sie schwebte und das das empfängliche Gemüt der Unmündigen um so stärker drückte, weil der Vater seinen ganzen Tag in den großen Fässern umherwerkte und fortwährend von dem Donnern eingeschlossen war, das er mit dem Dübelhammer aus dem eichenen Holzgebauche herausschlegelte. Das Mitleid mit ihrer freudlosen Jugend führte sie in den Blindendienst.

Professor Flöreck hatte kaum die Anzeige gelesen und den Namen des Sintlingers in seinem Gedächtnis hinklingen lassen, so sah er die schwarzen Augen eines stahlharten, kleinen Mannes wie zwei sausende Flintenkugeln auf sich eindringen und erinnerte sich plötzlich des rätselhaften Falles der Augen des kleinen Lenleins, es war ihm nämlich, als sehe er den Spiegel eines stillen Teiches regungslos vor sich in der Luft hängen. Denn er kannte und unterschied die Menschen nur nach den Augen, wie sie der Schuster nach den Schuhen, der Fleischer nach der Feistheit und der Schneider nach den Kleidern beurteilt, und spürte einen schwachen Hauch der seltenen Ungewöhnlichkeit des Heiligenbauers über die Reihe der vergangenen Jahre hin an sich vorüberstreichen.

Sein Schützling aus dem Böttcherhaus hatte eben die staatliche Blindenlehrerprüfung hinter sich gebracht und war dankbar, daß ihr der Professor auf den Weg zu einer Beschäftigung helfen wollte, in der sie das Erlernte lebendig erhalten, tätig ausbilden und durch Erfahrung erweitern konnte, bis sich die erwünschte Lücke im staatlichen Dienst für sie öffnen würde.

Die Papiere des Fräulein Elfriede Knille, so hieß die Böttcherstochter, wurden also gesammelt, der Professor schrieb einige Zeilen Empfehlung dazu und sandte sie ab.

Als Johanna diesen Brief empfangen hatte, atmete sie erlöst auf. Denn die aus allen Weltgegenden auf den Heiligenhof eindringenden Angebote schillerten in den buntesten Versprechungen, verstiegen sich hie und da zu Drohungen mit dem düstersten Schicksale im Falle der Ablehnung, waren angefüllt mit Selbstgefälligkeiten und dem Nebengeräusch mancher anderen Menschenschwäche, daß es der armen Bäuerin vorkam, sie stehe mit ihrem einzigen Kinde auf öffentlichem Markt und wolle es an einen Unbekannten aus der tobenden Menge verkaufen.

Andreas aber, als er auf dem ersten Zeugnis in großen Lettern das Wort Blindenlehrerin gelesen hatte, war einen Augenblick aus dem Finstern her betroffen, schob die Brauen zusammen und wollte von da an mit allem nichts mehr zu tun haben. Es handle sich um ein fraulich Wesen, meinte er, und da habe allemal ein Weib eine bessere Witterung als der Mann, denn er wähle ja die Mägde, die auf dem Hofe gebraucht würden, auch nicht. Er machte sich nichts daraus, daß das, was er sagte, nicht stimmte, er beharrte nur in folgerichtiger Hartnäckigkeit innerlich auf der Überzeugung, daß sein Kind nicht blind sei, und hätte am liebsten jeden Brief, der das Wort blind enthielt, ohne Bescheid wieder zurückgeschickt.

Johanna aber las die wenigen Worte des Professors wieder und wieder und fühlte sich immer tiefer in den Gedanken an eine Fügung hinein, die sich des Münsterschen Doktors bediente, damit alles systematisch geschehe, jenes Ereignis vorzubereiten und seinen Eintritt womöglich zu beschleunigen, von dem Flöreck als von einer Sicherheit gesprochen hatte – so meinte sie wenigstens in eigenwilligem Hoffen –, die Zeit nämlich, wo die Finsternis über Lenleins Augen erfüllt sein und der Schleier von ihren Blicken weggezogen werden würde. Zwingend empfand sie, dieses Fräulein Elfriede Knille nicht zu wählen, käme dem Willen gleich, das liebe Kind nicht ins Licht führen zu wollen.

Deswegen war die gute Heiligenhofbäuerin etwas enttäuscht, als die Lehrerin auf dem Hofe ankam. Denn nicht nur die Hoffnungen des Menschen tragen die Farbe und den Klang seines Wesens, alle Gestalten, die durch das Wunsch- und Sehnsuchtstor aus unseren Herzen schreiten, nehmen dessen Schlag mit, sind aus unserem Leibe geboren, und der Schimmer unserer Seele glimmt aus ihnen. Elfriede Knille hatte nichts von frommer Güte, nichts von der Befangenheit in tausend Geheimnissen. Als sie von Johanna unten am Zufahrtsweg empfangen wurde, stieg sie aus dem Wagen, schüttelte sich das Kleid zurecht, gab sich mit den Schultern einen ordnenden Ruck und reichte erst dann der Sintlingerin die Hand, und das mit einem spürbaren Anflug von Wohlwollen, als ob sie einer schüchternen Schülerin Mut mache. Dem Lenlein fuhr sie durch das blonde Gelock, koste es mit der Hand, sprach plötzlich ein wenig falsettierend von dem lieben, kleinen Menschlein, das sie noch besser kennenlernen werde, und machte dann Anstalt, das Kind auf den Arm zu nehmen, es an sich zu drücken und zu küssen oder nur in die Luft zu schwenken, man weiß es nicht. Sie hob es bis in die Höhe des Busens, von dem einige korrekte Andeutungen vorhanden warm, und setzte es mit dem überraschten Ausruf: »Ach, wie leicht! Nein, federleicht!« wieder auf den Boden. »Mitten in dieser gesunden Gegend so etwas Zartes«, sagte sie dann etwas betroffen, als fühle sie, die Bäuerin verletzt zu haben. »Man ist erstaunt. Durchaus erstaunt. Nicht wahr? Ah, das also ist ihr Hof! Rein wie eine Burg. Wirklich.«

Dann trat sie auf die Seite, um das Gefährt vorüberzulassen. Die Pferde legten sich schnaubend ins Geschirr und mußten sich nach ihrer Meinung sehr anstrengen. »Das sind mindestens fünfzehn Prozent Steigung. Vielleicht wird das Kind durch die fortwährende Überwindung des kupierten Terrains übermäßig angestrengt und damit innerlich bewegt, beziehungsweise angegriffen. Der erste Punkt aber einer ersprießlichen geistigen Arbeit ist körperliche Kraft.«

Nachdem sie noch den »Herrn Gutsbesitzer Sintlinger« begrüßt hatte, durch das Gehöft geführt worden war, hörte man noch lange ihren abgemessenen, taktmäßigen Gang aus dem ersten Stock, wo sie untergebracht worden war, gegen die Decke klingen.

Da sagte das Lenlein, die zwischen Vater und Mutter sitzend dem Schreiten über sich mit sichtbarer Betroffenheit gelauscht hatte, mitten ins Gespräch der Eltern: »Weißt du, Mutter, ich hab's genau gesehn!«

»Was gibt's denn, Lenlein?« fragte Johanna..

»Das Fräulein ist gerade wie ein Baum. Ganz hoch. Aber ohne Äste. Bloß oben ein wenig. Und wenn sie redet, geht ein Türchen auf wie bei unserer Uhr, und der Kuckuck ruft.«

»Ja, weißt du, Lenlein, und wer der Kuckuck bei dem Fräulein ist?« fragte der Heiligenbauer.

»Aber freilich«, antwortete das Mädchen, »das Mundreden ist's.«

»Nein, das Klugsein, Lenlein«, sprach Johanna mit schwachem Verweisen, »und so klug wirst du jetzt auch werden.«

Da bekam das Kind ein stilles, bekümmertes Gesicht, spielte betroffen mit den Fingern und fragte nach langer Weile mit einem tiefen Atemzug des Bangens: »Ja – muß ich auch?«

*

Nachdem so der Einzug der Jungfrau Knille vor sich gegangen, ließ der Sintlinger ihr Wesen durch seine Gedanken wandeln und sah ein, daß es gut sei, mit seiner Sorge nicht das Beginnen der Lehrerin zu beeinflussen. Das Lenlein hatte mit ihren Worten eine solch traumhaft sichere Beurteilung des Fräuleins verraten, daß den Bauer nur mehr die Spannung erfüllte, welches der Ausgang der Unterweisung sein werde. Er beschränkte sich deshalb darauf, dem Fräulein durch Johanna nahelegen zu lassen, daß von dem Lenlein das Bewußtsein der Blindheit für immer und das Wissen um den Tod vorerst noch ferngehalten werde. Elfriede Knille strich sich daraufhin mit den geraden Fingern der rechten Hand von der Nase her über den Mund, sah die Bäuerin mit spöttischer Lustigkeit an, begann seitenlang von den Forderungen der Wahrhaftigkeit zu tönen, von dem Mut zur Selbsterkenntnis, dem Wert unerschrockener Einsicht, und erklärte sich schließlich unter Achselzucken und Hauptwiegen damit einverstanden.

Sie war eine zu vorzügliche Schülerin gewesen und hatte darum über den Stolz, eine tadellose Lehrerin zu sein, verabsäumt, ein lebendiger Mensch zu bleiben. Durch ihr Studium hatte man sie an das Schiff fremder Kenntnisse geschmiedet, und nun fuhr sie mit fremden Rudern, segelte im Atem der Erkenntnisse anderer und sah das Ziel alles Unterrichts in der Übermittlung eines reichen Wissensstoffes, der nach erprobten didaktischen Regeln gut geordnet an den Schüler herangebracht wurde.

Wenn alle Lehrer wüßten, daß der innere Zustand des Unterweisenden die Vorbedingung alles Lehrerfolges ist, die Zahl der Munddrescher nähme ab, und reumütig stiegen die schulmeisterlichen Scharen von den methodischen Holzpferdchen herab, auf denen sie selbstgefällig vor den Kindern auf und nieder galoppieren. Jeder Lehrgegenstand bedarf einer neuen Einstellung der Seele, jedes Kind hat eine andere Innenwelt mit einem anderen Klima. Wer von den Wundern seines eigenen Gottes nicht geblendet ist, vermag in die göttlichen Tiefen des Kindes nicht vorzudringen, die erschlossen werden müssen, wenn der Kopf des Zöglings mehr als ein geistiger Handfertigkeitsschwank, sein Herz mehr als ein vulgärer Gefühlswiederkäuer und sein Leben mehr als ein nützliches Geräusch werden soll.

Wahrscheinlich hatte Elfriede Knille diese oder ähnliche Ansichten auswendig gelernt. Nun aber war der Vorbereitungszustand glücklich überwunden. Jetzt schritt sie gesammelt, sicher gerichtet, sorgfältig eingestellt zur Ausführung ihrer Aufgabe. Sobald sie zu lehren anfing, wurde ihre Stimme grammophonisch, ihre Haltung gezwungen, ihre Bewegungen exerziert unpersönlich, ihr Lachen künstlich, ihr Gesicht leidend ernst, und ihre Augen standen wie zwei Bohrwerkzeuge unter der Stirn. Denn nur selten wird ein weibliches Wesen, das noch nicht geboren hat, ein Lehramt versehen können, weil erst die Mutterschaft ihre Säfte reif, süß und voll macht zu diesem göttlich-mütterlichen Geschäft.

Was kann ein solches Wesen von dem selig schönen Geschäft verstehen, wie ein Mensch entbunden wird, wie ein Mensch aus der reinen Seele in den Geist geboren wird. Es ist eine gar schwache Brücke, auf der er durch das Wunder der Dinge herübergelockt wird auf diese Erde, auf der er Wohnung nehmen soll, bis er durch das Tor des Todes wieder davonwandert, hinüber. Wie erstaunen die Kinder vor den Bildern dieser Erde, wie glücklich sind sie, wenn sie den göttlichen Sinn aus ihnen klingen hören, der in ihrem Ohr aus der ewigen Heimat her noch nachtönt. Gar wählerisch und achtsam muß die Hand sein, die sie leitet, von dem Verwundern durch das Staunen in die leise Enttäuschung des Begreifens. Das Lenlein vom Heiligenhofe ging diesen Weg wie alle Kinder. Aber es mußte, schwerer nur, noch ein Vorstadium, das der Furcht, durchleiden, das bei anderen Kindern nicht länger als ein Vorüberhuschen dauert. Vor jedem neuen Gegenstand zagte das Sintlingerkind wie vor einem Abgrunde und hatte die Empfindung, hilflos wie durch ein Loch ins Bodenlose hinausstürzen zu müssen, wenn es ihm nicht gelang, das neue Unbekannte sich vertraut zu machen und der Welt ihres Innern einzureihen. Deswegen sah man sie vor neuen Dingen oft bis hart an die Tränen heran beben und sie dann mit zitternden, wie gierig saugenden Fingern betasten. Der Erkenntnisdrang war bei ihr brünstiger, weil er nicht durch die vorwitzige Naschhaftigkeit der Augen abgeschwächt und zerstreut wurde, ehe er sich sammelte. Ihr Wissensdurst war ein lautloser Strudel, der alles in seinen bodenlosen Grund schlürfte, was in seine Nähe kam. Doch, was einmal durch das rätselhafte Tor ihrer Sinne in sie gewandelt war, stand in ihr sicher geborgen und wurde nicht so leicht wie bei Augenmenschen durch einen neuen Anblick in Frage gestellt.

Auf alles das nahm, weil es sich ihrem Ahnen entzog, das Fräulein keine Rücksicht. Dieses Kind, das bisher gewohnt war, durch das sperrangelweit geöffnete Seelentor der Menschen, mit denen es lebte, in die Welt der Umgebung zu fahren, befand sich, wenn der Unterricht der Lehrerin kaum eine Viertelstunde gedauert hatte, einer fensterlosen Wand gegenüber, alles war ihr verschlossen, sie war wirklich »wie vernagelt«. Diese Worte sagte Elfriede Knille fast immer erregt und geringschätzig zu sich, wenn das Lenlein geduckt, freudlos, matt aus der ruhelosen Wolke der Unterrichtsstunden entlassen wurde.

Es half nichts, daß die Lehrerin sich auch der freien Zeit des Kindes bemächtigte, um sich durch das bunte Pförtchen des Spiels in die Welt dieses wunderlichen, kleinen Wesens zu schmuggeln oder wenigstens einen Blick in diese Verzauberungen zu tun. So interesselos ihr Unterricht das Kind machte, so stumpf machten es ihre Spielreizungen. Lenleins seiner Instinkt witterte mit Recht irgendeine Absicht der Vergewaltigung und ließ die Spiele wie Lektionen an sich niedergleiten oder schluckte sie wie eine überflüssige Medizin, drehte sich unbewegt, lief blassen Gesichts, sang seelenlos und unfroh und versank, überdrüssig geworden, in eine Gleichgültigkeit, die so unwirklich war wie etwa die Gebärde einer einsamen Blume im Felde. Indessen, um das Sintlingerkind doch aus der Verwunschenheit zu locken, verfiel das Fräulein auf allerhand spielerische Mätzchen, zwang sich zu komischen Drolerien und hüpfte gar wohl neckisch um die Kleine, die all das unbewegt ertrug oder höchstens die Lippen zu einem Lächeln bog, das mehr wie Spott aussah.

»Gefällt dir das?« fragte Fräulein Knille dann.

»O ja«, war die Antwort.

»Warum spielst du denn nicht mit?«

» Du spielst ja.«

»Aber da tu doch auch mit.«

»Nein, es sind deine Spiele.«

»Willst du mich nicht deine Spiele lehren?«

»Die kannst du nicht verstehen.«

So endeten alle Bemühungen der Lehrerin, die schon anfing, zu manchen Zeiten dem Gerede der Leute in der Umgegend recht zu geben, daß dieses Kind nicht wirklich, sondern ein elbisches Wesen sei.

Es nützte auch nichts, als Fräulein Knille dem Sintlinger vorsichtige Andeutungen ihrer Not machte und von fern seine Hilfe heranwinkte. Der Heiligenbauer hörte sehr aufmerksam zu, nickte dann gedankenvoll und verließ sie, mit großen Augen vor sich hinblickend, ohne einen Bescheid zu geben. Nur einmal sagte er zu ihr nach langem Schweigen: »Ich habe heut in einem meilenweiten einsamen Feld auf dem Wipfel eines Baumes einen Vogel sitzen sehen; an dem Schnabel merkte ich, daß er sang, aber da ich neben einem Bretterwagen mit Steinen ging, konnte ich nichts hören, und als ich näher kam, flog er erschreckt fort. So weiß ich nichts von seinem Liede.« Ohne weiter etwas hinzuzusetzen, ging er freundlich grüßend aus der Stube, wo diese Unterredung stattgefunden hatte, und bald nachher sah das Fräulein den Sintlinger handverschlungen mit Helene weit draußen so stillen Schrittes hinwandeln, als wehten die beiden durch die Blumen. Das Lachen des Kindes ertönte wie Lerchengezwitscher, und bald hörte man auch das Kind singen und den Vater dazwischen in Freude melodisch rufen.

»Ist das nicht wie ein Hof der Wahnsinnigen?« fragte sich die Pädagogin, lief erregt in einer anderen Gegend durchs Feld, zerzupfte unterwegs eine Wucherblume um die andere, sagte immer »ja« und »nein« dabei, und da schonungslos auf das letzte Blatt jeder Blüte ein »Ja« fiel, wurde sie zornig, warf die letzte geplünderte Blume auf den Steig und dachte: Wenn ich nicht will, kann mich niemand hier halten, Johanna aber tröstete die Lehrerin, sie solle nur Geduld haben, dann werde das gotteseinsame Gemüt ihres Kindes sich eines Tages unvermutet öffnen und alles lernen, was es jetzt mißtrauisch ablehne, wie ein Vogel das Lockfutter im Fangbauer, alles werde das Lenlein wie spielend sich aneignen.

Allein diese erwünschte Wendung trat nicht ein. Denn Elfriede Knille war einer von den Menschen, welche die Wandlung immer von außen, immer von anderen erwarten, die stets alles zu tun glauben, was irgend erdenklich ist, und indes ihr Erwarten auf Mißmut, Ungeduld und Enttäuschung einstellen. Sie hatte ein Einmaleins gelernt und hielt es für verderblich und verkehrt, daß es so viele in der Welt gab, die nach einem anderen Einheitssatze rechneten.

Doch das Heiligenhoflenlein ließ sich durch keinen methodischen Kniff aus der Welt ihrer einwärts gekehrten Blicke locken, und je lauter der Eifer der Lehrerin vor den Türen ihres Lebens sich aufführte, desto tiefer verschloß sich ihr Geist mit seinen Gestalten, deren helle Schatten man dann und wann als Verdunkelungen an dem blaßblauen Spiegel ihrer Iris vorüberschweben sah. Mit jedem Tage, mit dem das Fräulein ihre pädagogischen Belagerungswerke planmäßig näher und näher an das Rätsel dieser Kinderseele herantrieb, vermehrte sich die Spannung zwischen den beiden. Und als gar der Sintlinger der Lehrerin kurz heraus gesagt hatte, wenn es mit dem Lernen eben nicht auf ihrem Wege ginge, so sollte sie es auf Lenleins Wegen versuchen, da packte die westfälische Böttcherstochter gar etwas wie Grimm über diese bäuerliche Überheblichkeit, und sie fragte zitternd, ob das etwa heiße, sie solle bei dem Kinde in die Schule gehen?

Der Sintlinger aber sah an ihrem blaßfleckigen Gesicht vorbei, sagte nur, daß der Bauer, der gelegentlich von seinem Knecht lerne, nicht der dümmste sei, und ließ sie stehen.

Seit diesem Tage war es Elfriede Knille, als sei der ganze Heiligenhof gegen sie verschworen. Der leise Fleiß seines Gesindes hörte sich an wie verheimlichtes Minieren gegen sie, in den freien Augen des Sintlingers sah sie spöttischen Hochmut. Die Stubenmagd kicherte höhnisch hinter ihr drein, und der alte Zenker ging drohend um sie wie ein greiser, zahnloser Wolf. Unversehens schlüpfte sie aus dem Kleide verletzter Eitelkeit in die Pose einer Verteidigerin von Menschheitsgütern gegen Bauernhochmut und Stumpfsinn. »Je lauter ein Faß bullert, um so härter muß man schlagen«, war der Leibspruch ihres Vaters gewesen, danach wollte sie jetzt handeln, ohne Hin- und Hersehen, geradezu, wenn es auch dem einzigen Menschen noch schwerer werden mußte, den es auf dem Hofe gab, der Bäuerin, dieser sanftesten, gütigsten Frau, die sie je gesehen hatte. Elfriede hatte zudem die Hoffnung, in nicht zu langer Zeit zu einer öffentlichen Anstellung zu kommen. Also ihretwegen, wenn man es eben nicht anders haben wollte, konnte es losgehen. Es war die Zeit der hohen Sommerwinde, jenes hautleisen Sausens, das man nachts hart unter den Sternen hinstreichen hört und manchmal einen kurzen Lichtschreck wie das Aufblitzen einer blanken Messerschneide durchs Finstere über den Himmel zucken sieht. Die Bauern sagen dann, der Herrgott schleife seine Sense, und schließen daraus, daß die Ernte nicht mehr fern sei.

Die Lehrerin lag stundenlang nachteinsam im Fenster und verlor sich mit ihrem geheimen Grimm über die Wipfel des Obstbaumgartens in die heiß durchzitterte Dunkelheit. Wenn aber Gott seine Sense blitzend wendete, verfing sich jedesmal ihr Atem, sie schnellte in ihr Zimmer zurück, begann erregt auf und nieder zu gehen und dann und wann höhnisch aufzulachen.

Sie brach, früher, als es in ihrem Plan gelegen hatte, die Übungen ab, die ihre Schülerin unterrichtsreif machen sollten, und begann mit den Schraubenziehern, Stemmeisen und dem Sauerstoffgebläse ihrer eigentlichen Methode.

Aber war vorher ihre Geduld bis zum Reißen angespannt worden, jetzt ging es in jeder Stunde zum Verzweifeln. Lenlein brachte es nicht nur nicht fertig, eins und eins zusammenzuzählen, sondern sie wehrte sich sogar dagegen mit einer unbeugsamen Hartnäckigkeit, die die Lehrerin lange nicht verstand und für puren Stumpfsinn hielt. Denn spielend zählte das Kind Finger zu Fingern, Hölzchen zu Hölzchen, Kugeln zu Kugeln; aber keine Überredung, kein Zwang, keine Liebe konnte sie dazu bringen, Pilze und Bäume, die Beine von Tieren und Stühlen zusammenzuzählen, weil sie, göttlich gebunden, nicht von der Unverwechselbarkeit der Dinge in ein abstraktes, lebensleeres Formelspiel zu bringen war.

Und gar, als sie unter Schwierigkeit die ersten Punktzeichen des Blindenalphabetes kennengelernt hatte und diese zum ersten Wort zusammensetzen sollte!

Da schob sie entsetzt das Buch von sich, lichtete den zarten Körper wehrhaft auf und starrte mit dem blassen Gesicht tiefen Unglücks vor sich ins Leere, mit Augen, die wirklich wie die einer Blinden aussahen, denn aller Glanz und Schimmer war aus ihnen gewichen, daß die Sterne aus stumpfem Horn gestanzt schienen. Dann schüttelte sie den Kopf, daß ihre gelben Locken nur so flogen.

»Nein, das ist nicht wahr, Fräulein.«

»Was hat's denn bloß, Lenlein, du zitterst ja«, sagte Elfriede, die das Kind wie unter Frost am ganzen Leibe beben sah.

Sie sollte nach dem Blindenalphabet das Wort »lau« lesen und fühlte an den feinsten Fingerspitzen die Schärfe der Punktsinnbilder wie das Stechen befestigter Sandkörnchen in ihr Inneres dringen, und diese abgezirkelten, lebenslosen Verwundungen des reizbarsten Hirnes, das sollte »lau« sein, jenes weiche Streicheln über das Gesicht, das wundersame Rühren der Wurzeln des gelockten Haares in ihrer Kopfhaut, das Gefühl des stillen, beglückten Wogens, das vom Lande auf sie eingedrungen war, das schwimmende Geläut der Abendglocken in der Luft, das versunkene Brausen des fernen Waldes und die Stimme ihrer lieben Mutter, die sie und die alte Trine nach Hause gerufen hatte: »Kommt nach Hause, es wird nicht mehr lange lau sein.« Es war ihr unmöglich, von den lebendigen Ereignissen des Lebens sich zu trennen und das blut- und sinnvolle Dasein ihrer Seele in einem toten System von Zeichen einzuschachteln.

Das Lenlein stemmte sich wie vor einer Gefängnistür zurück und wehrte sich wie vor einer Unwahrheit in Scheu und Entrüstung, klemmte beide Hände krampfhaft zwischen die Knie und brach mit dem Ruf: »Es ist nicht wahr – ich mag nicht«, in erbarmungswürdiges Weinen aus.

Nur durch diese Enttäuschung der Erkenntnis, dieses Erschrecken, diesen wahrhaftigen Sündenfall des Verstandes gelingt es allen Kindern, aus dem selig nutzlosen Himmel ihrer Seele auf die Erde der Froner sich fesseln zu lassen, vergleichbar dem Schrei des Neugeborenen, wenn es den Mutterschoß verläßt.

Dem Fräulein Elfriede Knille fehlte die Hand wahrer Liebe, die allein imstande ist, dem Kinde das Grauen dieses Überganges aus einer in die andere Welt erträglicher zu machen, sie nannte es im Innern »Dänzchen« treiben, die »Hysterie« Unmündiger und das Gebrüll einer Verzogenen, setzte einen Augenblick mit ihren Unterweisungen aus und verharrte mit mühsam hochgezogenen Schultern, den Rücken dem Zimmer zugekehrt, am Fenster, bei jedem der immer schwächer werdenden Weinstöße des Kindes ein spöttisches Schnalzen hervorbringend.

Endlich drehte sie sich um: »So. Bist du nun fertig mit Weinen? Es ist doch wahrhaftig dumm, wenn man so für nichts und wieder nichts losheult. Meinst du nicht auch, Helene?« Das Heiligenkind nickte schmerzvoll und dachte: Wenn ich bloß nicht mehr »lau« lesen müßte.

An diesem Tage ging es sehr zeitig schlafen. Als der Sintlinger und seine Frau spät in die finstere Stube traten, um sich auch zur Ruhe zu begeben, hörten sie das Lenlein auffahren. Dann sagte es: »Fräulein. Sie, Fräulein! Lesen ist ganz, ganz häßlich. Man kann gar nichts mehr sehen, weil alles schwarz wird. Ach, ich möchte singen!«

Dann sank es zurück, rückte sich unter einem seufzenden Atemzuge zurecht und schlief weiter.

Allein, Fräulein Knille war eine pflichttreue, unentwegte Lehrerin, sie hatte sich vorgenommen, durchzuhalten, mochte es biegen oder brechen. Leicht ging das ja nicht. Sie war genötigt, dann und wann schon die Stärke ihrer Stimme zu steigern, auf den Tisch zu klopfen, daß es den Schall eines Schlägleins gab. Sie faßte das Kind hart an der Achsel und richtete es unsanft auf oder brach den Unterricht plötzlich ab, lief in den Wald, rang die Hände über sich und sprach zum Himmel: »Wenn nicht bald der Bescheid auf mein Gesuch kommt, gehe ich zugrunde.«

Das Lenlein aber beklagte sich bei niemand, es saß hemm wie ein Vogel mit gebrochenem Flügel, spielte nicht mehr und sang nicht mehr, sondern schlief oder lag ganz allein mit weit offener! Augen irgendwo im Felde. Und dann wieder kam ein Aufjagen über sie. Wildheiten brächen aus ihr hervor, mit denen sie von dem Meixner-Gottlieb einst angesteckt worden war, und als das Fräulein in einem solchen seelischen Fieberstoß das Mädchen von ihrem Tollen wieder zu Verstand bringen wollte, biß es sie unversehens in die Hand wie eine Wildkatze und lief lachend davon.

Des Heiligenbauers zuversichtliche Gelassenheit wich wohl nicht, wenn sein gedankenvolles Auge auch manchmal verfinstert auf der Lehrerin ruhte. Dafür durchlebte Johanna schwere Tage. Ja, die fromme Seele nahm das Lenlein sogar eines Sonntags mit in die Kirche, daß, man konnte es ja nicht wissen, vielleicht auf diese Weise der Segen Gottes dem armen Kinde das Lernen erleichtere. Da ereignete sich denn das, was der Hemsterhuser Ketzerkantor Liborius Pfeiffer später als den ersten Krampf des bösen Geistes in dem Sintlingermädchen bezeichnete.

Kaum war nämlich der Pfarrer Ardelt von der Kanzel aus der Heiligenhofbäuerin ansichtig geworden, die sich so selten zum Gottesdienst einfand, so überschlug sich seine Natur, und mit Schreien, Beschwörungen und Aufschlagen begann der Fanatiker aus ihm zu arbeiten. Plötzlich zuckte der dünne, gelle Schrei des Sintlingerlenleins durch die versunkene Kirchenstille. Der Prediger stutzte einen Augenblick, die Zuhörer fuhren aus ihrem andächtigen Grauen, der Kantor rückte höhnisch die Brille auf die Nase und sah vom Chor hinüber in die halb vergitterte Sintlingernische. Johanna bemühte sich um das totenblasse, bebende Kind, doch das ließ sich nicht beruhigen, sondern drängte dem Ausgange zu. Rat- und hoffnungslos, in der Seele betroffen, mußte die Mutter endlich willfahren. Sie verließen kaum nach einer Viertelstunde das Gotteshaus, vor dem das Lenlein seitdem ihr Leben lang eine nicht zu besiegende Abneigung behielt.

Auf der Nachhausefahrt soll, wie nachher das abergläubische Volk sich erzählte, die kleine Hübelheilige plötzlich von der Seite der Mutter entrückt worden sein, nicht anders, als ein Schatten oder ein schwerer Seufzer uns entschwindet. Als der Wagen aber am Zufahrtswege ankam, sei das Lenlein lachend und singend über den Abhang her mit wirbelnden Kleidern der zu Tode erschreckten Mutter entgegengelaufen.

Durch diese Erzählung schaffte sich das Volk den Zugang zum Verständnis des wunderbarlichen Ereignisses, das kurz darauf eintraf und das der schweren Not des Sintlingerkindes in jener Zeit ein Ende bereitete.


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