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Fünftes Kapitel

Von nun an betrugen sich die beiden Menschen nicht anders, als seien sie von einem tiefen Strom ergriffen und weit von ihrem alten Leben in ein neues Dasein getragen worden. Besonders der Sintlinger ging wie von schwerem Segen durchglänzt dahin. Er hütete das Geheimnis, von dem sein Kind eingesponnen war, als sorge er, daß der Zauber ihres Lebens von dem Wissen und den Worten der Menschen gestört werden könne. Die Umgebung erfuhr nichts von dem Zustande der kleinen Helene als die große Milde, die nach dieser Fügung sich des Sintlingers bemächtigte, den heiteren Ernst seines Fleißes und die fast scheue Zärtlichkeit, mit der er seine Frau umgab. Er bewegte sich in den Gesetzen der neuen Erde, die das Schicksal seines Kindes ihm unter die Füße geschoben hatte, als sei neben seinen Schritten nie ein Halm Taumellolch oder ein Stengel Bocksbart gewachsen, sondern als hätten sogar jene Steine noch ein tröstliches Lied gesungen, über die er gestolpert war. Allerhand Gerüchte brauten durch das Dorf, die, bald in Bosheit, bald in Schadenfreude, an dem Grunde herumtasteten, durch den sein Leben aus den alten Brauseangeln gehoben worden war. Man redete von einem blutigen Streit, in den er von der Trunkenheit gerissen worden war; von einem Vergehen an einem zarten Mädchen; einem wucherischen Geschäft, dessen verderbliche Folgen er hart vor der Gefängnistür unter einem Sack voll Gold begraben habe, und wollte gar von ehelichem Streit und einem nächtlichen Entweichen der entsetzten Bäuerin wissen.

Der Sintlinger ließ diese schmutzigen Wolken des Argwohns ruhig um seinen Hof spielen, ging sicher und voll freundlicher Würde seinem Geschäft nach und gab sich dem Zuge seines neuen Wesens hin. Alte, gebrechliche Leute, Kinder, die zu schwere Lasten trugen, lud er von der Straße auf seinen Wagen und fuhr sie wohl gar, oft genug auf Umwegen, bis vor die Türen ihrer Häuser.

Selbst dem Glöckchenhorcher aus Hemsterhus, jenem einfältigen Menschen, der durch die Geschwätzigkeit über unirdische Gesichte, die er gehabt haben wollte, so viel zur Schädigung des Sintlingerschen Rufes beigetragen hatte, erwies er ohne einen Schatten von Überwindung Gutes. Ja, als an einem regnerischen Herbsttage der halbsinnige Mensch, in zerschlissener Kleidung, frierend vom langen Bettelgange auf grundlosen Wegen, ermattet an das Hoftor klopfte, wies er ihn nicht ab, sondern schob den alten Knecht unsanft zur Seite, der eben darüber her war, den ärgerlichen Trottel mit einem kräftigen Schupfer über den Hügel hinunter neben die Kropfweiden zu spedieren. Liebevoll zog er den furchtsam Ächzenden ins Haus, stopfte ihm eine tüchtige, warme Mahlzeit in den Leib und ließ ihm außerdem aus einem alten Anzuge und allerhand Wäsche ein gewichtiges Bündel schnüren. Kein Bittender, und mochten es notorische Trinker oder professionelle Sonnenbrüder sein, ging unbeschenkt vom Hofe, kein Unglücklicher blieb ohne Hilfe. Und schoß der Sintlinger auch in der Art seines Wohltuns oft übers Ziel, so wurde er doch nur von seinem leidenschaftlichen Wesen fortgerissen, das eben alle Handlungen so leicht ins Maßlose trieb. Doch haftete ihm keine Spur krankhafter Empfindsamkeit, ungesunder Schwärmerei oder pietistischer Frömmelei an. Offenbar lenkte ihn nichts als die Ergriffenheit eines Menschen, der mit seiner Güte Ernst macht. Sein Weib aber brauchte sich gar nicht zu ändern. Sie ging leise wie immer auf fernen, lichten Wegen durchs Leben, wohl manchmal mit einer leichten Wolke um die Stirn, doch gelassen und tüchtig, besonnen und sanft. Und kehrte ihr Mann von einem Geschäft seiner Nächstenliebe gar zu jagend heim, daß ihm sein Feuer das Gesicht mit fast hektisch roten Flecken von innen her betupfte, dann strich sie ihm die Haare über die Stirn hinauf wie in den Tagen der Entgleisungen durch den Rausch, als sagte sie wie damals: Laß nur gut sein, Andreas, es gelingt dir schon noch, und lächelte ermunternd und glättend seinen Überschwang wieder ins sichere Gleis.

In jener Zeit war es auch, daß irgend jemand die Sintlingersche Bauernburg auf dem Hügel den Heiligenhof nannte. Mag dieser Name immerhin ursprünglich einer scheelen Seele von der Spottlust eingegeben sein und deswegen im Anfang allein dem Mund der Leute schmackhaft geworden sein, gemach bedienten sich seiner auch Ernste und Bedachtsame, vor allem, als man erfuhr, warum sich das Leben des Hofes in solch ernste Schönheit gewendet hatte. Denn seit das blinde Mädchen auf die Füße gekommen war, konnten der Bauer und die Bäuerin ihren Zustand nicht mehr verheimlichen. Nun nahm es jeder wahr, daß das arme Kind, in tiefe Nacht gesperrt, umhertappte. Das Herz der ganzen Gegend erschrak bei dieser Nachricht, und alle Eltern nahmen die Gesundheit ihrer Kinder nicht mehr achtlos als Notwendigkeit hin, sondern kamen sich unverdient beschenkt vor. Nur Nichtswürdige besaßen den bösen Mut, in dem Schicksal des Kindes die Strafe für die vielen Verirrungen des Geschlechts und das tolle Treiben Andreas Sintlingers zu sehen. Die meisten waren von der seltsamen Kraft ergriffen, mit der die beiden das Unglück ertrugen und weise für ihr Leben ausnützten. Es ergab sich von selbst, daß unter den vielen Bewegten genug Tätige sich fanden, die gedrungen wurden, nach dem Heiligenhofe ungebeten Rat und Hilfe zu tragen. Und wie es die Art des Volkes, vor allem der Landleute, ist, verfielen sie nicht auf den naheliegenden Gedanken, den Sintlingerschen Eheleuten zur Kunst eines Arztes zu raten, sondern bestürmten sie mit dem Angebot von allerhand verborgenen Heilweisen. Da sollte das weiße Häutchen, das unter der harten Schale des Habichteies sitzt, dem Mädchen sicher den Blick ins Licht öffnen, weil dieser Vogel der einzige ist, der, ohne zu erblinden, sein ganzes Leben so nahe der Sonne verweilen kann. Kluge Frauen rückten mit siebenerlei Kräutern an, sprachen uralte Gebete über das Kind, beschworen es unter seltsamen Gesten und verbannten das Übel in den abnehmenden Mond, den Wirbelwind oder das fließende Wasser, damit es nicht mehr zurückfinde. Selbst ein Pfarrer aus einem weitab liegenden armen Heidedorfe schickte ein Fläschchen seines unfehlbar wirkenden Augenheilwassers. Manch einen trieb auch die bloße Neugier auf den Sintlingerhof. Diese Übereifrigen schwemmten sich in einer Flut törichter Redeweisen durch die Stuben, begafften alles mit beißenden Augen und wichen nicht eher von der Stelle, bis sie sich aus dem Kaffeekruge der Bäuerin den Leib tüchtig durchwärmt hatten. Anfangs tat die ehrliche Teilnahme so vieler würdiger Menschen dem Vater und der Mutter in der Seele wohl. Sie genossen mit heimlichem Stolz das Erstaunen der Fremden über das engelreine Gesicht Helenens, über das Rätsel der klaren und doch gebundenen Augen und das glockenhelle Stimmchen des Kindes, das von weiterher als aus den Fernen der Brust zu tönen schien. Von ihrem verschwiegenen Glauben an eine möglichst hohe Berufung durch das Wunder, das an ihrem Kinde geschehen war, sagten sie nichts. Mit gebührendem Dank nahmen sie alle Mittel entgegen und stellten dann heimlich die Mixturen ungebraucht zur Seite. Als aber der Schwarm der Eckensteher des Mitleids über die Schwelle strömte, verbargen sie das Kind und fertigten die leeren Zungenschläger immer kürzer ab.

In jene Zeit fiel der Besuch des alten Klim aus Brederode. Den gebrechlichen Mann hatte der tiefe Kummer über das abermalige große Unglück seiner vielgeprüften Tochter von dem Krankenlager getrieben. In Betten gepackt, fuhr er durch den rauhen Vorfrühlingstag auf den Heiligenhof. Da überzeugte er sich denn, daß das Gerücht von der Blindheit seines Enkelkindes leider grause Wahrheit sei. Zugleich spürte er aus den Worten und mehr noch aus dem veränderten Wesen seines Schwiegersohnes ein ihm völlig unbegreifliches Genügen in dem Geschick. Trotz aller behutsamen, von weither kreisenden Fragen brachte er aus Andreas nichts als eine Reihe fatalistischer Floskeln heraus, unter denen dieser den wahren Grund seiner Hingabe an die schwere Fügung verbarg. In Wahrheit fürchtete der Sintlinger instinktiv, den Zauber zu zerbrechen, durch den er aus den dunkeln Strudeln seines Blutes in eine hohe, außergewöhnliche Welt gehoben worden war. Darum schwieg er beharrlich in allerhand ausweichenden Worten, und als der Greis, wie von einem hellen Blitz in seine fast todesklare Seele getroffen,, endlich mit der Frage auf ihn eindrang, ob denn das Leben des unschuldigen Kindes etwa nur der Besen sein sollte, mit dem er seine Stuben rein halte, wurde der Sintlinger blaß und verließ bebend die Stube. Johanna verstummte auch und sah durch ratlose Tränen ihren Vater an, der über so viel unchristliche Verirrung außer sich geriet, weil er wahrnahm, daß auch seine Tochter ergeben an dieser Untat teilhatte. »Ich will heim«, sagte er zum Schluß mit abgeschlagenem Atem, richtete sich mühsam an seinem Stock auf, sah noch einmal entsetzt umher und verließ, jede Unterstützung ablehnend, das Haus.

Doch der Zorn des Greises und seine Frage, die wie ein Stoß gegen seine Brust gefahren war, stürzten den Sintlinger nicht tiefer in unentwirrbare Zweifel und Unruhe. Nicht lange nach dem Weggange des Alten trat er in die Stube, nahm seiner Frau das Kind vom Arme, schwang es im Licht des Fensters hoch über sich und sah ihm von unten lange ins Gesicht. Unter einem herzhaften Kuß stellte er Helene dann auf die Diele und blickte ihr nach, wie sie mit zierlich-schwebenden Schrittchen an der Hand Johannas dahinging.

»Wie?« rief er plötzlich in seiner alten Art, zerhackt und laut. »Wie? Soll ich mich empören, daß das Kind so ist, wie es ist? Wenn es keinen Sinn hat, warum gab es mir Gott so? Eine schöne Art Glauben und steinerne Augen! Nicht? Da war am Ende alles, was in den Nächten über mich gekommen ist, auch nur ein so glänzender, spinnwebiger Zufall. Nein, nein!« Er setzte mit einem Schlag beteuernd die Faust auf seine Brust und ging hohnlachend an die Arbeit.

In diesem Glauben verharrte er, auch als der Hemsterhuser Pfarrer Ardelt, wohl vom alten Klim geschoben, auf dem Heiligenhofe unter dem Vorwand erschien, den Sintlinger für eine Beisteuer zur Ausmalung des alten Kirchleins zu interessieren. Andreas und seine Frau saßen und hörten aufmerksam den beweglichen Worten zu, mit denen der Priester die vielen verborgenen Mängel des Gotteshauses schilderte. Auch die versteckten Vorwürfe der Unkirchlichkeit nahm der Bauer gleichmütig hin und trommelte als Antwort nur leicht mit den Fingern auf der Tischplatte. Als sich aber der Pfarrer im Anschluß daran geschickt dem Unglück zuwandte, das über das Ehepaar gekommen war, und bald in die Rolle eines Bußpredigers verfiel, riß Sintlinger die Hand vom Tische. In seinem Auge flackte es auf. Bleichen Gesichts und steif neigte er sich vor, als wolle er etwas erwidern, faßte sich aber, stand lächelnd auf und trug des Pfarrers Hut und Stock auf den Flur. Dann erschien eine Magd und meldete, daß die Sachen des geistlichen Herrn schon draußen seien. Am andern Tage aber schickte der Sintlinger einen ansehnlichen Beitrag in den Pfarrhof. Niemandes Atem, keines andern Menschen Gedanken als die seines Weibes, und die eigentlich auch nur in einer gewissen Ferne, duldete Andreas auf dem Wege, den er sich selber zum Verwundern beschritten hatte.

Nicht lange darauf rückte es ihm doch die Füße weg.

An einem Abende kam er mit einem Fuder Grünfutter vom Felde heim und hörte über den Hof hin die Mägde davon sprechen, daß der Hemsterhuser Narr dagewesen sei. Er habe sich in die Stube zu dem schlafenden Kinde geschlichen, ein rotes Läppchen aus der Tasche gezogen und es unter Tränen und Verwünschungen über den geschlossenen Augen des Kindes in kleine Fetzen zerrissen. Eine Magd hatte durch das offene Fenster vom Garten her den Vorgang angesehen, aber aus Furcht vor dem unheimlichen Menschen nicht einzuschreiten gewagt. Als die Bäuerin in der Stube erschienen sei, habe sie den Glöckchenhorcher in einer Ecke lehnend gefunden, das Gesicht von verzweifeltem Schmerz entstellt, die Augen starr auf das Kind geheftet. Auf ihren Anruf sei es gewesen, als tauche er langsam aus einem Traume auf. Doch kaum habe er die Bäuerin erkannt, so sei sein Weinen und Wehklagen von neuem angegangen. Nur durch gütliches Zureden sei es gelungen, ihn vom Hofe zu bringen, und nun sitze er drunten am Grenzwege und höre nicht auf, fortwährend die roten Zeugfetzen einzugraben und herauszuscharren.

Der Sintlinger warf den Pferden die Leine über den Rücken, ging unter die Hoftorlinden und erspähte sogleich den Glöckchenhorcher. Der Mensch kauerte zusammengeduckt im Graben und wühlte noch immer in der Erde, mehr ein graues Tier, ein riesenhafter Maulwurf.

Der Bauer erblickte genau die Sehnenstränge des langen, dünnen Halses, und in der tiefen Rinne zwischen ihnen floß der Haarschopf in einem mageren Schwänzchen bis unter den Rockkragen: vielleicht über den ganzen Rücken hinunter, sann der Bauer, und der Kerl ist überhaupt kein Mensch. So fiel den Sintlinger nach all den Aufregungen der letzten Wochen etwas wie ein Grauen an, als wühle der tölpische Alb da drunten an den Grundfesten des Hügels, auf dem sein Hof stand, und ließ er ihn gewähren, so brach eines Tages unversehens alles über seinem Kopfe zusammen und begrub ihn unter den Trümmern. Jäh, ein schreckensheißer Traum, zuckte das in ihm auf. Er mußte die Mütze abnehmen, denn im Augenblick wußte er nicht, was zu machen sei. Endlich überkam ihn die Wut. Er richtete sich auf und schleuderte einen solch gellen Ruf nach ihm, daß der Halbsinnige, wie von einem Geißelhieb getroffen, aufflog und in langen, fahrigen Sätzen nach Hemsterhus davonlief.

In derselben Nacht sprang der Sintlinger plötzlich aus dem Bett, riß ein Pferd aus dem Stalle und galoppierte hinaus in die Finsternis. Wie damals, als das Kind geboren wurde, hörte Johanna die Hufe des Pferdes über den Hügel hinunterwirbeln und, schwächer und schwächer, sich in der Ferne verlieren.

Als sie im grauen Morgen erwachte, lag ihr Mann totenblaß in den Kissen. Sein Gesicht war eingefallen, sah zerpflügt aus, trug aber die Züge gesammelten, wenn auch schmerzvollen Ernstes, und sein Atem ging ruhig. Er lag wie ein übermüdeter Kämpfer, und manchmal zuckte es über seine Stirn, als müsse er das Brennen geheimer Wunden verbeißen.

Ein Weib weiß nichts von den grauen Tieren der Luft, mit denen ein Mann ringen muß, wenn er auf dem Wege bleiben will, auf den ihn ein hohes Erwarten gestellt hat. Wonach er in Unrast immer langen muß, das trägt sie als unerworbene Sicherheit in der Seele. Deshalb glaubte auch Johanna, ihr Mann sei von dem Erscheinen und seltsamen Gebaren des Glöckchenhorchers, gerade wie sie, nicht anders als ein Kind erschreckt und von allerhand ahnungsvoller Sorge in die Nacht getrieben worden. Aber sie traf mit diesen Gedanken nur sehr äußerlich die Not, die über Andreas gekommen war, und erschrak tiefer als je vorher in ihrem Leben, als er erwachte. Er fuhr jäh auf, sah sich wie fremd in seinem Zimmer um und schaute dann sein Weib lange und düster an. Darauf hub er an zu reden. Ohne Einleitung, mitten aus den Wirbeln sprach er von dem Unsinn des Lebens, wenn man denken müsse, daß Menschen nichts als Fangbälle seien, die der Zufall bald so, bald so schlage; daß sich alle Mühe nicht lohne, weder im Guten noch im Bösen, daß es besser sei, gleich dem Hemsterhuser Narren umherzutölpeln, gäbe es etwas wie eine solch bestialische Macht, die es fertig bringt, Eltern dadurch zu strafen, daß sie ein unschuldiges Kind ins Unglück stoße. Das ertrage er nicht einen Tag länger. Hier müsse alles ins reine gebracht werden. Morgen in der Frühe werde nach Münster zu einem großen Doktor gefahren. Der müsse sagen, ob es sich bei seinem Kinde nur um einen gemeinen Faustschlag ins Gesicht handle. Was dann zu geschehen habe, das wisse er und sei entschlossen, nicht einen Augenblick mit dem zu zögern, was sich einzig darauf gehöre. Sie solle alles vorbereiten!. Dann berührte er mit seinen Lippen leicht die bleiche Stirn seines Weibes und sprang von seinem Lager auf.

Alle diese Vorgänge liefen nicht etwa mit dem alten Sintlingerschen Toben durch den Hof; sie ereigneten sich unter gemessenen und ruhigen Formen, daß nicht einmal das Gesinde etwas von dem Sturme merkte, der den Bauern erfaßt hatte.

Wie jeden Morgen trat er auch an diesem Tage um die gleiche Zeit auf den Hof, rückte die Mütze nach hinten und ließ seine aufmerksamen Augen rundum wandern. Er tat es mit absichtlicher Gemächlichkeit. Wenn ihm auch das leise Pfeifen nicht gelingen wollte, das sich sonst von selbst zwischen die Lippen geschoben hatte, machte er doch immerhin den Eindruck eines Mannes, der gewohnt ist, sich vor dem tätigen Zugreifen mit einem Blick auf seinen geordneten Wohlstand anzuregen. Dann rief er den alten Knecht zu sich, der eben, mit einer hölzernen Futterschwinge in den Armen, gebückt aus dem niedrigen Aftertürchen der Scheune heraustrat. Der ungefüge Dienstmann nickte nur auf den Anruf zum Zeichen des Verständnisses seinem Herrn zu und trug dann in unbeschleunigt langen Schritten seinen Hafer in den Pferdestall. Andreas bewegte sich indessen langsam dem Hoftor zu. Dort fand sich der Knecht zu ihm, und ohne ein Wort schlugen beide den Weg ins Feld ein. Der Sintlinger ging mit zu Boden gekehrtem Gesicht, die Hände auf dem Rücken. In mäßigen Wogen zog das Land vom Hofhügel dem Walde zu, der im Schmuck des jungen Eichenlaubes als rötlichgrüne Wolke bald aus der Erde herauswuchs, bald in sie zurücksank, je nachdem die beiden schweigsamen Männer über eine Erhöhung oder durch eine Senke schritten. Auf der höchsten Bodenwelle, der Hohen Kippe, dem Ort, von wo aus man fast das ganze Sintlingersche Gut übersehen konnte, machte Andreas halt und begann dem Knecht Anweisungen über die Arbeiten zu geben, die in der nächsten Zeit notwendig waren. Er sprach ruhig, sogar mit einer Art kalter Beiläufigkeit. Selbst als er, nur wie von ungefähr, sich in Erwägungen über den Verlauf der Ernte, ja sogar den Verkauf des erwarteten Getreides verlor, geschah das so ungezwungen, so ganz in spielerischer Vollendung der tatsächlichen Aufträge, daß der ergraute Dienstbote nichts Verwunderliches darin fand, warum sein Herr über diese ferne Zeit sich schon jetzt Sorgen mache.

»Du mußt wissen«, sagte der Sintlinger am Ende, »ich verreise morgen nach dem Münsterischen hinüber. Es kann eine Woche dauern, auch länger. Frau und Kind gehen mit, und kehre ich nicht am selben Tage mit ihnen wieder zurück, so hat das weiter nichts zu bedeuten. Verstanden? Indessen führst du alles, als ob ich hinter dir stände. Dem übrigen Gesinde, besonders den Weibsbildern, brauchst du davon nichts unter die Nase zu binden. Die machen aus einem Balg eine Katze und aus einer Katze eine Kuh.«

Plötzlich schwieg er. Das letzte Wort wurde ihm förmlich aus dem Munde gerissen. Er reichte dem Knecht die Hand hin, in die dieser einschlug, und kehrte sich hastig um, der langen Wiese zu, die im Schmuck ihrer Maiblumen wie ein breiter goldener Strom von dem Walde her durch die geneigte Mulde sich dem Grenzwege zuwalzte. Dann schluckte er den Gesamtanblick seines wohlbestellten, fruchtreichen Gutes hastig und leidenschaftlich in seine braunen Augen, die sich davon zum Bersten mit tieferer Finsternis füllten, und schritt fast laufend dem Hofe zu, daß der Knecht kaum zu folgen vermochte. Dort begann er sofort einen Rundgang durch alle Gebäude. Das Mittagessen schlang er hastig hinunter. Er warf die Bissen, ohne zu kauen, in den Schlund, sah an Weib und Kind achtlos vorbei und stöberte dann wieder bis in den Abend hinein ruhelos treppauf und treppab, durch Böden, Ställe, Schuppen und Scheunen. Vor dem Schlafengehen war er verschwunden; nach langem Suchen fand ihn Johanna in dem kleinen Garten, der nach dem Rheine zu lag. Es war schon Nacht, aber nur halbe Finsternis; denn der Sichelmond schielte eben bleich über die Hügel herein. Als die Bäuerin geräuschlos das Gartentörchen geöffnet und ein paar auf den Zehen schwebende Schritte den Weg zur Laube hin getan hatte, die an der Giebelwand des Stallgebäudes stand, mußte sie vor Bestürzung stehenbleiben. Sie hörte da etwas, was sie nie für möglich gehalten hätte. Die Stimme ihres Mannes tönte in der Laube ganz leise, ganz versunken, so wie Menschen aus einem fernen Traum, aus verjährtem Sonnenschein singen. Freilich sprach er die Worte mehr gedehnt und gedankenvoll wägend:

»Hätt' ich nun drei Wünsche,
Drei Wünsche alsoviel.
Die sollt' ich gehen wünschen:
Drei Rosen auf einem Stiel.«

Es war die erste von den zwei Strophen eines Liedes, das in jener Gegend sehr junge Leute singen, wenn sie im ersten Verwundern des Lebens und der Liebe stehen.

Johanna wurde davon so im Halse gewürgt, daß sie einen unbedacht lauten Schritt tat.

Da trat ihr Mann auch schon über die Schwelle der Laube zu ihr heraus und sagte: »Gut, ich komme schon.« Ergriff ihre Hand und führte sie ins Haus.

*

Am andern Morgen, lang vor Tag, wurde aufgebrochen. Der Sintlinger nahm auf dem erhöhten Kutschersitz des Jagdwagens Platz, der alte Knecht und Johanna setzten das Kind zwischen sich. Es wimmerte leise und schlaftrunken. Als das Gefährt vorsichtig den Hügel hinuntersank und dann in reißendem Rollen dem schlanken Trabe der Gäule nachlief, verstummte Helene. Ihr Gesichtchen nahm den Ausdruck furchtsam gespannter Erwartung an, und sie zog Arme und Beine an den Körper. Der Sintlinger saß ohne sich zu rühren, ließ die Peitsche pfeifend über die Köpfe der Pferde sausen, wenn sie in mäßigeres Tempo fallen wollten, kehrte sich nicht um, sondern sah stumm und gereckt fortwährend geradeaus. Johanna konnte ohne Empfindung eines gewissen Grauens nicht auf ihn sehen. Er kam ihr unheimlich, fremd vor, fast wie einer, der seine Seele gewaltsam aus sich herausgedrängt hat und nun erstorben hinter ihr herjagt, sie wieder einzuholen, koste es, was es wolle.

Nach zweistündiger scharfer Fahrt hatte man den Bahnstrang erreicht, der von Bocholt herunterkommt. Schweigsam wurde die Übersiedlung auf den Zug bewerkstelligt. Dann trat der Bauer noch einmal rasch an den Knecht heran, der auf dem Bock Platz genommen hatte und sich eben nach der Peitsche neigte, um zurückzufahren. »Du weißt noch alles, was ich dir gesagt habe?« fragte er und sah ihn drohend an. Der Alte nickte nur, lüftete den Hut und ließ die Pferde traben. Andreas sprang auf den Zug und zog sich sogleich wieder in seine innere Ferne zurück, in der er fast auf der ganzen Fahrt verweilte. Kein Disput über die Wahl des Arztes, über dessen mutmaßliche Diagnose und die sich daranschließenden möglichen Maßnahmen, kein Versuch, einander wenigstens durch den Klang der Worte zu Hilfe zu kommen. Johanna machte ein paarmal einen Anlauf, durch Reden der Beklommenheit ihres Herzens zu entrinnen. Der Sintlinger schloß jedesmal als Antwort nur die Augen, lehnte sich zurück und schüttelte abwehrend dm Kopf. Wie man ein gespanntes Pistol, immer den Finger am Abzug, mit sich herumträgt, so verwahrte er seinen unabwendbaren Vorsatz hinter einem Schweigen, das auch ohne jede Freundlichkeit gegen sich war. Ein kühles, mitleidsloses Warten war es, das ihn mitten im Licht in Dunkel und Drohen einhüllte, aber ein Drohen nur gegen ein Unbegreifliches, das im Leeren, wie hinter dem Himmel, auf ihn lauerte. Gegen sein Weib hin wirkte die verfinsterte Abgeschlossenheit als unausgesprochene Versicherung tiefer Liebe.

Nur der Bahnhofstrubel erst in Wesel und dann in Dorsten vermochte auf Augenblicke dem Sintlinger etwas von dem alten Wesen zurückzugeben. Dann lief er mitten in den Strom der ab- und zuhastenden Reisenden, schob sich absichtlich in zusammenballende Knäuel, teilte mit den Ellenbogen Püffe und Stöße aus, schreckte Andringende durch das Lodern seiner Augen aus dem Wege und sog aus den Gesichtern der Entgegenkommenden so viel von unruhiger Hoffnung, lachender Entschlossenheit und sorglosen Übermutes, daß seine Wangen sich röteten. Johanna saß mit Helene auf der Bank vor dem Wartesaal und sah dem Treiben ihres Mannes leidvoll zu. Er beruhigte sie zwar bei der Rückkehr mit der Ausrede, daß er sich habe nach der Abfahrt des Zuges erkundigen müssen, verlor aber schon beim Sprechen jeden Anflug erborgter Fröhlichkeit, und als sie im Zuge saßen, kroch er wieder ganz in seine innere Ferne zurück.

Einmal nur während der Fahrt wurde er aus dieser Vertriebenheit ins Dunkel herausgelockt. Hinter Haltern war es. Der Zug schien, knatternd und keuchend, in der eintönigen Ebene auf derselben Stelle stehenzubleiben, als fresse er sich mit seinen Rädern in den Boden. Hügel tauchten in großer Ferne auf. Erst schielten sie, klein und furchtsam, über den Horizont, als wagten sie sich wegen des Räderlärmes nicht heran. Auf einmal jedoch setzten sie sich alle in Bewegung und wanderten ruckend, aber lautlos, immer näher heran. Jeder schwenkte auf seinem Rücken einzelne Bäume gleich grünen Fahnen, und endlich war der Zug von ihnen umringt. Sein Brausen, das ihn ganz einhüllte, klaffte auch manchmal im Winde auseinander, und man hörte, daß die ganze Maienluft da draußen zum Bersten mit Lerchenliedern gefüllt war. Krähen gingen durch die junge Saat. Doch man sah nur ihre Köpfe wie kleine, schwarze Kugeln wackelnd über die grüne Fläche rollen. Hoch am Himmel stand ein Schwarm weißer Wölkchen, die unbeweglich auf die Erde herunterlauschten.

Die Umgebung trug so ganz die Züge seiner Hemsterhuser Heimat, daß Andreas einen Augenblick seiner inneren Finsternis entzogen wurde. Er machte Johanna darauf aufmerksam. Sie sahen beide hinaus, und während sie schauten, kam ein glühendes Fieber über die hohen Wölkchen. Sie begannen reißend schnell in den Himmel zurückzufallen, wurden kleiner und kleiner und waren spurlos verschwunden, ehe die beiden ein zweites Mal mit den Augen gezwinkt hatten. Dieser Vorgang ereignete sich so unvermutet, daß der Bauer und die Bäuerin tief Atem holten. Johanna lächelte unwillkürlich. Der Sintlinger aber saß mit traumdunklen Augen da, und als sein Weib ihn fragte, was es gäbe, antwortete er, sich vergessend: »So wie die Wolken ... wenn's schon sein müßte, das Sterben wäre schön.«

Da erkannte sein Weib, an welchem Abgrund ihr Mann mit sehenden Augen stand, beherrschte sich aber und gab sich den Anschein, als ahne sie noch immer nichts von seiner inneren Verfassung. Sie bat nur in eindringlicher Güte, ihr mit solchen Worten nicht mehr wehe zu tun. Dabei legte sie nach ihrer Gewohnheit die Hand auf seine und sagte: »Nicht wahr, Andreas, so was sagst du nie mehr? Denn wer die Nacht durchaus will, den überfällt sie unvermutet mitten im hellen Tage.«

Im stillen nahm sie sich vor, ihren Mann nicht mehr aus den Augen zu lassen.

Nun rollte der Zug durch die langweilige Münstersche Fruchtebene. Sümpfe mit ihrem dichten Buschwerk traten bis hart an den Bahnstrang, und endlich erschien am fernen Horizont die alte Bischofsstadt. Als der Sintlinger sie schwarz und zackig aus der rötlichen Abendluft auftauchen sah, flog ein Zug grimmiger Feindseligkeit über sein Gesicht. Er murmelte etwas und sah zur Seite. Sie nahmen nicht weit vom Romberger Hof in einem kleinen Hotel Wohnung, in dem die Bauern bei ihrem Besuch der Hauptstadt abzusteigen pflegten und dessen Name dem Sintlinger von seinem Vater her bekannt war. Wie der Bauer während der ganzen Fahrt an seinem Weib und Kinde vorübergesehen hatte, wohl um durch den Anblick seiner liebsten Menschen nicht von dem verborgenen Entschluß abgebracht zu werden, so behandelte er sie auch jetzt gelassen, aber aus der Ferne, führte sie nach einem einfachen Imbiß auf das angewiesene Zimmer und ging dann, um einen Arzt ausfindig zu machen, der vertrauenswürdig genug war, über den Zustand seines Kindes und damit über sein eigenes Leben zu entscheiden. Das Glück führte ihn günstig, und nach manchem Hin- und Widerlaufen stand er in der Ägidistraße vor dem hohen, prächtigen Hause jenes großen Doktors, der nach seiner gewalttätigen Einbildung in der alten Bischofsstadt leben mußte. Das vornehme Gebäude gehörte dem Doktor Flöreck, einem in jener Zeit weit über Westfalen hinaus berühmten Augenarzt, der von einem thüringischen Fürsten wegen einer beispiellos kühnen Operation an einer Prinzessin den Professorentitel erhalten hatte. Der Sintlinger drang mit dem Ungestüm seines leidenschaftlichen Naturells an den letzten Patienten vorbei durch das Wartezimmer in den Sprechraum des Professors und brachte, plötzlich von tiefem Bangen erfaßt, sein Anliegen in einer Art schmerzlichen Trotzes vor. Doktor Flöreck, ein überaus schlanker, schweigsamer Mensch, nickte nachsichtig lächelnd über das Betragen und die Weise der Erzählung Andreas', und als der Bauer geendet hatte und nun bebend mit verdunkelten Augen in dem bleichen Gesicht dastand, schaute er ernst über den kleinen, sehnigen Mann hin, trat an ein Fenster und sah hinaus auf das abendliche Treiben der Straße. Dann ging er an seinen Schreibtisch, nahm einige Zettel auf, las sie gedankenvoll und händigte dem Sintlinger endlich eine Karte mit dem Bemerken aus, sich morgen früh um acht Uhr mit der Kranken hier einzufinden und das Kärtchen dem Fräulein am kleinen Tisch im Vorzimmer zu übergeben.

Als Andreas nach Hause kam, saß Johanna, die fortwährend in Unruhe nach ihm ausgeschaut hatte, mit Helene in der dunkeln Stube am Fenster. Das Kind horchte mit großen, ängstlichen Augen in den Lärm, der von überallher um das Haus wogte, und da nun die Glocken alle zu läuten anfingen, grub es sich weinend in die Mutter hinein.

Am andern Morgen überfielen den Sintlinger im Wartezimmer des Doktors seine Verfinsterungen wieder tiefer. Denn als er ankam, war der lange, schmale Raum, der nur durch ein einziges, wenn auch hohes Fenster Licht erhielt, von Menschen fast voll, und es herrschte eine beklemmende Stille, wie sie das schmerzvolle Hoffen vieler Halbverzagten hervorbringt. Der Sintlinger wurde mit den Seinen ziemlich weitab vom Eingang zum Ordinationszimmer gewiesen und nahm sein Kind wie schützend zwischen sich und seine Frau: Er verhielt sich den Anwesenden gegenüber in einer Art feindseliger Ablehnung und saß mit zur Erde gekehrtem Gesicht da. Doch wenn er sich aufrichtete, kam es immerhin vor, daß er wider Willen auf die Umhersitzenden einen Blick werfen mußte.

Manche saßen, wie zum Aufspringen bereit, zusammengebogen auf der äußersten Stuhlkante und tasteten mit zitternder Hand von Zeit zu Zeit an der schwarzen Binde umher, die über ihren Augen lag. Andre hielten sich unbeweglich in der steifen Haltung der schon völlig Erblindeten auf ihrem Sitz und fühlten manchmal, von plötzlicher Furcht überfallen, nach ihrem Begleiter, der gleichgültig neben ihnen Platz genommen hatte. Er sah in Augen, die wie tote Milchkugeln in den Höhlen standen, und wieder andere hingen gleich blutigen Blasen zwischen den Lidern. Am liebsten hätte er das Gesicht seines Kindes mit den Händen zugedeckt, um zu verhindern, daß die Verheerung, von der alle befallen waren, auf die klaren Sterne Helenens überspringe.

Da hörte er im Sprechzimmer eine Tür gehen, erhob sich mit einem Ruck und gab Johanna ein Zeichen, das Kind auf den Arm zu nehmen. Über die anderen alle, die Zusammengesunkenen und die stier Dasitzenden, kam auch gespanntes Aufrecken, wie über Angeklagte vor der Urteilsverkündigung. Einige wandten, beleidigt durch das laute Auffahren, mißbilligend ihr Gesicht gegen Andreas. Der aber achtete nicht auf sie, sondern bewegte sich mit langsamen, festen Schritten gegen den Eingang zum Sprechzimmer. Jetzt, da er auf seinen Füßen stand, war er der Gewalt dieser zerschundenen Leben entrückt, und die Gewißheit beseelte ihn, daß jetzt nur noch der Doktor zu überwinden sei. Dann war ihm sein Kind und mit ihm alles gerettet. Da hieß es nur auf der Hut sein, um keine Geste, keine Miene, nicht die leise Beschattung des Blickes zu verlieren, mit der sich Ärzte vor den Patienten heimlich ihre Überzeugung gestehen. Professor Flöreck öffnete die Tür, um damit das Zeichen zum Beginn der Ordination zu geben, und der Sintlinger schritt, ohne sich um die Berechtigung dazu Gedanken zu machen, über die Schwelle. Das Ordnungsfräulein wollte den Bauern zurückhalten, weil noch zwei Patienten vorgemerkt waren. Andreas wandte sich nur mit drohendem Gesicht um, hörte an ihren erklärenden Worten vorüber, sagte über die Achsel: »Schon gut!« und schloß stark die Tür hinter sich, ohne von dem Gelächter und den Rufen des Unwillens im Wartezimmer Notiz zu nehmen. Doktor Flöreck überging mit schonendem Lächeln diese ungewohnte Szene, ließ seinen Blick verwundert von der gütig stillen Frau zu dem flackernd dunklen Mann gehen und traf derweil alle Vorbereitungen zu der Untersuchung. Der Sintlinger rückte mit seinem Stuhl an die Wand und verfolgte mit den schwarzen Augen, die wie die Mündungen zweier Flintenläufe in dem überwachten Gesicht standen, alle Vorgänge. Sein gewalttätiger Wille stellte die Aufmerksamkeit so ausschließlich auf den entscheidenden Moment ein, daß die informierenden Fragen des Arztes über das Alter der kleinen Patientin, mögliche Unfälle, mutmaßlichen Eintritt des Sehunvermögens und mehrere andere fast wie ein belangloses Geräusch fern von ihm hinhuschten. Plötzlich änderte sich die Klangfarbe der Stimme des Doktors. Jede Strenge wich aus ihr, das ohnehin weiche Organ wurde noch klingender. Die Worte hörten sich wie ein heiteres Spiel an. So redete er zu der kleinen Helene, und schon nach wenigen Augenblicken war sie von der sanften Gewalt des Mannes so hingenommen, daß jede Scheu von ihr wich. Sie ließ sich bei den Händchen fassen, duldete glücklich, daß ihr der Professor das Haar und die Wangen streichelte, und war endlich so weit, wie sie der kluge Arzt haben wollte. Sie fühlte die Berührung der fremden Hände wie eigene Gebärden und kam seinen Absichten wie eigenen Wünschen entgegen. Ohne Laut ertrug sie jeden Druck auf die Augen, bewegte sie nach seinem Gebot, schloß, öffnete sie und hielt in froher Erwartung still, während er mit dem Spiegel alle Winkel der geheimnisvollen Klarheit ihrer verschlossenen Augen durchsuchte. Nirgend entdeckte er eine Verletzung, nirgend eine krankhafte Veränderung. Die Iris war ungetrübt, die Linse hing wie ein makelloser Tropfen Tau vor den göttlichen Finsternissen der Netzhaut. Selbst die Anpassungsfähigkeit der Pupille war in beschränktem Maße vorhanden.

Der Sintlinger saß wie zum Stoß vorgeneigt, hatte das Sitzbrett des Stuhls mit beiden Händen krampfhaft gepackt und verfolgte so drohenden Blickes alle Bewegungen des Arztes, als mache er sich bereit, auf ihn zu stürzen. Er wußte nicht, wo er war. Alles, was er sah, ereignete sich hinter grauen Schleiern. Da bemerkte er endlich, daß der Professor sich aufrichtete, gedankenvollen Schrittes an den Schreibtisch trat, sinnend umhergriff und dann, wie er es gestern getan hatte, ans Fenster ging und auf die Straße starrte.

»Gut, jetzt kommt es«, dachte der Sintlinger und war, ohne zu wissen, was er tat, aufgesprungen.

»Herr Doktor«, stotterte er, daß es klang, als wühle er mit seiner Zunge in Geröll, das den Mund erfüllte.

Der Professor, an alle Formen menschlicher Verzweiflung gewöhnt, drehte sich um und sah, die Finger der Rechten am Kinn, den Sintlinger an. Der bebte wie ein gespanntes Seil im Sturm. Doch der Doktor kehrte sich nicht daran.

Er sprach mit milder Stimme von den Grenzen menschlichen Wissens, den Geheimnissen des Menschenleibes, den unerschlossenen Wundern und Launen der Natur und bekannte, daß ihm ein Fall wie dieser, wo bei völliger Intaktheit des äußeren und inneren Auges das Sehvermögen sich auf eine gewisse Lichtempfindlichkeit beschränke, noch nie vorgekommen sei. Alles, was er tun könne, bestehe in dem Rat, in Geduld zu warten, daß die Natur den Schleier, den sie auf so verborgenem Wege vor dieses Kind gehangen, geheimnisvoll wieder wegziehe.

Dem Sintlinger war es, als höre er himmlische Stimmen zu sich sprechen. Um sich zu halten, daß er nicht hinlaufe und dem Mann vor die Füße falle, schloß er die Hände wie Zangen ineinander, lächelte wie irr und wußte nicht, daß ihm Tränen über die Wangen liefen.

Der Arzt meinte die Äußerungen tiefster Verzweiflung zu sehen, trat an den Sintlinger heran, legte seine Hand auf dessen Achsel und sprach ihm noch weiter Fassung und Trost zu. Der Bauer hörte vor innerem Jubel nicht, was der Doktor sprach, und nickte zu allem nur mechanisch, auch als der Doktor bat, seinem Assistenten eine kurze Inaugenscheinnahme dieses phänomenalen Falles zu gestatten.

Kaum war aber der Professor hinter der nächsten Tür verschwunden, so raffte Andreas schnell eine Menge Goldstücke aus dem Beutel, warf sie auf den Schreibtisch und zog seine nutzlos widerstrebende Frau ans dem Zimmer. Lachend sprang er die Treppe hinunter und nahm an der Tür seinem etwas betreten nachfolgenden Weibe die kleine Helene vom Arm. Dann trat er wie im Triumph auf die Straße. Von oben rief ihm der Arzt irgend etwas nach, und auch der Kopf seines Gehilfen erschien am Fenster.

Der Sintlinger hörte wohl seinen Namen rufen, kehrte sich aber nicht einmal um, lüftete bloß den Hut und strebte, wie trunken vor großem Glück, seinem Absteigequartier zu.


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