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Siebentes Kapitel

 

1

Zu jener Zeit hörte eine Magd mehrere Nächte hintereinander ein ruheloses Traben vorsichtiger Schritte von ferne rund um den Sintlingerhof taumeln, und wenn es, nach ihrer Meinung, stundenlang gedauert hatte, so hörte es auf, bald nach Hemsterhus, bald nach Brederode, bald nach dem Rhein oder dem Brindeisenerhügel hin zu, stand eine Weile still und fing dann mit abgetriebenem Atem an, machtlos klägliche Laute auszustoßen, so, als blase etwa jemand in eine zersprungene Hupe, immer leiser, immer schmerzlicher, immer ferner. Die Knechte lachten sie zwar aus und meinten zynisch, sie habe vielleicht ihren eigenen Kuckuck schreien hören. Aber in der folgenden Nacht schlug es erst laut gegen das große Hoftor und dann an das Aftertürchen nach dem Blumengarten, so polternd, daß die beiden Hofhunde wütend zu bellen anfingen, die Knechte von ihren Betten sprangen und unter reichlichem Gefluch mit irgendeinem eilig errafften Knüttel gegen den unbekannten Störenfried vorrückten. Sie meinten ihn wie ein langes Bündel vor ihrem Lauf lautlos in weiten Bogen davonstreichen zu sehen, keuchten eine Strecke hinter ihm drein und kehrten, von der kühlen Nachtluft ganz wach geworden, mit den halben Zweifeln ins Bett zurück, ob ihnen nicht vielleicht am Ende nur ihre eigene Einbildung ein Schnippchen geschlagen habe.

Einer der Knechte aber, der diese nächtliche Schelmenjagd mitgelaufen war, behauptete, nachdem er es tagelang in seinem Kopf gewälzt hatte, es sei nicht eine Person gewesen, der sie im Dunkeln Dampf gemacht hätten, sondern, wenn man ihn zwänge, so sei er bereit, es zu beschwören, er habe zwei Gestalten gesehen, eine männliche und eine weibliche. Der Mann, niemand anderes als der Hemsterhuser Alb, sei davongesprungen wie ein riesiger Grashupfer, und immer hinter ihm, gleich einem grauen erloschenen Irrwisch, habe sich ein Weibsbild, stumm und huschend, davongemacht. Nun hatte sich in jener Zeit wirklich in den Wäldern um Brederode und Hemsterhus eine vagabundierende Frauensperson eingefunden, die, ganz menschenscheu, in den einsamsten Dickichten sich aufhielt, über Tag auf den Blößen nach Beeren, Wurzeln und Pilzen ausging und beim Herannahen von Menschen, fauchend wie eine Katze, davonlief. Einige wollten sie näher gesehen haben und beschrieben sie, kielkröpfig, tiermäßig blöde und häßlich, als eine Hexe. Andere behaupteten, noch nie so etwas Schönes, aber auch so Wildteufelsmäßiges von Frauenzimmer in ihrem Leben vor Augen gehabt zu haben als diese Landstreicherin, nur gaben auch sie zu, daß sie sicher nicht mehr Verstand habe wie eine Wagenrunge und keine Sprache besitze, sondern nur gurre wie eine Taube und schrille wie ein Eichhorn.

Nicht lange nach diesen Vorfällen trug irgendein Bettler die Nachricht auf den Sintlingerhof, der Niemand-Alb habe in der ganzen Gegend das Gerücht ausgestreut, daß er vor Andreas Sintlinger nicht mehr seines Lebens sicher sei. Der Bauer binde ihn auf hexenhafte Weise, locke ihn in die Nähe seines Hofes und verfolge ihn dann nächtelang durchs Feld. Und wenn er sich nicht davonmache, so sei es um ihn geschehen. Seit zweimal vierundzwanzig Stunden sei er denn auch tatsächlich aus der Gegend verschwunden.

Wahrscheinlich habe ihn das Weibsbild aus der Gegend gelockt. Ein Brederoder Fuhrmann, der zweimal in der Woche zu Dingden im Westfälischen auf dem Bahnhof Langholz ablud, behauptete, ihn zwei Tage später, mit dem »Mensche«, an einem Waldrand getroffen zu haben. Sie hätten voreinander gesessen, sich angestaunt wie Heiligenbilder und wären dann, lachend und weinend in einem, wie besessen nach entgegengesetzten Richtungen davongerannt, aber nur, um das Spiel mit Voreinandersitzen und verzückt Anstaunen wieder von vorn zu beginnen.

Als man dem Bauer diese Nachricht überbrachte, brach er in schallendes Gelächter aus. Doch mitten in diesem Tollen der Heiterkeit war es, als verschlucke er sich. Das Lachen wurde ihm plötzlich wie aus dem Halse gerissen. Er verfärbte sich, und das verlorene Leuchten kam in seinen Augen auf. So stand er eine Weile, schüttelte kaum merklich mit dem Kopf, ließ ein ungläubiges Lächeln um seinen Mund spielen, schnippte dann mit den Fingern und schritt weiter. Diesen selben Nachmittag aber ließ er das Pferd aus dem Stalle führen, auf dem er in der Nacht nach dem Erscheinen des Hemsterhuser Albes umhergeirrt war. Der alte Knecht mußte es striegeln, ihm die Mähne kämmen und den Sattel und das Zaumzeug anlegen, den es in jenen finsteren Stunden getragen hatte. Dann hieß der Bauer den alten Knecht das schöne, mutige Tier besteigen und gab den Befehl, es möglichst weit von hier, nach Bocholt, Haltern oder wohin er wolle, auch nach Wesel, wenn es ihm gerade einfiele, auf dem Markt an irgendwen um jeden Preis loszuschlagen und nur darauf zu denken, daß es unter keinen Umständen in die hiesige Gegend zurückkäme. Der bejahrte Knecht, dessen Stolz und Liebe gerade dies seltene Tier bildete, sprang, da er wußte, daß Widerspruch bei dem Sintlinger nichts nutzte, wütend in den Sattel, hieb zornerfüllt auf das Pferd ein und flog ohne Gruß durchs Tor, den Hügel hinunter. Als der Hufschlag nicht mehr lauter aus der Ferne klang, wie wenn man die Nägel der Finger gegeneinander knacken läßt, ergriff der Bauer eine Schaufel und begab sich hinaus an jene Stelle des Waldes, wo er einst gelegen und im Anblick des Herbsthimmels um das Verständnis des Wunders gerungen hatte, in das sein Leben durch das Schicksal seines Kindes eingeschlossen war. Dort hob er mit vier tiefen Stichen ein Stück Rasen aus dem Boden und trug es vorsichtig hinunter an den Grenzweg. Er erweiterte die Grube, in die der Niemand-Alb einmal die roten Läppchen verscharrt hatte, setzte den kleinen Rasenranft hinein, trat alles gut fest und reinigte den Fleck so von der übergequollenen Erde, daß kein Mensch eine Veränderung wahrnahm oder im mindesten daran zweifeln konnte, das Gras habe seit jeher an diesem Orte gezweigt.

Am Abend saß er auf der Hoftorbank und träumte in den laulichen Maiabend hinein.

Johanna meinte nun nicht anders, ihr Mann sei wieder von geheimer Furcht vor dem Glöckchenhorcher erfüllt und zu diesen Maßnahmen von dem Bestreben geführt worden, die Wege zu verwischen, auf denen die verderbliche Macht dieses Halbsinnigen sich in sein Schicksal einschleichen könne. Jedenfalls hielt sie die Zeit für ungemein günstig, vielleicht etwas die Tür zu seinen geheimen Gedanken zu lüften und ihn so dieser gefahrvollen Seeleneinsamkeit zu entreißen. Nach Beendigung ihrer abendlichen Beschäftigung fand sie sich deshalb bei ihm ein und begann, neben ihm Platz nehmend, nach einigem Hin und her über das Wetter, die Wirtschaft, den Viehstand und die Dienstboten, kleine Geschichten von Leuten zu erzählen, die dadurch in Not geraten waren, daß ihr Leben die verderblichen Kreise höllischer Menschen berührt hatte.

Der Sintlinger spürte gar bald, wo sein Weib hinauswollte. Er ließ sie aber ruhig reden, ja, rupfte nicht einmal an manch einer Entgleisung, und die liebe bedrängte Frau wußte so nicht genau, ob er sich für ihre Erzählungen interessiere, oder ob seine aufgeschlossenen Sinne nur dem Verschwinden des Tages hingegeben waren, der mit dem Licht einblinzelnder Augen und einem Brausen wie leiser Harfenton über das Gewoge der Hügel davonzog. Als sie geendet, hob er langsam den Blick aus dem eindunkelnden Himmel und sagte: »Du irrst«; nichts weiter sprach er und versank wieder in Schweigen.

Nach einer Weile merkte sie, wie er sich bückte und etwas von sich warf.

»Na, was habe ich aus meiner Hand fallen lassen?« fragte er.

»Ein Stein, ein Gras, irgendwas. Ich kann's nicht wissen vor dem Dunkel«, antwortete Johanna.

»...und was ich denk' und was mir ist, willst du doch wissen. Nicht, Weiblein? Und ist doch noch viel dunkler drum herum wie da der Abend um uns.«

»Vielleicht, wenn du mir etwas davon sagtest, wär's nimmer so dunkel. – Du, Andreas!« sprach Johanna sehr dringend.

Der Sintlinger antwortete nicht gleich, sondern nahm seine Hände zwischen die Knie und verfiel in Brüten.

Endlich schüttelte er abwehrend den Kopf, richtete sich auf und strich seinem Weibe milde über die Stirn. »O nein«, sagte er dabei, »der Vogel, der auf dem hohen Baum nicht schwindlig werden will, muß droben ausgebrütet sein. – Aber so viel will ich dir sagen: Es gibt viel Helle, die von keinem Licht, und viel Duft, der von keiner Blume kommt. Und viele Berge stehen ganz ohne Erde in uns. – Jawohl. Deswegen wird es auch Seelen geben, die ohne Augen sehen können. Man kann vielleicht auch Wagen, ohne die Arme zu erheben, und jemand treiben, ohne aufzustehen. Der Niemand weiß das, weil er ein Narr ist, und ich, weil ich mich vertauschen kann, das heißt, trotzdem ich keiner bin.«

Johanna wurde bei diesen seltsamen Worten von schwerer Angst befallen, denn ihr Mann sprach ja fast, wie er es früher oft im Rausch getan hatte.

Der Sintlinger spürte, wie sie bebte, und sagte mit mildem Verweisen: »Siehst du, Johanna, kaum daß du auf meine Schwelle trittst, stolperst du, und da willst du in mein Haus. Nein, nein! Ich bitt' dich, schleich mir nicht immer mit deiner Furcht nach, versprich mir's! Einmal, wenn's nicht mehr anders geht, will ich schon reden. Aber besser ist, du hörst nichts.«

Sein Weib hatte ihren Kopf, die Hände vors Gesicht geschlagen, auf seine Knie gelegt. Er streichelte ihren Rücken entlang, während er sprach, und fühlte das leise Zucken verhaltenen Weinens. Da schwieg er, und als es ganz still war in ihrem Leibe, sprach er begütigend: »Ich meinte vorhin, du irrst. Damit wollte ich sagen, du irrst, wenn du glaubst, ich hätte aus Furcht vor dem Niemand-Alb das mit dem Pferde und dem Loch am Grenzwege getan. Ganz und gar nicht. Aber ich will nicht immerfort erinnert werden, daß ich einmal so dumm war, mich von einem Narren ins Bockshorn jagen zu lassen. – Und nun komm schlafen. Es ist schon spät.«

Der Sintlinger hob Johanna von seinen Knien auf. Drüben auf dem Brindeisenerhügel verriegelte man eben das Hoftor. Der grobe, tiefe Baß des Bauern ertönte in einem mißmutigen Gespräch mit einem Zweiten, der nie antwortete. Das Trappen schwerer Schaftstiefelschritte irrte schlaftrunken über die Krappensteine des Hofes und vertorkelte sich in einem Winkel hinter dem Knarren einer Tür. Darauf war nichts mehr wach als atemlose Finsternis.

Der Sintlinger sagte plötzlich bedrückt: »Das war der alte Brindeisener.«

Dann gingen beide ins Haus.

Im Flur ließ Johanna den Arm ihres Mannes fahren und eilte unter dem Vorgeben, das vergessene Kopftuch holen zu müssen, noch einmal vor das Tor. Dort stand sie erst und lauschte, ob der Sintlinger ihr folge. Aber sie hörte ihn geruhig die Stubentür öffnen und schließen.

Da breitete sie die Arme in die Nacht, umschlang den Stamm der Linde und begann stumm zu weinen.

 

2

In diesen Zustand ihrer Seele fiel die Heimkehr des alten Knechtes. Er war widerstrebend, eigentlich in offenem Zorn, mit dem Pferde zu Markt geritten. Bedrückt kehrte er zurück, ohne Sattel, ohne Zaum, nur mit einem Stock, den er sich aus einem Strauch am Wege geschnitten hatte, das bare Geld im Beutel, ganz nach dem Befehl des Sintlingers. Aber was er über die seltsamen Vorkommnisse zu berichten hatte, die nach dem Verkauf des Pferdes eingetreten waren, rechtfertigten nicht nur seine Beklommenheit, die ihm wie ein Faustschlag im Nacken saß, sondern war wirklich geeignet, ein zaghaft gewordenes Herz in Verwirrung zu läuten.

Er hatte sich mit dem Verkauf des Pferdes, das war die Erzählung des alten Knechtes, überhaupt von Anfang an geschert. Nur in Wesel, auf einem kleinen Plätzchen am Ende der Stadt, sei so etwas wie ein Pferdemarkt gewesen. Allein es war dies eigentlich auch nur ein Stelldichein der ärgsten Krippensetzer, Kollerhunde und Senkbäuche der Umgegend, und an der Halfter jedes Gaules hingen immer zwei Gauner, der Besitzer und der Käufer, beides Händler, die sich unter Aufbietung aller Verschlagenheit bemühten, einen Nichtsahnenden anzulocken und mit dem Schlagwerk ihrer Zungen so lange zu bearbeiten, bis er eine Ziege von einem Pferde nicht mehr unterscheiden konnte. Kaum daß der alte Knecht durch den Schwärm der halben und ganzen Halunken und Klepper einmal mit seinem Braunen rund um den Platz gezogen war, hatte er heraus, in was für eine Küche er gekommen sei, schwang sich in den Sattel und stob möglichst unauffällig aus der Stadt. Aber dieser Aufenthalt von kaum einer halben Stunde auf dem Markt in Wesel hatte genügt, ihn und seinen Braunen bei allen Roßkämmen des Umkreises anzumelden, und wo immer er nur eintrat, empfing man ihn mit dem gleichen Achselzucken, dichtete man seinem Tier dieselben Fehler an und behandelte ihn dergestalt, daß er am Ende wirklich nicht mehr wußte, ob er sein Pferd zu Recht am Zügel führe oder gestohlen habe. Zuletzt habe wahrhaftig die ganze Gegend nach Lug und Betrug gestunken, und es bemächtigte sich seiner ein solcher Grimm, daß er einen Tag lang nur immer geradezu geritten sei, um aus der Bande dieser Halswürger wieder heraus und zu ehrlichen Christenmenschen zu kommen. Am Abend dieses selben Tages, es war der vierte nach seinem Auszug aus dem Sintlingerhofe, ritt er mißmutig in ein kleines Städtchen ein, und neben ihm ging ein freundlicher, wohlgekleideter Mann, halb Herr, halb Bauer. Der sah immer verstohlen auf den schönen Gaul und dann auf die Seite, als ob nichts gewesen sei, und der Knecht dachte bei sich, das sei auch einer von den vielen, die das Pferd mit den Augen kaufen und mit dem Verlangen bezahlen, und fing ärgerlich an, alle Unkosten zusammenzurechnen, die er bis jetzt gehabt. Wie er so Posten um Posten aufeinanderlegt und eben zu dem Entschluß kommt, mag daraus werden, was wolle, nur noch einen Tag sein Pferd aller Welt feilzuhalten, klopfte der Fremde, der sich immer neben ihm gehalten hatte, dem Pferd auf die Backe. So kamen sie ins Geplauder. Aus dem Reden wurde ein Handel und aus dem Handel ein Geschäft, und ehe der Glöckner zum Abendläuten über den Markt ging, saßen sie am Fenster des Gasthauses und stießen über dem geschlichteten Handel geruhig ihre Schöpplein zusammen. Der Knecht trug die geforderten siebenhundert Mark bei Heller und Pfennig im Sack, und der Hausdiener hielt draußen den Braunen für den neuen Herrn bereit, der ihn diese Nacht noch nach Hause reiten wollte, nur zwei Stunden von da. Kinder fanden sich ein, ein ganzer Schwarm, und bewunderten das schöne, fremde Tier. Auch Männer und Weiber unterbrachen den Vorübergang und stellten sich zu kurzem, wohligem Gaffen hin. Plötzlich stand da mitten unter all den Leuten ein Kerl, dürr und lang wie eine Erntegabel, angezogen wie eine Krautscheuche, mit einem Kopf nicht größer als eine Gänsebirne, und verschlang mit seinen unruhigen, brennenden Affenaugen fast den Gaul. In diesem Augenblicke wird der Hausdiener von irgendwem in den Gasthof gerufen. Er bindet das Pferd an den Baum und geht davon. Auf einmal entsteht ein Gegille und ein Geschreie unter der Menge. Ehe es jemand verhindern kann, hat der lange Vagabund das Pferd vom Baum gerissen und ist gragelig wie ein Frosch, aber doch flinker wie eine Katze, im Sattel. Dann prescht er wie ein Wahnsinniger über den Markt, und ehe die beiden, wenn auch wie geworfene Steine durch die Tür geflogen, im Nu draußen sind, ist er fort. Sie können nichts ausrichten, als hinterherlaufen wie die übrigen, und sehen den Dieb schon die Straße hinunter aufs freie Feld zu reiten. Es schmeißt den Kerl hin und her, daß man meint, jetzt und jetzt muß er herunterfallen. Aber er bleibt wie angebunden oben und ist, wie mit Teufelsöl geschmiert, im nächsten Augenblicke um die Ecke verschwunden.

Das war die Erzählung des alten Knechtes, und als er geendet hatte, da sah er auf die Bäuerin und den Bauern, merkte an dem schnellen Atem des Weibes, ihrem Erblassen, dem Ducken des Blickes und dem leisen Lächeln, das des Sintlingers Mund umspielte, daß beide, so gut wie er, wußten, wer den Braunen auf Nimmerwiedersehen in den Abend hinausgeritten habe. Darum überlegte er, daß es besser sei, die ganze Geschichte mit Schweigen zu verscharren, schluckte auch seinerseits den Namen hinunter, der ihm schon die Zunge kitzelte, und trödelte sich dann nach alter Gewohnheit umständlich zur Tür hinaus.

Aber der Tischler soll noch geboren werden, der einen Kasten zu machen weiß, in den man Schatten sperren könnte. Und je mehr sich jedes bemühte, vor dem andern den harmlos Gleichgültigen zu spielen, um so lauter schrie es das ganze Sintlingerhaus voll, alle Flure hin, durch Ställe und Böden, um den Hof her, sauste in den Kronen der Bäume und schwirrte mit den Vogelflügeln ums Dach: Der Niemand-Narr hat den Braunen gestohlen. Am tiefsten erregte es Johanna. Aus dem unteren Schacht ihrer Vergangenheit stieg die Erinnerung an den tollen Sturm während ihrer Hochzeitsnacht; aus dunkeln Gründen überlief sie das Zittern, unter dem sie nach der Empfängnis Helenens den Unglückslaut des Glöckchens gehört hatte; sie erlitt noch einmal die Qualen, unter denen sie die Erkenntnis der Blindheit ihres Kindes hatte zugeben müssen. Und wenn sie das seltsame Gebaren dieses Wahnbetörten an der Wiege ihres Kindes, sein rätselhaftes Verschwinden aus der Gegend und dieses Vereiteln der geheimen Absichten ihres Mannes zu seiner Abwehr überlegte, so empfand sie ihr und ihres Mannes Schicksal von dem Fangarm einer höllischen Macht umschnürt und zermarterte ihr Denken, diese Gefahr abzuwenden oder dieses Drohen aus dem Dunkel als Einbildung, als einen Hexenschuß ins Hirn, zu begreifen. Es war umsonst. Nicht lange und sie hörte in den Nachten fortwährend die Hufschläge eines Reiters um den Hof irren, erst in ganz fernen Kreisen, dann immer näher, und endlich vernahm sie oft das Stampfen und Schnauben eines Rosses so deutlich, als ritte der Niemand-Alb an ihrem Bett vorbei, mitten durch die Schlafstube; und wenn er zum Fenster hinausgebraust war, und sie sah seine langen, baumelnden Beine in die Luft hinauf verschwinden, lag sie erst ein wenig und erholte sich von der Beklemmung der Angst; dann fühlte sie vorsichtig um sich oder machte Licht, sich zu überzeugen, ob ihr Mann und ihr Kind von demselben Gesicht wie sie gepeinigt worden seien und noch heil in ihren Betten lägen.

Einmal nahm sich Johanna doch ein Herz, und als es gegen die zwölfte Stunde wieder mit dem Traben anfing und so zunahm, daß sie es wie Sand an die Scheiben fliegen hörte, stand sie leise auf, schlich sich in die Gesindestube, zog dort schnell einen Rock und eine Jacke über, bezeichnete sich mit drei Kreuzen und begann dann durch den pechfinsteren Flur gegen die Haustür hin zu tappen. Sie war entschlossen, dem Unhold entgegenzutreten und, konnte es nicht anders sein, mit ihrem Leben den Zorn dieser unterirdischen Mächte zu brechen. Das Herz schlug ihr, als wolle es zum Halse heraus; aber sie faßte sich, drehte den Schlüssel, der zu ihrem Erstaunen nicht schloß, und trat auf den Hof hinaus. Aber kaum, daß sie ins Freie trat, hörte das Reiten um die Mauern auf, als wäre es aus der Luft geblasen.

Die Nacht bewegte lautlos ihre dunklen Tücher um die Dächer, und Johanna war durch das plötzliche Verstummen des gespenstigen Getöses so betroffen, daß sie weder rechts noch links, noch vorn oder hinten unterscheiden konnte. Deswegen begann sie auf gut Glück um sich zu greifen. Dabei kam sie einer dunklen Gestalt immer näher, die regungslos neben ihr im Finstern stand und drohend ihr entgegenwuchs. Sie wollte schnell sagen: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, wer bist du?«, brachte aber nichts über die Lippen als das angstvolle Pfeifen eines sterbenden Hasen und begann zu wanken. Starke Arme fingen die Sinkende auf, und als sie sich erholt hatte, stand der alte Knecht neben ihr. Von dem erfuhr sie, daß auch er Nacht um Nacht das Reiten des Albes vernähme, und wie sie eben heruntergekommen sei, um dem Unwesen ein Ende zu machen. Sie nahm ihm das Versprechen ab, über seine Wahrnehmung zu schweigen, und ging ins Bett zurück.

 

3

Seit dieser Nacht stand es in Johanna fest, daß sie nicht länger mehr zögern dürfe, einen Ausweg aus diesem unerträglich gewordenen Zustande zu finden. Da sie aber in diesem Bestreben sich die Seele schon ins pure Taumeln hinein abgemüht hatte, ohne je das fernste Blinzen einer Rettung zu erspähen, sah sie ein, daß es das geratenste wäre, ihren Kummer einer weisen, verschwiegenen Seele zu Rat und Hilfe anzuvertrauen. Nur wie man im Vorübergehen achtlos einen Zaun streift, berührte sie die Möglichkeit, sich dem Pfarrer Ardelt von Hemsterhus zu entdecken; zog aber schon bald die Fühlfäden ihrer Seele zurück und warf sich dem Plan in den Arm, zu ihrem Vater zu gehen und rückhaltlos all ihre Not und Furcht vor ihm auszubreiten.

Von jenem Tage an, da der alte Klim, um an seinem Zorn nicht zu ersticken, so schnell aus dem Sintlingerhofe gegangen war, weil seine Kinder nichts zur Heilung ihres blinden Mädchens hatten tun wollen, war der Greis, ohne je wieder einen Fuß nach Hemsterhus zu rühren, in seinem Austraghause zu Brederode geblieben und lebte, soviel man hören konnte, nur dem Dienst der Erinnerung an seine gestorbene Frau. Ohne Zorn, aber scheinbar auch ohne Liebe, aufrecht und still, trug er den Gedanken des unversöhnlichen Abscheidens von seinen Kindern.

Dies abgewandte, nur in der unerratenen Tiefe schmerzvoll bewegte Greisenantlitz erschien jetzt vor Johannas suchenden Augen, und erschüttert von der Gleichgültigkeit ihres eigenen Herzens, erkannte sie nicht nur das Unrecht, den nächsten Menschen vor der zugeschlagenen Tür ihres Schicksals solange stehen gelassen zu haben, sondern sah auch ein, daß es höchste Zeit sei, aus den Schätzen dieser heimziehenden Seele so viel Segen wie möglich in ihr Dasein zu leiten.

Deswegen wartete sie einen Tag ab, an dem ihr Mann in Geschäften vom Morgen bis zum Abend in der Kreisstadt gehalten wurde. Auf den Sintlingerschen Feldern, die an Brederode grenzten, waren diesen Tag die Saaten von Hederich und Disteln zu reinigen, und Johanna wußte es einzurichten, ohne daß die Mägde es merkten, ihren Vater zu besuchen. Sie ließ nämlich im halben Nachmittag die Arbeit abbrechen und schickte die Dienstboten, die Tragtücher mit Disteln vollgepackt, nach Hause. Die Bäuerin selbst wollte, wie sie vorgab, auf dem Umweg über die Rheinhügel auf dem Fahrwege nachkommen. Kaum aber waren die Mägde mit ihren hohen Distelhucken hinter dem ersten Bodenstoß ruckend untergetaucht, so raffte Johanna ihren Rock herauf und lief den Abhang hinunter nach Brederode zu. Als sie drunten im Buchengrund im Schutz der Bäume angelangt war, sprang sie gar geradezu, als jage jemand mit der Peitsche hinter ihr her. So war sie bald im Hause des Vaters. Der saß am Tisch, das blaue Sacktuch und die silberne Schnupftabakdose neben dem Buch, und las in einem Heiligenspiegel. Als Johanna unvermutet eintrat, hob der Greis den Kopf, erkannte sie, fuhr in der Verwirrung mit dem Finger aufs Blatt, um das letzte Wort festzuhalten, und nahm die Brille von den Augen. Die Bäuerin hatte an der Tür einen Augenblick in Scham und Liebe gestutzt; als sie jedoch die Greisenhand mit der Brille bebend durch die Luft sinken sah, ergriff sie das so, weil das aussah, als winke ihr der Vater ein letztes Mal mit verwelkter Hand schon aus dem Grabe. Da wurde das sonst so gefaßte Weib ganz von ihrer Beherrschtheit verlassen, und mit einem Lachen, das sich mehr wie ein leiser Schrei anhörte, stürzte sie dem Greis an die Brust. Der merkte sofort, an welchem Kraut ihr Leben kaute, und als die ersten Erschütterungen vorüber waren, setzten sich die beiden auf die Bank, und die Tochter schüttete vor ihrem Vater alles aus, was sie bedrängt und verfolgt hatte, doch nicht so, als ob sie mit Schmerzen an dem Los trage oder schwächlich um Verzeihung bitte. Nein, wie es sie in Wahrheit umklammerte, aus der Sorge um ihren Mann heraus, sprach sie von allem, was sich seit dem Weggange des Greises auf dem Sintlingerhügel zugetragen hatte: von dem Erscheinen des Hemsterhuser Albes und seiner Läppchenscharrerei, der Irrnacht ihres Mannes, der Fahrt nach Münster, vom Verschwinden des Niemand-Narren aus der Gegend und seinem gespenstischen Auftreten vier Tage später so weit im Lande drin bei dem Verkauf des Pferdes. In allem redete sie die Wahrheit, nur damit wich sie von den Tatsachen ab, daß sie ihren Mann als bedrückt, furchtsam und verirrt schilderte, nicht verzweifelt, doch wie einer, dem der Rat eines klugen, guten Mannes fehle, damit er sich auf seinem Wege wieder sicher fühle.

Der alte Klim hörte sich das alles in herzlichem Mitgehen an und pries die Fügung, daß er vor dem Verschwinden ihnen doch noch einmal nützlich sein könne. Es wurde alles für den nächsten Sonntag besprochen. An dem wollte der Alte etwas wie ein Fest feiern, natürlich nur für sie und sich. Da sollte alles, soviel an ihm liege, aus der Welt geschafft werden.

Unter dem Gespräch der so lange getrennt Gewesenen stand der Abend unversehens wie ein Dieb draußen und schielte durchs Fenster, ehe die beiden ganz ans Ende gekommen waren, und Johanna mußte davongehen, um vor dem Eintreffen ihres Mannes schon auf dem Hofe zu sein. Ungesehen war sie hereingeschlüpft, unbemerkt von dem neuen Bauer ging sie auch von ihrem Vater. Sie jagte förmlich die Raine hinauf. Ihr war plötzlich leicht zum Tanzen, und als sie aus dem Buchengrunde heraustrat, stieg gerade die letzte Lerche singend zu den vom Abendrot glühend geränderten Wolken empor, die regungslos in dem vertieften Himmel lagen. Sie nahm das als ein günstiges Zeichen und vergaß sich so vor Glück, daß sie sich bückte, eine Handvoll Blumen pflückte und mit den Blüten nach dem Liebe in der Luft warf.

Indessen wurde noch denselben Abend in diesen Wein hochgehender Hoffnungen mehr als ein Quentchen eines Wassers gegossen, das ihre sonst so sichere Seele wieder in Wirbel versetzte.

Der Sintlinger hatte unterwegs von dem Postboten einen Brief des Mannes erhalten, an den durch den alten Knecht der Braune verkauft worden war. Diesem Schreiben lag das Blatt einer Zeitung bei, in der ein Bericht über den Erfolg der polizeilichen Nachforschungen nach dem Verbleib des gestohlenen Pferdes enthalten war.

Holzfäller des Freiherrlich Deckertschen Forstes hatten auf dem morgendlichen Gange nach ihrer Arbeitsstätte mitten im Walde das schwache Wiehern eines Pferdes vernommen. Als sie dem Laute nachgingen, fanden sie hinter einer Dickung an einen Baum angebunden das Roß, das der Unbekannte an jenem Abend aus dem Städtchen geritten hatte. Es trug noch dm Sattel, das Zaumzeug und alle Zubehör, mit dem es beim Verkauf versehen gewesen war, befand sich aber in einem solchen Zustande des Elends, stand abgemagert, mit schlotternden Beinen und herabhängendem Kopfe da, daß es auf den Zuruf der mitleidigen Männer kaum die Augen rühren konnte. Vor Schwäche vermochte es selbst nicht mehr zu kauen. Auf dem Wege aus dem Walde brach es zusammen und verendete. Der Bericht fügte noch hinzu, daß der mutmaßliche Dieb aller Wahrscheinlichkeit nach ein Artist sei, den der Direktor eines reisenden Zirkus wegen Anzeichen geistiger Störung in jener Zeit entlassen habe.

Im Anschluß an diese Nachricht beruhigte der Sintlinger sein Weib mit milden und eindringlichen Worten, aus denen hervorging, daß er nicht nur um ihre Angst, sondern sogar um ihren und des Knechtes Versuch zur Vertreibung der eingebildeten Mitternachtsritte wußte. Er legte ihr nahe, wie Menschen allein durch Seelenschwäche unter die Räder solcher Geisterwagen kämen, sonst aber ungestört auf dem Wege fortwandelten, der ihnen vorgeschrieben sei.

Allein, anstatt dem Zuspruch ihres Mannes nachzugeben, brachte es Johanna nicht fertig, die Tatsache dieser wiederholten nächtlichen Beunruhigungen als Wahn aus ihrem Gedächtnis zu wischen, einmal, weil nach ihrer Meinung für deren Wirklichkeit das Zeugnis des alten Knechtes sprach, zum andern, weil sie sich dann ganz ins Pfadlose gestoßen sah. Denn, wenn nicht vom Einfluß dieses albischen Niemand, woher rührte dann die Angst und Furcht in ihr und diese Verwandlung des Sintlingers, aus dem jede Wallung des Aufbrausens, jede Möglichkeit einer Entgleisung in seine früheren Fehler so ganz in versonnener Stille untergegangen war, daß er ihr oft als ein unbegreiflicher, unbekannter Mann erschien.

In der Nacht, die dem Besuch bei dem alten Klim voranging, träumte Johanna von einem Menschen, den sie auf allen Wegen der Welt im Dunkel laufen sah. Er eilte durch die Dörfer und Städte der Erde und versuchte die Häuser aufzuschließen, aber er besaß einen Schlüssel, der nirgends paßte. Sie kannte den Mann nicht, trotzdem sie alle Stunden des Schlafes im Traume hinter ihm her war, denn wenn sie ihm so nahe war, daß es ihr gelingen mußte, sein Gesicht zu sehen, wandte er sich ab und schlug einen anderen Weg ein.

Beim Erwachen versank wohl die Deutlichkeit ihres Traumerlebnisses, aber der Schmerz, den seltenen Mann nicht erkannt zu haben, war im Wachen womöglich noch stärker geworden. Darum ging sie, um sich zu sammeln, hinter den Hof und vertiefte sich in den Anblick des Himmels. Sie stieg mit ihren Blicken von Wolke zu Wolke, immer höher hinauf und gelangte in jene Tiefe des blauen Weltallsabgrundes, wo selbst die reinsten Wolken verzagen. Wenn sie sich ja einmal hinwagen, müssen sie sofort verschmachten. Dort, ganz, ganz hoch, hörte Johanna ein Brausen gehen; aber sie vernahm es mit jenem geheimnisvollen Gehör, das den Menschen sonst nur im Traum erschlossen wird. Ein ganz leises Rauschen ging über allem Gewölk in diesen unendlichen Fernen, und man hörte es ihm an, daß es seit Ewigkeit da oben hinstrich. Doch das war nicht das Seltsamste. Was die Bäuerin am lebendigsten hinnahm, bestand darin, daß auf irgendeine Weise in dem leisen Brausen die Unruhe des Mannes enthalten war, dessen Schlüssel in kein Schloß der Welt paßte.

Während sie einen Augenblick den aussichtslosen Versuch machte, dem Zusammenhang zwischen ihrem Traum und diesem geheimnisvollen Höhenlaut nahezukommen, stand plötzlich ihr Mann neben ihr und erinnerte sie lächelnd an die Fahrt zu ihrem Vater.

Auf diese alltäglichen Worte hin sah der Sintlinger sein Weib zusammenzucken und erbleichen. Dann schloß sie ein wenig die Augen und ging mit ihm ins Wohnzimmer zurück.

Sie fuhren nicht die Straße durch Hemsterhus, sondern der Bauer lenkte des Kindes halber um den Hof herum und kutschierte in gemächlicher Fahrt hügelauf, hügelab durch die Felder, und die kleine Blinde saß in die Arme ihrer Mutter zurückgelehnt und genoß mit verklärtem Gesichtchen das Vorüberstreichen des weichen Julilichtes. Sank der Wagen einen Abhang hinab, so kam in ihre Mienen ein glückliches Fürchten, als ginge es in die freie Luft hinein. Fuhren sie an Bäumen vorüber, so fragte das Kind, wer so groß und regungslos am Wege stehe. Und als sie in den Buchengrund einbogen, den kleinen Wald, der schon zu dem früher Klimschen Gute gehörte, erstaunte Helene, wie man eine so hohe, weite Stube zu machen imstande sei, daß man darin fahren könne.

Der Sintlinger wurde des Verwunderns über sein Kind nicht müde, auf das alles ihm Vertraute und Bekannte in einer Art wirkte, daß er hinter den Dingen einen neuen Sinn, ein anderes Leben wandeln sah, und er hielt oft an, etwa mit ihr dem leisen Laut nachzuhorchen, den ein schwacher Luftzug durch die Ährenfelder trieb, oder mit dem Kinde das hohe Vorüberhuschen eines Vogelliedes zu kosten. Und wenn er dann zu Helene sprach, klang seine Stimme noch vertiefter, als von dem Staunen und der väterlichen Liebe her. Dieser Ton kam aus einem solchen lichten Abgrunde, daß Johanna sich zurücklehnen und ihrem Mann unbeobachtet ins Gesicht schauen mußte. Auf einmal war es ihr, als spreche nicht ihr Mann, sondern als höre sie das milde Brausen über den Wolken tönen, und der Mann saß neben ihr, der einen Schlüssel besaß, der in kein Schloß der Welt paßte. Da überfiel sie ein Schreck, was werden sollte, wenn der Sintlinger in das Haus ihres Vaters trete und mit diesem Ton zu reden anfinge.

Sie faßte darum sofort in die Leine und bat ihren Mann, umzukehren, denn ihr sei plötzlich unwohl geworden. Johannas Gesicht war wirklich sehr blaß. Ein paar Schritte auch nur, und das Haus des Alten trat unter ihnen hinter den Obstbäumen hervor. Deswegen trieb er die Pferde etwas an. Der Greis guckte hinter dem Fenster dem schnellen Herannahen des Gefährtes zu. Er schwankte, ob er den Besuch draußen an der Tür empfange oder sich in der Stube überraschen lasse, brachte es nicht ins reine, ergriff den Stock, ließ ihn fahren, setzte das Käppchen auf, hing es wieder hin, ging zur Tür, beugte sich ans Fenster und saß, als der Sintlinger rasch von draußen hereintrat, fast verlegen am Tisch.

Peitsche und Hut in der Rechten, mit steifen Armen die Tür weit in die Stube haltend, blieb der junge Bauer auf der Schwelle stehen, rief dem Greis einen ungezwungenen, heitern Gruß zu und unterrichtete ihn mit einer kurzen Bemerkung von dem Unwohlsein seiner Frau. Dann eilte er unter einem Nicken des Kopfes wieder hinaus zu seinem Gefährt.

Er spannte es mit Hilfe eines Knechtes aus, den der neue Bauer sofort hergesandt hatte, ließ die Tiere dann in den Stall führen und stand aus Höflichkeit noch eine Weile plaudernd bei dem neuen Besitzer. Auf dem Gange in das Beihaus seines Schwiegervaters wählte er in einer Art schalkhafter Neckerei den Weg durch das kleine Torpförtchen. An der Giebelwand des Wohnhauses stand scheinbar noch derselbe Holzstoß, in den seine Johanna jenen Blumenstrauß verborgen hatte, den er ihr im ersten Liebesrausch an die Brust gesteckt hatte. Im Vorbeigehen streifte er die Stirnseite der Scheiter und lächelte dabei.

Beim Eintritt in des Schwiegervaters Stube fand er die blasse Schwäche schon ganz aus dem Gesicht Johannas gewischt. Der Greis rief ihm aus der Nebenstube spaßhaft zu, daß es mit dem Unwohlsein seiner Tochter nichts auf sich gehabt habe.

Sie strahlte vor Freude, als sich Helene dem Großvater so ganz ohne Scheu hingegeben hatte, und lief beglückt hinter den beiden drein, die ohne Aufhören durch alle Stuben wanderten. Der Alte erstaunte im stillen über den sicheren, unerschrockenen Schritt der kleinen Blinden, über das feine Gefühl, mit dem sie den Gegenständen auswich, über ihre Klugheit und Fröhlichkeit, am allermeisten aber über den Ausdruck ihres Auges, wenn sie es bei seinen Worten horchend zu ihm heraufkehrte, verschloß aber jede Bemerkung in sich, die mit dem betrüblichen Zustand seines Enkelkindes auch nur von fern in Beziehung stand.

Anfangs war Helene überhaupt der Mittelpunkt, und besonders der Alte und Johanna schoben, wenn das Gespräch eine andere Wendung nehmen wollte, immer wieder die Kleine in den Vordergrund der Unterhaltung, als ob sie, gleich zwei Verschworenen, fürchteten, durch eine Unvorsichtigkeit ihren Plan zu verraten. Der Sintlinger aber gab sich ohne jede Beschränkung ganz dem Frohgefühl hin, das ihn beherrschte. Er tanzte sogar mit Helene singend durch die Stuben, und die Bäuerin nahm wahr, daß seine Stimme nichts mehr von dem Klang besaß, der sie auf der Herfahrt so erschüttert hatte. Seine Worte hörten sich im Gegenteil manchmal an, als seien sie noch aus der wilden Zeit in ihm zurückgeblieben: sie hatten den Ton von Erzkugeln, die mit kurzem Wurf an ein Metallbecken geschleudert werden. In diesem schnellen, schneidigen Aufzucken der Rede ihres Mannes lag etwas ungemein Tröstliches für die junge Frau. Eine bunte Woge Jugend ergoß sich daraus über sie. Fast in einer Art seligen Taumels drängte ihr Herz aus den Schatten und Bedrängnissen der Gegenwart in das Licht ihrer schönsten Zeit, aber ohne daß sie mit einem Worte jener Tage gedachte. Nur sprach sie beflügelter, ging schwebender, lachte klingender und begriff im geheimen nicht, wozu und warum sie ihren Vater um Hilfe hatte anrufen können.

Der alte Klim aber, endlich müde von dem Stubenlauf mit Helene, saß in seinem Lehnstuhle und legte sinnend die Dose von einer Hand in die andere. Er war im Anblick der Heiterkeit des Sintlingers und seiner Tochter eher geneigt, dem eignen Zweifel an der dauernden Sicherheit der ernsten Lebensführung seines Schwiegersohnes recht zu geben, als an dessen Kummer und die Ratlosigkeit zu glauben, von dem ihm seine Tochter gesprochen hatte.

»Ach, ihr Kinder, nu da, da!« rief er im Laufe des Tages öfters aus dem fröhlichen Spott seiner alten, weisen Seele heraus und lächelte kopfschüttelnd über die beiden, die unglücklich sein sollten und in ihrer scheinbar unbeschwerten Fröhlichkeit durchaus beneidenswert aussahen, und wenn er sich nicht täuschte, fuhr seine Tochter bei jedem Räuspern, das klang, als hole er zu gewichtigen Worten aus, mit einem beschwichtigenden Blicke über ihn. Deswegen beschloß auch der Greis bei sich, es der Führung des Zufalls oder, noch besser, den beiden zu überlassen, ob an einen Schatten gerührt werde, der vielleicht nur in der Einbildung seiner Tochter bestand.

Das Mittagessen ging vorüber. Die leichte Buntheit sank von allen ab. Der neue Bauer und sein Weib, schrotbrave, umgängliche Menschen, kamen zu kurzem Geplausch und entfernten sich wieder. Helene verlangte zu schlafen und wurde im Nebenzimmer untergebracht. Der alte Klim nickte in seinem Lehnstuhl ein.

Der Sintlinger begab sich wieder zu dem neuen Bauer und trat mit ihm einen Versehgang durch die Viehställe an. Johanna aber ging unter die Haselstauden am Abhang, ein Stück vom Hause weg, an ihren Kinderträumeplatz. Dort setzte sie sich in den tiefen Schatten der runden, öligen Blätter, zog wie als Kind die Beine hoch herauf, stützte die Ellenbogen auf die Knie und versank in ein träumerisches Anschauen der Wiese, auf der sie der Sintlinger beim Bleichen getroffen hatte.

»Nein, nein!« sagte sie nach langem mit glücklich lächelndem Wehren; aber da war ihr Kopf schon auf die Arme gesunken, und sie schlief.

 

4

Der Schlaf der Greise ist göttlicher als der der Menschen in der mittleren, stärksten Zeit des Lebens; denn während diese auch in den Stunden der Ruhe nicht ganz aus den Banden ihrer Pläne entlassen werden und nach dem Erwachen ohne Zögern den Anschluß an ihr Tagwerk finden, hängt der Traum, dieses Dämmergewölk der Ewigkeit, noch eine Weile um das erwachte Auge der Alten, daß sie vor den gewohnten Bildern ihrer Umgebung staunen, als seien es Erscheinungen einer fremden Welt, ja, daß es wohl vorkommen mag, eine solch still gewanderte Seele meint, der Durchgang des Schlafes sei ihr unversehens zum Tor des Todes geworden, und was sie Liebes auf Erden verlassen, begrüße sie nun schon verklärt im Himmel.

Als der alte Klim erwachte, lag sein Witwerheim, das weiß getünchte Stübchen mit der dunkelgrünen Girlande unter der Decke, in dem etwas verschütteten Licht des übervollen Nachmittags, und in dieser Helle bebte der Abglanz unruhiger, weißer Wolken. Ein Wogen lag um den Greis. Die Wände schienen nichts Festes zu sein. Sie schwankten wie Laken, an denen ein gemächlicher Wind herumbauscht, die Girlande baumelte wie ein richtiges Laubgewinde, und dem Bauer war es nicht anders, er schwebe wallend durch die Höhe über die Erde, in einem fliegenden Leinwandzelt, und vor den Fenstern, die irgendwie darin saßen, sah er sonnenbeschienenes Gewölk vorüberquellen.

»Ja, so wird's einmal gehen«, sann der Greis in halbem Traum und Wachen und ließ zu stillem Nachkosten des schönen Gesichtes seine Augen abermals zusinken. Als er sie wieder öffnete, hatte sich das Erwachen vollendet, und er erkannte seine Stube, wie sie immer war. Auf der Bank, die um zwei Seiten des Zimmers lief, kauerte sein blindes Enkelkind in aufmerksam hingebender Haltung, und neben ihr saß der Sintlinger, den Ellbogen auf das Fensterbrett und den Kopf so in die Hand gestützt, daß er das Gesicht seines Töchterchens gut betrachten konnte.

Jetzt sah der Alte, wie Helene sich zurückbog und die Händchen in das Licht hielt, gerade als sei der schimmernde Strahl der Sonne nicht ein flüchtiges Zittern durch die Luft, sondern ein Wasserböglein, das ihr die gehöhlten Händchen mit prickelnder Wärme füllte. Was wir mit den Augen begreifen, umfaßte sie mit dem weit stumpferen Sinne des Gefühls. Als säße unsichtbar unter jedem Fingerspitzchen ein lichthungriges Auge und trinke den Sonnenstrahl. So auch wie einen schlürfenden Mund hielt Helene jede Hand ins Licht, und ihr Gesicht hatte den Ausdruck erfüllter Verklärung, nicht anders, als sei sie ein sehender Mensch, der im Segen einer stillen Helle steht.

Als der Sintlinger diese geheimnisvolle Art zu schauen an Helene beobachtete, war er mit eins wieder in dem staunenden Gefühl eines tiefen Lebens und Webens, das hinter den gewohnten Formen und Vorgängen der Welt einem Ziele zueilt, das vielleicht tiefer und herrlicher ist, als es wir Sehmenschen je erfahren können. Der junge Bauer beugte sich noch weiter vor, um womöglich in den Augen seines Kindes etwas zu entdecken, an dem sein Ahnen sich weiter in den Zauber hineinzutasten vermöge. Er bekam dabei jenen Zug des Kummers und Schmerzes ins Gesicht, der sich in die Stirn und um den Mund der Menschen gräbt, denen tiefes Nachdenken ungewöhnliche Mühe macht.

Der alte Klim aber, der alles dies beobachtet hatte, mißverstand den Ausdruck in dem Gesicht seines Schwiegersohnes und meinte, nun habe den Sintlinger der Gram über das Unglück seines Kindes gepackt, den er bisher unter buntem Lärmen so geschickt und tapfer verborgen gehalten habe. Er erinnerte sich seines Versprechens an Johanna, meinte, nun sei der rechte Augenblick zum Eingreifen gekommen, setzte sich räuspernd auf, und als Andreas deswegen von seinem Betrachten herumfuhr und den Greis fragend ansah, nickte der ihm tröstend zu und sagte herzlich: »Laß gut sein, Andreas!«

»Oh, es ist gut, unbegreiflich gut«, antwortete der junge Bauer in aufgelöster Art.

»Aber es wird noch immer besser werden, man darf da nicht verzagen. Ja. Mit dem Verzagen ist's wie mit dem Aufladen: je mehr man aufladet, desto stärker muß der Wagen sein.«

Helene ließ bei des Greises ruhiger Art zu reden davon ab, die Sonnenstrahlen mit den Händen zu fangen, suchte tastend nach dem Tisch, rutschte das kleine Stückchen die Bank hin und setzte sich lauschend zurecht.

»Lenlein denkt, es setzt eine Geschichte«, sagte der Sintlinger lächelnd und fuhr dabei seinem Kinde kosend über die Locken.

»Da hat sie nu freilich recht«, sprach der alte Klim weiter. »Denn es ist eine lange, lange Geschichte, die ich gedreht habe, wenn ich dahier in dem Stuhle gesessen bin. Wohl, wohl, liebes Helenlein! Ja, ja. – Aber wenn man so als Mensch Gottes Ratschlüsse begreifen will, da ist man nicht anders wie eine Fliege, die in der Nacht aufwacht und aus der Stube möchte. Immerfort fliegt sie gegen die Wand, bis sie sich taumelig gestoßen hat, und daneben, vielleicht nicht drei Handbreit weiter, steht das Fenster auf. Bei so was, mein Lieber, soll man in Ruhe das Fenster suchen. Na, und bei Menschen ist's außerdem auch noch ein wenig anders: man soll nicht mehr Verzagen aufpacken, als man tragen kann.«

Der Sintlinger hatte sich währenddessen wieder zum Fenster gewandt und hinausgesehen.

»Sieh mich mal an, Sintlinger, du«, sagte der Greis liebevoll dringend, denn er glaubte, sein Schwiegersohn verberge aus Schmerz sein Gesicht.

»Red' du ruhig, Klim-Vater. Wenn ich die Augen wegdreh', seh' ich dich eigentlich besser als anders.«

Unter diesen Worten des Sintlingers war seine Frau eingetreten. Als sie den tiefen Klang seiner Stimme hörte, verschwand sogleich der Ausdruck wohliger Verschlafenheit von ihrem Gesicht. Leise, wie sie eingetreten war, verharrte sie auf der Schwelle, sah von einem zum andern und erfaßte die Situation. Ihr Vater deutete auf ihren Mann und machte ihr Zeichen, sich geräuschlos irgendwohin zu drücken und vor allem zu schweigen.

Doch da drehte sich der Sintlinger schon um.

»Ach, da bist du ja auch«, sagte er lächelnd.

»Nicht? – Es ist eine Schande. Bis jetzt habe ich unter den Haseln geschlafen«, antwortete sie und setzte sich dabei an den Tisch.

»Er will mir nicht antworten«, platzte der Greis heraus, »nicht einmal ansehen will er mich.«

Der junge Bauer lächelte und sagte zu seinem Weibe: »Wenn ich ein Licht in der Laterne stecken habe, wozu brauche ich da ein zweites anzuzünden?« Dabei deutete er mit freundlichem Spott und steifem Daumen über die Achsel nach dem Alten.

»Ich versteh' dich nicht, Andreas, wie du's meinst«, antwortete Johanna und streifte mit einem Blick ihren Vater, der ihr ermunternd zunickte.

»Nu ja, ja«, sagte der Sintlinger, lang ausatmend, und erhob sich von seinem Fensterplatz. »Komm, Lenlein, wir werden uns das Wetter ansehen.«

Die beiden sahen ihn ruhig und aufrecht durch die Tür gehen und schauten dann einander ratlos an.

»Er ist richtig einirdisch geworden«, sagte der alte Klim, »Hanna, er gibt Antworten wie ein Haus. Die Stimme hat er auch verloren, hast du gehört, wie er red't?«

Seine Tochter saß am Tisch, zupfte an ihren Fingern und konnte kaum die Tränen bezwingen.

Auch der Greis kam ins Starren. Aber mit einem riß er sich auf: »Nein, nein, er ist wirklich in eine schwarze Mühle geraten. Aber da heißt's anklopfen, und wenn's nicht anders ist, andonnern, und das gleich. – Heute – jetze – denn ich kaue sozusagen an den letzten Halmen. Da ist nichts aufzuschieben. Herr, du meine Güte!«

Johanna gab ihrem Vater recht, rief nach der Wirtschafterin und schickte die alte Frau ihrem Manne nach, sie solle ihm das Kind abnehmen und ihn hereinschicken.

Noch während sie eifrig miteinander berieten, wie an den Armen heranzukommen sei, trat der Sintlinger wieder ein. Johanna erhob sich und sah zum Fenster hinaus. Der Greis wog aus Verlegenheit mit zur Decke gerichteten Augen die Dose in der Rechten. Es herrschte eine bedrückte Stimmung. Andreas setzte sich auf die Bank, faltete die Hände zwischen den Knien und sah ruhig zur Erde. Dann sagte er versonnen: »Ihr hättet mich sollen nicht 'reinrufen. Es wäre besser gewesen. Denn nun ist's möglich, daß ihr 'rauslaufen müßt. Aber vielleicht soll es endlich so sein!«

»Lieber Andreas«, sagte der alte Klim nun, »das mein' ich eben auch. Sieh, wie ich vorhin aufwachte, wußte ich eigentlich nicht gleich, bin ich gestorben oder lebe ich noch. Na, und wenn ich fort sollte und ich wüßte, du hättest dein Unglück immer noch nicht verwunden, da kannst du mir glauben, ich fände im Grabe keine Ruhe. – Andreas, man muß sich fassen! Schüttel du ruhig den Kopf. Mich alten Mann machst du nicht irre. Wie der Köhlerhof abbrannte, stand der Bauer mitten im Korn und pfiff. Das kenn' ich alles! Man kann auch aus Angst pfeifen. Siehst du, und ungefähr auf dem Flecke stehst du.«

Johanna war auf ihren Stuhl zurückgekehrt. Der Sintlinger stützte den Ellenbogen auf den freien Fensterplatz und bedeckte mit der Hand seine Augen.

»Red' weiter«, sagte er so, da der Alte, eine Pause machte.

»Nun, ich meine, wie mir Johanna gesagt hat, der Münstersche Doktor spricht, daß das mit Helene nicht immer dauern wird. Da soll man sich doch nicht ins Finstere hineinwühlen, sondern alles Gott dem Herrn anheimstellen, sich aus der Prüfung einen Stecken schneiden, daß man leichter fortkommt, und nicht eine Rute zum Selbstpeinigen. Unser Herrgott hat den alten Tobias blind und wieder sehend gemacht. Er wird's bei dem Kinde auch fertigbringen, verlaß dich drauf.«

Während der letzten Worte war der Sintlinger aufgesprungen und mit allen Zeichen der Ungeduld durch die Stube gegangen. Jetzt, als der Greis geendet hatte, trat er an ihn heran, legte ihm die Hand auf die Achsel und sagte mit beherrschter Bewegung: »Lieber Vater, wir verstehen uns ganz und gar nicht. Ich kann keinem Bettler und Landläufer nichts Böses tun. Was sollt' ich da dir was wegnehmen. Laß gut sein. Sorge dich um mich nicht. Ich geh' und bestell's Einspannen, und wir scheiden in Frieden. Die Furche, die ich 'nausgeackert habe, geht woanders hin. Adje. Komm, Johanna, und hol' das Kind.«

Der junge Bauer trug eine leuchtende Blässe im Gesicht, und seine Augen brannten in tiefem Feuer.

»Gib mir deine Hand, Andreas«, sagte der alte Klim ergriffen.

Der Sintlinger tat es. »Leb wohl«, sprach er.

Der Greis schüttelte den Kopf.

»Nein, so mein' ich das nicht«, redete er, »wir sind doch Männer und können in Ruhe miteinander uns besprechen. Du tust mir nicht weh. Geh. Geh, setz' dich und sag', was du auf der Seele hast. Da wollen wir sehen, wer im Rechte ist.«

Auch sein Weib drang liebreich in ihn, sich nicht zu verschließen. So ging er zögernd auf seinen Platz und saß und schüttelte den Kopf.

Danach wartete er noch etwas, wobei er sein Gesicht abgekehrt hielt und auf die offene Tür ins Nebenzimmer sah, als sollte irgendwer durch sie hereintreten. Das dauerte lange.

Unvermutet fing er dann an zu reden. Anfangs wußten die beiden eigentlich nicht, daß es die Stimme des Sintlingers sei. Johanna vernahm erschreckt den Laut des Sausens über allen Wolken, und dem Greise waren die Worte unkenntlich und unerklärlich wie das eigene Reden in einem nächtlichen Traum, das man wohl hört, doch weder hindern kann noch versteht.

»Der Sperber frißt den Sperling, der Sperling den Käfer, der Käfer das Blatt. Keines tut unrecht, denn es muß leben, und was stärker ist, hat Gewalt, und was Gewalt hat, herrscht. So geht es auch in uns. Der stärkere Gedanke frißt den schwächeren auf. Auf die Art nimmt unsere Gewalt zu, und was uns sonst wie mit Stricken gebunden hat, peinigt bald nicht mehr schlimmer wie eine Mücke, die gegen das Auge fliegt.

Alles, was du sagst, Vater, mir zum Tröste, ist längst in mir aufgefressen, auch Trost selber. Denn wer Trost braucht, ist unglücklich, ich aber bin es nicht.

Früher bin ich über die Straßen getanzt, durch die Schenken und in den Sälen. Jetzt tanze ich in mir. Niemand merkt was. Aber ich komm immer tiefer und weiß erst jetzt, wo die Welt anfängt.«

So sprach der junge Bauer.

Allmählich waren die beiden aus dem Taumel gekommen, von dem sie durch diese unerwarteten Worte eingesponnen worden waren, und saßen und wagten einander nicht anzusehen.

Der Sintlinger aber hatte die Ellenbogen auf die Knie gestemmt und die Hände vor die Augen gedrückt. So zusammengekrümmt saß er und atmete, da er aufgehört hatte zu sprechen, langsam und tief, als schlafe er.

»Aber das Kind«, sagte der alte Klim, weil er nicht recht wußte, was der Sintlinger meinte.

»Auch des Kindes halber nicht«, antwortete Andreas in derselben wie schlafwandelnden Art, ohne seine Haltung zu ändern. »Wenn jemand einen Trost brauchte, bin ich es nicht, sondern Gott.«

»Aber es ist blind«, warf der Alte ratlos ein.

»Wenn es blind wäre, ja, um so mehr brauchte Gott einen Trost, wie jemand, dem eine Torheit oder etwas Unrechtes passiert ist.«

»Andreas«, rief Johanna ringend.

Der alte Klim hatte die Hände ineinandergekrampft und sah aus totblassem Gesicht verzweifelt ins Leere.

»Na ja«, antwortete der Sintlinger seinem Weibe, »sei schon gut. Wenn es wäre. Aber es ist ja gar nicht blind. Es braucht sie bloß nicht, es sieht über die Augen hinaus.

Du hast doch gemerkt, Johanna, daß unser Mädchen den Baum am Wege gesehen hat und den Wald und die Vögel in der Luft. Nicht? Antworte mir.«

»Ja, freilich, aber doch nicht mit den Augen.«

»Und womit denn?«

Johanna lehnte sich schmerzvoll zurück, zog die Achseln in die Höhe und sagte: »Ach Gott, das weiß der Himmel!«

»Na, womit also, Vater? Sag' du's!«

Der Greis gab keine Antwort. Er hatte das Kinn auf die Faust gestützt und sah finster auf den Tisch.

»Nun, ich will's euch sagen. Mit der Seele. – So, damit sehen wir alle. Die Augen sind nur ein Umweg. Und was wir in der Seele sehn, ist ein anders, als die Welt in unsern Augen. Deswegen gibt es hinter der Augenwelt noch eine Welt. Und jedes Ding ist doppelt. Und während ich lebe, lebe ich zugleich hier und wie hinter fernen Büschen ... und aus jener Seite des Daseins sieht mein Kind auf die Welt, auf mich, auf dich, Johanna, und auf dich, Vater. Und deswegen möchte ich singen, wenn sie einen ansieht, und das Leben ist einem gelungen. Keine Unruhe peinigt mehr.«

Der Sintlinger war, ohne es zu wissen, aufgestanden, und als seine strömenden Worte wie an ihrer eigenen Überfülle leiser, immer leiser geworden waren, machte er einige bewußtlose Schritte gegen die Tür des Nebenraums.–

Das war zu viel.

Der alte Klim fuhr jetzt auf, setzte seine Dose hörbar auf den Tisch und sagte höhnisch lachend:

»Haha. Ja. Gut. Und was hat der Doktor gesagt? Der Doktor hat doch auch Gedanken! Wie?«

Die ganze alte Abneigung, der unterdrückte Widerwille gegen den »Räuber« und »Peiniger« seines einzigen Kindes überschlug sich in dem Hochbejahrten, der durch seinen Schwiegersohn seine tiefsten Lebenssicherheiten bedroht sah.

»Jetzt frage ich, und du wirst antworten!« setzte der Greis noch bebend hinzu und stieß einigemal den steifen Zeigefinger auf den Tisch. Der Sintlinger fuhr aus seiner Verzückung auf und stutzte über den ungewöhnlichen Ton des Alten.

»Der Doktor?« fragte er ruhig und kalt.

»Jawohl, der Doktor«, wiederholte Klim streitbar.

»Der Doktor? – ist ein Narr«, antwortete der junge Bauer endlich wegwerfend und lehnte sich leicht gegen den Türpfosten.

»Aber Andreas, du bist doch selbst gesprungen, als er sagte, unser Lenlein wird wieder sehend«, damit mischte sich Johanna dazwischen.

»Da war ich eben auch närrisch, Liebe«, antwortete der Sintlinger lächelnd.

»So, und da meinst du, weil es dir so in deinen tollen Kopf paßt, hat der Doktor unrecht, und dein Kind soll lebenslang blind bleiben!« rief Klim immer erregter.

Aus des Sintlingers Auge fuhr ein Blitz. Aber er bezwang sich und sagte ruhig:

»Lieber Alter! Es ist ja gar nicht blind. Es ist mehr als sehend, niemand macht doch ein rundes Rad viereckig. So. Sela! Komm, Johanna! Mit der Kartoffelmaschine kann man nicht dreschen.«

»Ja, freilich nicht, haha«, erwiderte der Greis höhnisch, »und ein Wagen ohne Langgurt fällt auseinander. Und dir fehlt die Langgurt, Sintlinger, die Lebenslanggurt, der Glaube!«

Andreas achtete nicht auf die Worte des Alten; mit einem reißenden Ruck verließ er seinen Platz an der Nebenzimmertür und ging federnd durch die Stube, seine Sachen zusammenzusuchen. Er sah am Topfschrank nach, neben dem Uhrkasten, auf der Bank, unter der Bank, summte wie singend immerfort vor sich hin: »Wo? – Wo? – Wo?« pfiff manchmal leise auf, hustete lachend durch zusammengeschlagene Zähne kurze Stößlein, kriegte bebende Hände, schluckte an seinem Atem wie an brühheißer Suppe und konnte sich endlich nicht mehr halten.

Er blieb mitten in der Stube stehen, warf jetzt an dem alten Klim einen Blick wie ein funkelndes Messer vorbei und fragte stechend: »Wie?« und fuhr dann mit loderndem Auge über sein Weib hin. Aber beide wagten keinen Laut mehr. Der Greis hatte mit einer Hand die Tischplatte ergriffen, mit der anderen umklammerte er die Dose und starrte ungläubig und etwas stumpf auf den Sintlinger. Johanna sah flehend auf ihn.

Der junge Bauer war jagend einen steilen Berg hinaufgeprescht.

»Wie?« fragte er den Greis abermals ins Gesicht und brach dann in Gelächter aus, das dauerte, bis er aschfahl im Gesicht war und das Glänzen von Tränen in den Augen hatte.

»Du denkst, alter Mann, ich Hab' eine Narrentrommel als Schädel. Sonst würdest du nicht wagen, mit mir wie mit einem Kinde zu sprechen«, sagte er dann dumpf.

»Ich habe meine Pflicht als Christ«, antwortete der Alte kalt, »dem Irrenden recht zu raten.«

Wieder brach der Sintlinger in schallendes Gelächter aus. Darauf war es totenstill in der Stube.

»Ich habe meinen Christenglauben, meinen kostbaren Christenglauben ...« stotterte der Greis. Da schlug die Uhr.

Der Sintlinger sprang hinzu, hielt den Perpendikel an und faßte die Gewichte, als sei er im Begriff, die Uhr herunterzureißen und im großen Bogen fortzuschleudern.

»Um Gottes willen, was ist denn plötzlich in dich gefahren, Andreas?« schrie sein Weib auf.

»Laß gut sein«, sagte er, sie beruhigend, und sah unverwandt, die Lippen aufeinandergeschraubt, mit fressenden Augen den Greis an.

Endlich sprach er unnatürlich leise nach dem alten Klim hin: »Du, mit deinem Christenglauben, du, du: wenn ich einen Stein hebe und aus der Hand lasse, fällt er 'runter ... nicht ...?«

Der Greis neigte den Kopf und schwieg.

»Ja, und wenn der Regen aus der Wolke tritt, muß er zur Erde fallen. – Was? – Oder könnte etwa die Wolke am Himmel stehenbleiben, wenn der Wind geht? – Oder der Stein von selber wieder in die Luft fliegen und das Wasser bergauf laufen?«

Er ließ die Uhrgewichtsketten los und näherte sich dem alten Klim einen Schritt.

»He, du, wenn das sein könnte, wenn das ein einziges Mal bloß sein könnte, da dürften wir auf einmal nicht mehr sicher auf Tag und Nacht rechnen und auf Sommer und Winter, und die Sterne am Himmel wären unsicher wie die Ziegel auf dem Dache.«

Der Atem ging wie ein Sturm durch den Sintlinger, und da er jetzt schwieg und den Kopf tief auf die Brust senkte, wurde der wie von reißendem Wogengange auf und nieder gehoben.

Johanna stürzte der Gedanke, ihren Mann habe der Wahn gepackt, betäubend wie ein Schlag in den Kopf. Sie erhob sich taumelnd, um zu ihm zu eilen.

»Bleib du, liebes Weib, sitzen«, begann er aufs neue in eiserner Ruhe. »Es geht weder um meinen noch um deinen Kragen. – Aber dem Irrenden muß recht geraten werden. Nicht, Klim-Vater? War es nicht so? –

Nun, und meinst du etwa, es hätte jemand in oder außer der Welt die Gewalt, den losgelassenen Stein nicht fallen und die Wolken nicht fliegen zu lassen, wenn der Wind geht? – Ein einziger?«

Da schnellte der Greis empor wie ein dürrer Baum, den ein Erdstoß heraufgeschleudert.

»Sintlinger«, schrie er beschwörend, »... du ...! Denke, was du sprichst! Es ist ein Gott im Himmel!« Doch nun kam ein strahlendes Lächeln in das Gesicht Andreas'.

»Jawohl«, setzte er scharf ein, »auch Gott nicht. Nicht ein Stäubchen kann er daran ändern! – Nichts! – Haha. – Oder wenn er's täte, wäre er wie ein Mensch, der sich selber das Leben nimmt. Das seht ihr alle nicht ein, du nicht, der Pfarrer nicht und der Münstersche Doktor erst recht nicht. – Johanna, wenn uns das Schicksal in unserer Helene einen Engel geschickt hat, wird es nicht wieder einen Menschen daraus machen mit Augen, wie wir haben. Ist gar nicht möglich. Oder erst müssen die Steine von selber in die Luft fliegen, und der Herrgott muß sich aus dem Staube machen.«

Johanna sank betäubt zu Boden.

Der Greis griff auf dem Tisch umher, seine Lippen flogen, aber sie erhaschten kein Wort.

Der Sintlinger setzte die Uhr wieder in Gang und sagte:

»So, und nun kann die Uhr wieder gehen. Denn jetzt ist richtige Zeit.«

Dann beugte er sich zu seinem Weibe, nahm ihren Kopf in beide flachen Hände, hob ihn zu sich herauf und fragte gütig: »Du, Hannlein, magst du mich so noch? Liebes Weib, du?«

»Stoß ihn von dir!« schrie plötzlich der Greis angstvoll.

»Sag'?« flüsterte der Sintlinger.

»Es ist ein Teufel, Johanna! Bleib bei mir!« rief der Alte beschwörend.

»Willst du bei ihm oder bei mir sein? Tu, was du mußt. Ich rechne es dir nicht als Schande«, redete der junge Bauer in stiller Güte weiter.

Da schloß das arme Weib ihre verzweifelten Augen und umschlang seinen Hals.

So hob sie der Sintlinger auf, führte sie die Stube hin und half ihr in die Sachen.

Dann trat er an den Alten, der kalkweiß und regungslos immer noch auf derselben Stelle stand.

»Warum hast du mich nicht gehen lassen, Vater?« sprach er ruhig. »Ich habe dich gebeten. Also, adje!«

Damit streckte er ihm die Hand hin.

Klim führte einen kraftlosen Stoß nach ihm und sank fallend, mit abgewandtem Gesicht, in den Lehnstuhl.

»So gib wenigstens deiner Tochter die Hand«, sagte Andreas.

Doch der Greis blieb abgekehrt sitzen und sagte mit vor Haß erstickter Stimme: »'raus! Alle 'raus!«

Und als sich hinter den beiden die Tür geschlossen hatte, drehte er zäh den Kopf, sah lange mit weit aufgerissenen Augen verständnislos ins Leere und murmelte wie im Traume: »Du Aas ... Du Aas ... Gott verzeih mir meine Sünde.«

Dann sank er auf den Tisch und begann zu schluchzen.

 

5

In der Nacht nach dem Weggange der Sintlingerschen Familie hörte die alte Beschließerin den greisen Bauer weinen, nicht rasselnd, wie sich der Schmerz mühsam aus bejahrten Seelen losringt, sondern hoch, hilflos, fast singend, wie einsame Kinder weinen. Die Frau, ein erprobtes altes Hausmöbel noch aus Klims kurzer Ehezeit her, hatte der schnelleren Hilfe halber ihr Bett in der dem Schlafzimmer des Witwers benachbarten Kammer aufgestellt, deren Tür nur angelehnt war. Wie die Alte das machtlose Weinen erlauschte, meinte sie anfangs, der Nachtwind streiche seufzend durch den Schornstein. Da es sich aber wiederholte, ging sie mit einem Licht und erhellte das Gesicht ihres Herrn. Aber er schlief fest. Er lag milde und blaß in den Kissen und sah aus wie im Wachen. Der quälerische Traum mußte ihn beim Herannahen der Kerzenhelle verlassen haben. Nur ein Zug tiefen, fast verzweiflungsvollen Kummers war zurückgeblieben, und ohne Erschütterung liefen aus den äußeren Augenwinkeln Tränen über seine gefurchten Wangen, nicht in Tropfen, in ununterbrochenen lautlosen Bächen.

Sie tupfte ihm vorsichtig das Gesicht rein und duckte sich wieder ins Bett. Aber noch stundenlang lag die treue Seele zwischen halbem Schlaf und halbem Lauschen und litt an jener seltsam beklemmenden Stille, die das Horchen eines Menschen in der Finsternis der Nacht selber erzeugt. Nur konnte sie sich des traumhaften Zweifels nicht erwehren, ob nicht doch der alte Klim unter der Maske des Schlafes sich in diesem bedrückenden Wachen sehnend erschöpfte, und ihr war, als sehe sie ihn aufgereckt im Bett sitzen, die welken Hände verschlungen und die Augen wie saugend auf die Tür geheftet. Aber endlich sank ihr die graue Haube des Schlafes über den Kopf. Sie hörte noch undeutlich, wie durch eine dicke Mauer hindurch, den alten Bauer rufen: »Hanna, komm 'rein. Komm du ruhig 'rein. Dich Hab' ich nicht gemeint, Hanna, du!« Dann ging alles in dem geisterhaft leisen Sausen unter, mit dem die Träume in unsere Seele einziehen.

Als sie die Augen aufschlug, platzten die Hahnenschreie schon laut in die helle Frühe. Überall spielte das Sensenwetzen in der Luft. Hatte sie jemand gerufen? Doch jetzt, da sie in Schlaftrunkenheit die Kleider untereinander warf, erkannte sie, daß sie sich selbst, vom Innern her, mit diesem Rufen wachgerüttelt hatte. Vom Schlafzimmer des Bauern war kein Laut zu vernehmen. Notdürftig angezogen, auf den Zehen trat sie hinein. Das Bett war leer. Die Tür in die Wohnstube stand ritzweit auf. Ebenso leise ging sie weiter. Hier traf sie den alten Klim schon in seinem Sonntagsstaat, fix und fertig angezogen, von den gewichsten Langschäftern bis zur sorgfältig gebundenen schwarzen Seidenhalsbinde. Er saß aufrecht am Tisch, wie Reisende, die im Wartesaal eines Bahnhofes schon stundenlang auf den Abfahrtsruf lauern. Die Mütze neben sich, den einen Ann auf die Tischplatte gestützt, den Stock in der Rechten, saß er. Sein zerfurchtes Gesicht war fahl und unverrückt, wie suchend, gegen die Diele gerichtet. Er hatte das Hereintreten seiner Wirtschafterin offenbar nicht gehört, denn er rührte sich nicht in seiner Haltung und schien aufzupassen, ob nicht etwas aus dem Boden springen wollte. Die alte Frau war von dem ungewohnten Anblick so betroffen, daß sie nicht wagte, ihren Herrn anzurufen. Plötzlich schüttelte der Greis ungläubig den Kopf und sagte leise vor sich hin: »Trine ... Trine ... Wagner Trine ... steh auf ...!«

Es waren dieselben Worte, die die Wirtschafterin im Schlaf vernommen und dann für einen Weckruf ihres eigenen Willens gehalten hatte.

»Hier bin ich ja schon, Klim-Vater!« antwortete die alte Frau zaghaft, denn sie fürchtete aus einem Grunde, den sie nicht ermaß, der Greis werde bei ihren Worten zusammenbrechen oder so zu weinen anfangen, wie er es in der Nacht getan hatte.

Aber Klim veränderte seine Haltung nicht, sondern hob nur den Kopf und sah an Trine vorbei. Seine Augen standen still und hatten einen Blick, als habe jemand aus großer Ferne zu ihm gesprochen.

»Warum läßt du mich so lange rufen?« sagte er dann abgeschlagen und monoton. »Geh und ruf den Bauer. Ich muß in die Stadt fahren, und das gleich.«

Darauf ließ er wieder den Kopf sinken. Trine bestürmte ihn mit Fragen, was es gäbe, ob er sich krank fühle, und ob es nicht besser wäre, sich auszuziehen, ins Bett zu kriechen und ein Schweißmittel zu nehmen. Der greise Bauer achtete auf keines ihrer Worte und sah fortwährend zu Boden. Als sie zu reden aufgehört hatte, schaute er sie lächelnd an und sagte sanft und bittend: »Es hat nichts, Liebe. Geh und tu, was ich dir gesagt habe.«

Er lehnte das Frühstück ab, saß aufrecht wie im Aufspringen da und trieb mit leisen Worten zur Eile an.

In einer halben Stunde brauste der Bauer mit dem Wagen vor die Tür, und Klim schritt entschlossen durch die Tür.

In den Polstern des Wagens faßte er krampfhaft den Griff seines Stockes mit beiden Händen und schloß die Augen.

Die Pferde zogen an und stoben davon.

Das Rollen der Räder polterte und rasselte um ihn. Der alte Bauer lag in der Ecke des Wagens immerfort mit eingesunkenen Augen.

Als der alte Klim die Augen aufschlug, war die Stadt vor ihm. Sie lag im Lichte des Morgens bunt und strahlend im Grün. Aber des Greises verdüsterte Augen sahen sie wie ein graues Phantom, das in einem unhörbaren Winde schwankte.

Die Hufe der Pferde klangen nun hell auf dem Pflaster. Der Wagen hielt vor dem Einkehrhause. Der alte Bauer war wieder in sein dumpfes Selbstgespräch verfallen. Immerfort die Lippen bewegend, als würden sie vom Fieber durchbrodelt, bemühte er sich, vom Wagen zu kommen. Er merkte es nicht, daß der junge Bauer ihm half und auf ihn einredete, wohin er wolle, wie lange sein Geschäft dauern würde, und ob er nicht mit ihm gehen solle. Klim schüttelte den Kopf, bemühte sich zu lächeln und redete in sich hinein: »Das blinde Kind... das blinde Kind...« So ging er mit fallenden Schritten die Straße hinunter und taumelte manchmal wie ein halb Trunkener.

Als der junge Bauer das sah, warf er dem Hausknecht die Leine zu und folgte dem Greise in einiger Entfernung, um bei der Hand zu sein, wenn ihm etwas zustieße. Aber je tiefer Klim in die Stadt kam, desto sicherer wurde sein Gang. Auf dem mit Linden besetzten kleinen Marktplatz ruckte er sich plötzlich in die Höhe und trat, steif auseinander geschraubt, mit starren Schritten in das Haus eines bekannten Notars.

Jetzt wußte der junge Bauer, der Klang welcher Glocken den alten Klim so ins Unkenntliche verwandelt hatte. Der Sicherheit halber las er nochmals das Schild neben der Haustür: Doktor Mende, Rechtsanwalt und Notar.

»Na ja«, sann er vor sich hin, »den einen kehrt der Schmerz dem Totengräber vor die Füße, den andern das Glück. Ja, und gestern waren sie noch alle froh wie Kirmesgäste. Aber den reifen Apfel darf nur ein Kind anrühren, so fällt er.«

Bedrückt kehrte er dann ins Gasthaus zurück.

Der Greis saß indessen in dem Zimmer des Notars, das, nur von einem Fenster erhellt, zur Hälfte im Dunkeln lag. Wie gestern nach dem Aufwachen im Lehnstuhl, hatte er die Empfindung, hoch über der Erde durch Gewölk zu schweben. Der hochbejahrte Rechtsanwalt, der ihm sein Leben lang die wenigen Rechtshändel, in die er ohne Zutun verwickelt worden war, geschlichtet hatte, saß auf dem halb herumgewendeten Schreibstuhl vor ihm und gespäßelte, wie es seine Art war, ohne Aufhören mit zermergelter Stimme auf ihn ein. Klim sah ihn tief unter sich sitzen, und es klang, als rede er von der Straße herauf. Mit Kopfnicken und -schütteln und manchem vieldeutigen Flickwort half sich der Bauer in seiner unbehaglichen Situation, damit der andere nicht merke, wie es um ihn stehe. Vor dem einen war ihm nur bange: daß Mende jetzt zu reden aufhören und nach seinem Begehr fragen könne. Der Schweiß trat dem Greise auf die Stirn. Da auf einmal senkte sich alles. Die Stubenwände rückten aus den grauen Wogen auf ihn zu. Alles wurde zum Schneiden deutlich um ihn. Das Brausen in seinem Kopfe hörte auch auf, und es war kalt, klar und still in ihm wie an einem Hartwintermorgen. Mit fester Stimme schnitt er den Redestrom des Unermüdlichen mitten durch und verlangte die Aushändigung des niedergelegten Testamentes.

»Ein Kodizill, hmhm, Alterchen, ein Kodizill«, spottete lächelnd der Notar, »kann mir's denken, freilich. Die Henne läßt das Scharren nicht. Und nun soll das Häufchen auch noch untergebracht werden. Mir ist das ganz gleich. Aber Sie sollten die letzten Jahre wenigstens auch einmal an sich denken, nicht immer an andere.«

Unter diesen Worten war Mende aufgestanden, hatte den Schreibtisch aufgeschlossen und kramte darin herum.

Der Bauer saß steif und dachte: »Jetzt verscharr' ich das Glück meiner Tochter. Nun muß alles bergunter gehen, es ist kein Halten mehr.«

Mit übermenschlicher Anstrengung hielt er sich aufrecht, doch kaum fühlte er das Dokument in den Händen, als ein Zittern an seinem Körper zu rütteln begann. Alles in der Stube hüpfte. Nur eine Stelle an der Wand, ihm schräg gegenüber, von der Größe eines Schrankes, war still, er konnte genau die kleinen schwarzgrauen Rauten auf dem grünen Untergrund der Tapete unterscheiden.

»Ich will nur einen Augenblick an jene Stelle der Wand treten«, sann er bei sich, »dann werd' ich das Testament zerreißen.«

Er erhob sich mühsam vom Stuhle und lächelte Herrn Mende verschmitzt an. Das heißt, er glaubte es zu tun. In Wahrheit war sein Gesicht schmerzvoll verzerrt.

»Was machen Sie denn?« fragte der Notar erschreckt.

»Die Beine sind mir eingeschlafen«, antwortete Klim unter großer Anstrengung.

Er hatte nur noch zwei Schritte bis zur Wand. – Allein plötzlich sah er die Mauer mit einem Knirschen von oben bis unten auseinander reißen, das ihm wie ein Messerschnitt schmerzend durch seinen Körper ging. – Er taumelte und sank mit einem Aufschrei zu Boden.

Seine Augen standen weit auf. Die Lippen bewegten sich fortwährend lautlos, als bete er, und sein welkes Gesicht lächelte verzweifelt.

So kam er in sein Haus zurück und wurde ins Bett gebracht.

Seine Wirtschafterin wollte sogleich nach Hemsterhus auf den Sintlingerhof schicken, aber er verbat es sich, weil es nur ein Übergang sei.

Zwei Tage und zwei Nächte lag dann der Bauer und schaute unausgesetzt nach der Tür, als ob er jemand erwarte.

Kein Mensch erfuhr, wen seine Augen herbeiwünschten. Am dritten Morgen war etwas in ihm überwunden. Er wurde aufgeräumt, setzte sich im Bett auf und verlangte zu essen.

Im halben Nachmittage ließ er sich ankleiden und ging am Arm der Wirtin hinaus auf das Bänklein vor dem Hause.

Dort saß er, die Hände im Schoß gefaltet, in der Sonne und sah hinüber auf die Wiese, von wo der Sintlinger einst sein einziges Kind fortgelockt hatte.

Der Greis ließ die Augen einsinken und gab sich dem lautlosen, strahlenden Auseinanderfluten hin, das die ganze Welt erfüllte. Als er sie wieder hob, sah er nicht allzuweit durch eine Ährengasse rüstigen Schrittes eine Bäuerin den Hügel herunter auf ihn zukommen. Sie hatte den Rock geschürzt, das rote Tuch tief in die Stirn gezogen und trug eine blanke Sichel in der Rechten. Im Gehen streifte ihre Linke durch die Ähren. Nun war sie in der Wiese. Plötzlich blieb sie stehen, sah lange zu ihm herüber, nickte ihm freundlich zu, beugte sich und brach eine weiße Blume. Mit der kam sie über die Straße, geradeswegs auf ihn zu. Er sah sie doch immer genauer, das rote Tuch, den geschürzten Rock, die Sichel, und konnte sich nicht mehr täuschen, daß es die junge Frau des Bauern war, dem er sein Gut verkauft hatte. Aber er brachte es vor einem seligen Grauen nicht über sich, gerade in ihr beschattetes Gesicht zu sehen, denn es war ihm, wenn er das täte, dann sehe er das Antlitz seines längst verstorbenen Weibes. Sein Herz begann zu flattern, und er senkte in verschämter Freude sein Gesicht.

Jetzt hörte er ihren Rock neben sich rauschen. Nun stand sie bei ihm, und er fühlte, wie sie ihm den kühlen Stengel einer Blume zwischen die Finger schob. Da brauste es um ihn, und dem Greis vergingen die Sinne.

Als die Wirtin nach ihrem Herrn sehen wollte, saß er entseelt auf dem Bänklein. Ein seliges Lächeln lag auf dem Gesicht des Toten, und die Finger seiner Rechten waren noch immer gestellt, als hielten sie eine Blume.


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