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Neuntes Kapitel

Als er in die Stube trat, war das Lenlein gerade hinausgegangen, und seine Frau saß, von dem kurzen, verscheuchten Aufenthalt des lieben Mädchens auch nachdenklich geworden, in einem Winkel und sah gespannt auf ihre gefalteten Hände, als hielte sie wirklich die verwickelte Zwirnrolle im Schoß, von der sie eben gesprochen hatte und die sie doch auch nicht zu entwirren vermochte.

Dem Heiligenbauer aber war es, als lebe er nicht in seinem Hause, sondern wohne in einem ausgeblasenen Ei. Allein, er bezwang sich, seine Frau mit dem Ausruf zu bedrängen, der immer stärker in ihm wuchs: Du, Johanna, wenn unser Lenlein ein Mädchen ist wie alle andern, so war oft, am Ende alles, was ich gesonnen habe, ein Betrug. Er ging in der Stube hin und wider, kochte alles, was er sagen wollte, in sich hinein und horchte nur hin und wieder über sich, ob durch die Decke aus der Stube Helenens nicht doch ein schwebender, unwirklicher Laut zu erhaschen sei, der all dies Bohren ihm als Torenschaum aus dem Kopfe blies.

Auch am andern Morgen, da er noch vor Tage auf den Hof trat, war alles so leer um ihn wie gestern abend, nur daß heute die ganze Welt wie ein ausgeblasenes Ei um ihn stand. Wortlos sah er zu, wie die Knechte drei hohe Kastenwagen mit Getreide beluden, dessen Lieferung in die kleine Kreisstadt am Rheine von ihm angeordnet worden war. Beim Herantragen der letzten Säcke kam es ihm ein, die Führung der Gefährte und die Übergabe der wertvollen Fracht doch lieber selber zu übernehmen, denn der alte Zenker kam mehr und mehr auch schon in geistige Gebrechlichkeit hinein. Also erkundigte er sich, da alles zum Abfahren fertig war, spaßhaft bei dem greisen Wirtschafter, ob auch für ihn noch ein Plätzchen zum Mitfahren frei sei, und kletterte im Walde, als die Steigung überwunden war, zu Zenker in die Kelle des Wagens. Allein, das Knacken, Ächzen und Holpern der Wagen, die brummige Geschwätzigkeit des überjahrten Dienstmannes brachte ihm nicht, was er erhofft hatte: die Zerreißung des tauben, alles zersprengenden Ringes, in dem sein Denken saß, nein, es rüttelte ihn nur fester hinein, es sackte ihn immer tiefer. Darum, als gegen Abend das Geschäft erledigt war, ließ er den Wirtschafter allein mit den Knechten heimfahren, und obwohl schon das abendliche Erblassen sich am Himmel bemerkbar machte, schritt er in der frohen Aussicht, wieder einmal mit den Beinen Ordnung im Kopf zu schaffen, rüstig aus der Stadt dem Walde zu. Unter den Bäumen wurde freilich aus dem geschwinden Marsch ein säumiges Wandern, und immer wieder aus einer Auseinandergeflossenheit des Gemütes auffahrend und sein verschlungenes Innere umwitternd, ob es sich bald zu lösen beginne, kam er nur langsam vorwärts und wurde mitten im Walde von der Nacht überrascht.

Und seltsamerweise, nun es finster und finsterer um ihn wurde, hörte auch dies bescheidene Leben seines Innern auf, und es war ihm, als sei er mit seiner ganzen Seele in eine dunkle Stube gesperrt, aus der weder Fenster noch Türen herausführten. Bald erlahmte der Tanz seines Denkens ganz, sein Gemüt lag wie eine vernebelte Sumpfwiese um seine geschlossene, nachtdunkle Seele, und als er sich gewaltsam aufraffte und bemüht war, in all diese innere Verfinsterung die Sonnen- und Lichtgestalt seines Lenleins aus ihrer seligsten Zeit zu stellen, so gelang ihm auch dies nicht. Ihr Wesen tauchte wohl um ihn auf, doch nur so wie einer, der unsichtbar immerfort neben ihm her ging. Aber sowie der Heiligenbauer die Blicke scharf in der Richtung ausschickte, in der das Lenlein dunkel im Dunkel mitschwebte, war es, als würde auch dieser letzte Rest ihres Wesens von der toten Finsternis eingeschluckt. Und als das ein paarmal sich ereignet hatte, hörte er nur in der Stille des nächtlichen Forstes ein geheimnisvolles Schleichen seinen Schritten folgen, manchmal tief im Walde, manchmal ganz nahe hinter sich, und nicht lange, so war es gar nicht mehr der leichte, schwebende Gang Helenens, der ihn begleitete, sondern ein siecher, traumhaft Ungewisser Taumelgang, wie aus der Erde von unten gegen den Weg klingend, der jeden Laut spukhaft nachäffte, mit dem seine Füße im Wandern anstießen.

So oft hatte er die Erfahrung gemacht, daß Menschen, in sein Leben verflochten, um ihn gewesen waren, noch ehe sein Auge und Ohr, ja sogar sein Denken sie hatte wahrnehmen können, und es war ihm seit lange zur furchtvoll-seligen Gewohnheit geworden, sich immer in Gesellschaft Unsichtbarer zu wissen, stand doch die Macht Helenens schützend um ihn, der sie gehorchen mußten.

Nun aber im nächtlichen Walde ihr Sonnenbild sich mit keiner Macht des Willens herbeizwingen ließ, bedrängte ihn dies Mitgehen eines Undenkbaren immer schwerer. Der Heiligenbauer setzte sich auf einen Stein, nahm höhnisch auflachend den Hut herunter und fuhr sich über die Stirn in die Haare hinauf. Als er die Hand zurückzog, fühlte er, daß sie naß von Schweiß war. Das vermehrte seine selbsthöhnische Lustigkeit noch mehr, und aus vollem Halse in den Wald hineinlachend, trocknete er schlagend seine Hand am Oberschenkel: »Hahaha!«

Er saß gerade einem der vielen verrasten Querwege gegenüber, die wie enge Röhren von der Waldstraße sich tief in den Forst hineintrieben, und so hörte er sein eigenes Gelächter, gedämpft und gespensterhaft verwandelt, in der fernen Finsternis widerklingen. Ja, wie er hinsah, schwankte das Echo als ein sichtbarer Schatten vorüber und verlor sich zwischen den Bäumen.

Da dachte der Sintlinger, diese Nacht habe es rein darauf abgesehen, daß ihn sein eigener Wahn verhexen solle, stand auf und sagte laut: »Ich bin doch kein Weib, daß ich mich vor dem Schatten eines Schattens fürchte.« Dann ging er der Halluzination nach, tief in den Wald hinein, bis er auf eine Lichtung kam. Das Dunkel um ihn war von seiner Aufregung wogend geworden. In diesem schleierhaften Durcheinanderkreisen der Nacht sah er ungewiß die Umrisse eines großen, weitästigen Baumes vor sich. Er senkte instinktiv den Kopf und wollte auf ihn zugehen. Da stieß er unvermutet mit dem Fuß an etwas Weiches, und wie er sich beugte, lag da in dem frühlingskurzen Grase ein fratzenhaft langer Mensch, wie von dem Lichtgeifer schattenfaulen Holzes überzogen, von dem säuerlichen Dunst nie gelüfteter Kleider umwittert. Dem Sintlinger wurde zum Brechen übel. In Abscheu und Ekel hieb er dem Wesen, von dem er nicht wußte, sei es Einbildung oder Wirklichkeit, seinen Stock über Leib und Brust. Aber die Gestalt gab keinen Laut von sich und rührte sich nicht. Das schleuderte den Sintlinger ganz in den Wirbel seiner Überreiztheit, daß er, von Grauen gepackt, den Stock von sich schleuderte und in der sinnlosen Angst, wie sie nur Traumen eigen ist, durch den Wald lief. Die ganze Welt stand als ein unsinniges, verzerrtes, transparentes Bild vor ihm, aus dem immerfort grelle Fratzen loderten und als geile Lichtfetzen im Schwarzen erloschen. Als er, zu Hause angekommen, atemlos vor dem Bett seiner Frau stand, stammelte er in höchster Not: »Johanna, rette mich!« Dann zerrte er schnell die Kleider herunter und stürzte sich kochend in einem solchen Rausch der Wollust auf sein Weib, daß Johanna glaubte, sie müsse umkommen.

An dem Abend dieses Tages, da die Staumauer vor dem Meere des Sintlingers bis auf den Grund zerbarst, daß die entfesselten Wogen sich über das Land seiner errungenen Erde stürzten, etwa in der Zeit, als im Walde die Nacht über ihn hereinbrach, stand Helene in ihrer Stube vom Stuhl auf, wo sie fast den ganzen Tag einsam und in einem Zustande vollkommener Aufgelöstheit gesessen hatte, so etwa, wie der Wind über uns als gestaltlose Luft unter dem Himmel über der Erde ruht, wenn sein Brausen vorüber ist, das ihm Gestalt gab.

Auf eine unsagbare Weise durch den gemeinen Geist des Landrats in der Tiefe ihrer Mädchennatur entheiligt, war sie von dem bunten Strom all ihrer Hoffnungen und Erwartungen ausgeschlossen; und durch die Verheimlichung einer erduldeten Schandtat, die sie nicht verstand, glaubte sie nie, nie mehr zu ihren Eltern in das Verhältnis des alten Vertrauens zurückkehren zu können.

An der Stille, die im ganzen Hause eingetreten war, erkannte sie, daß die Nacht angebrochen sei.

Sie trat ans Fenster, öffnete es, lauschte auf das friedvolle Rieseln im Laube der einschlafenden Lindenkronen und dachte, wie sie damals hinter der Hohen Kippe verirrt unter das Gesträuch gekrochen war: »Ich finde nie mehr zurück zu Vater und Mutter.«

Noch ehe sie das recht zu Ende gesonnen hatte, hörte sie die Schritte ihrer Mutter die Treppe heraufkommen und warf sich schnell angekleidet ins Bett, zog das Kleid überall herein, deckte sich bis an die Lippen zu, schloß die Augen und stellte sich tief schlafend. Die Sintlingerin trat geräuschlos ein, blieb eine Weile am Bett vor ihr stehen, berührte dann in einem luftleisen Kuß ihre Stirn und sagte sich aufrichtend: »Gott sei Dank! Armes, liebes Mädel.« Dann begab sie sich zu kurzem Sinnen an das geöffnete Fenster, an dem soeben das Lenlein gestanden hatte, schloß es, sah sich noch einmal in der ganzen Stube um – die Blinde hörte die Wendungen ihres Körpers und fühlte ihr Umschauen in der Luft – und ging dann geräuschlos, wie sie gekommen war, von dannen, aber beruhigter als bei ihrem Eintritt.

Ihre Tritte verklangen auf der knarrenden Stiege. Die Küchentür schnappte ein. Die Schlafstubentür knarrte auch leise ins Schloß. Dann war nichts als das leise Sausen des großen, nachtstillen Hauses um sie.

Das hübelheilige Mädchen blieb noch eine Weile still liegen, erkannte aber, daß an Schlaf nicht zu denken sei, und erinnerte sich, daß sie den ganzen Tag zwischen den Wänden ihres Zimmers gesteckt hatte. Wenn sie ginge und das freie, hohe Schweben des Himmels über sich genösse, das würde ihr gewiß wohltun. Mit nicht mehr Geräusch, als wenn jemand mit der Hand über eine polierte Tischplatte streicht, stahl sich das Lenlein über die Stiege hinab, durch den Flur hin und stand bald mitten im Hofe.

Kein Saugen war in der Luft zu spüren, kein Prickeln an ihrer Stirn. Nur ein göttlich abgewogenes Spiel fühlte sie durch den hohen Himmel gehen und in der Tiefe ihrer Seele sich friedevoll nachrühren: der Mond schien also nicht; bloß die Sterne klangen in der Welt.

Ich will in dem Blumengarten den Gang hin und wider gehen. Vielleicht höre ich die schöne Männerstimme wieder, die mich am Abend vor dem Straßenfest so beglückt hat, dachte sie und setzte sich nach dem hinteren Beipförtchen zu in Bewegung. Sie spürte schon die Wucht der langen Stallwand rechter Hand gegen sich wirken, links drückte es leichter und ungeordnet. Dort lag der Schuppen. So war es schon recht, und herzhaft schritt sie auf das Beipförtchen zu. Doch, was sollte denn das auf einmal heißen? Das Gleichmaß der Schritte verließ sie. Sie wußte nicht mehr recht, wo der Erdboden sei: bald fiel der Fuß ins Grundlose, bald stieß er noch vor dem Niedersetzen an. Wo war sie denn? Mit einem sinnlosen Sprung rettete sie sich zur Seite und bekam glücklicherweise einen dicken Stützbalken in die Hände. Das Herz hämmerte ihr wohl, und in den Schläfen schnellte das Blut heiß nach. Aber sie erkannte doch, daß sie unter den Schuppen geraten sei. Und während sie stand und wartete, daß ihre Brust sich beruhige und das Brausen in den Ohren vollends aufhöre, wandte sie ihre Stirn bald da-, bald dorthin, um die Örtlichkeit genau kennenzulernen. Ihr gegenüber allerhand Geräte, weithin vor ihr spürte sie es sich frei dehnen. Aber hinter ihr war etwas Seltsames, was ihr noch nie im Leben begegnet war. In glückvollem, seligem Ringen ineinander geschlungene Wesen, und jetzt hörte sie es auch doppelt atmen wie glühes Flattern und in sichern Zügen. Eine Kochglut schlug ihr davon entgegen und hüllte sie ganz ein.

»Wer sitzt denn da hinten?« wollte sie fragen, brachte jedoch vor Aufregung keinen Laut hervor, erlebte aber Ähnliches wie in den Nächten der Traumberückung durch den Unbekannten. Sie fühlte sich unaussprechlich umfangen und zum Brustsprengen gedrückt. Von aufsteigendem Schluchzen und peinvoller Seligkeit außer sich gebracht, öffnete sie den Mund, um gell hinauszuschreien, mochte dann werden, was wollte. Da fühlte sie jemand an sich herantreten und hörte, wie durch einen Schleier von leisem Regenbrausen die Stimme Gottlieb Meixners zu sich sprechen. Er redete von der Liebe, die seit dem ersten Tage das Meierlein auf ihn geworfen habe. Das Straßenfest habe alle Riegel zwischen ihnen gelockert und heute, eben jetzt, da sie in den Hof getreten, seien sie miteinander in guter Liebe ganz zusammengekommen. Da denke er, und werde nicht fehlgehen, ihr Geist habe sie gerade deswegen heruntergeführt. Er habe eigentlich vorgehabt, sein Leben nie, nie mit dem Schürzenband eines Weibes zu schnüren. Aber mit dem Meierlein sei es doch eben etwas anderes, und wenn das Lenlein so gut sein wollte, ihre Hand in seine zu legen, da sei denn gewiß ein heiliger Segen über ihnen, und er käme vielleicht wieder zur Harmonika und gar am Ende zu den Liedern, die nur sie allein, das Lenlein, wisse.

Dann rief er das verschämte Meierlein heran, und das Lenlein willfahrte ihm und legte die Hände der beiden ineinander.

Doch nicht sie tat das eigentlich, sondern eine Fremde, andere, die während des Vorganges auf und nieder sauste, in Wasser oder Sturm, an welchem Ort, ob im Himmel oder auf der Erde, wußte sie nicht. Sie fand sich auch bald nachher auf unbegreifliche Weise in ihrer Stube allein vor ihrem Bett stehen, warf sich auf das Gesicht hinein, raffte die Kissen mit ihren Armen zusammen und bebte am ganzen Körper, da sie glaubte, das große Sintlingerhaus stehe in Flammen, und sie hauchte betäubt vor schreckvollem Verwundern in sich hinein: »... die Menschen! ... die Liebe! ... Himmel, o Himmel!!« ...

Ihre Worte wurden immer leiser.

Ehe der Schlaf sie aus den Wirbeln riß, wurde sie ganz aus dem Hohen von der schönen Männerstimme leise gegrüßt und drängte, schon verwandelt, einem Geräusch in den Traum nach, das wie der Schritt eines Menschen in jungem Grase sich in einer blühenden Wildnis verlor.

*

In dieser Nacht stand also der ganze Heiligenhof in einer unsichtbaren Feuersbrunst, und am Morgen des anderen Tages waren alle Räume von toter, zerstörter Luft angefüllt.

Das Lenlein lag nach dem Erwachen lange still und in Grübeln versunken, um herauszubekommen, was sich eigentlich mit ihr ereignet habe und wie es denn auf dieser Welt eigentlich war. Was sie auch sann, sie und das Leben und alle Menschen blieben ihr verwunschene Rätsel, die furchtvoller wurden, je tiefer sie sich in ihre Wirrnisse verlor. Denn sie wußte nicht, daß wohl alles auf Erden in Geheimnisse gehüllt ist, die wundersamste Unbegreiflichkeit aber auf der Zeit liegt, in der sie eben lebte. Als sie daher nicht mehr denken konnte, befand sie sich am Ausgange ihres Ringens: alles und alle waren ihr fremd. Mit dem Meierlein und dem Gottlieb war etwas geschehen, was ihr die Schamröte ins Gesicht trieb, bei der Vorstellung, ihnen zu begegnen. Zwischen ihren Eltern und ihr stand das unsagbar Ekelhafte, das ihr vom Landrat angetan worden war, und das sie zugleich um alle Hoffnungen gebracht hatte, hinauszugehen in eine Welt fröhlich-beglückter Menschen. »Was ist denn das: Liebe?« fragte sie sich immer wieder. »Und warum haben sich das Meierlein und der Gottlieb so umschlungen, daß ich selbst zum Aufschreien atemlos geworden bin?«

Kopfschüttelnd stand sie auf. Ihre Hände waren eiskalt. »Was ist denn bloß die Liebe?« fragte sie, trat ans Fenster und lehnte das Gesicht an die Scheiben. »Gottlieb sagte, er habe sie von dem Fest bekommen«, sann sie weiter, »und ich? Warum habe ich mir die Kleider vom Leibe reißen müssen? Das war doch gewiß keine Liebe. Gottlieb hat zu mir davon gesprochen: aber sollte ich zu jemand darüber reden, so müßte ich ganz gewiß schreiend davonlaufen.

O mein Gott, was ist denn das bloß!«

Mit diesem Ausruf wandte sie sich vom Fenster ab, vergrub das Gesicht in die Hände und ging ratlos die Stube hin.

Ihre kalten Finger gruben sich in die Wangen, Was sollte sie bloß machen? Warum wurden ihre Hände so kalt, so trocken, und wozu glühte ihr Gesicht?

Sie riß die Tür auf und schrie ins Haus:

»Mutter!« und noch einmal lauter, fast verzweifelt: »Mutter!«

Ihre Stimme gellte so schrill aus allen Winkeln wider, daß sie zusammenfuhr und, mit beiden Armen steif in die Türfüllung gestemmt, auf Antwort lauschte. Aber nichts rührte sich in dem ganzen Hause nach ihr, keine Tür, kein Schritt, kein Laut.

Man hatte sie wohl vergessen. Enttäuscht zog sie sich ins Zimmer zurück, lauschte noch einmal mit zu Boden gekehrtem Gesicht durch die geschlossene Tür, warf dann mit jähem Kopfrucken die gelösten, vorgesunkenen Haare in den Nacken und ging im Zimmer wieder hin. Ein merkwürdiges Pfeifen war auf einmal um sie in der Luft, wie das Sausen dünner, reißend gepeitschter Haselgerten. »Gut ... gut ... gut ...«, sagte sie in einer rachsüchtigen Empörung, die sie nicht verstand; »... gut, so werde ich gehen ...«, wiederholte sie, öffnete den Schrank, drückte ihr Gesicht bald in dies, bald in das Kleid und wählte endlich ein hellblaues, duftiges Gewand, das sie am liebsten von allen Kleidern anzog. Wie im Flug war sie angezogen.

Ohne die mindeste Heimlichkeit ging sie aus dem Zimmer. Es soll sich zeigen, ob mich noch ein einziger Mensch in dem Hause mag, dachte sie und trat absichtlich laut auf.

Ihre Mutter, die aus dem Milchkeller heraufgekommen war und in der Küche um den Herd hantierte, hörte laute, plumpe Schritte die Stiege herabkommen und dachte, es sei die Kleinmagd, mochte aber nicht heraustreten, um sie zurechtzuweisen, weil sie nach der unerwartet wilden Nacht nur immer leidenschaftlich vor sich hinarbeitete, damit sie die lahme und wunde Verstörtheit in ihr nicht empfinde.

So kam das Lenlein die Treppe herab, den Flur hin, ohne daß die Mutter ihr auch nur nachgesehen hätte, trotzdem alle Welt doch wissen mußte, meinte das aus den Angeln gehobene Mädchen, daß ihr nichts mehr übrigbliebe, als von dem Hofe fortzugehen. Auf der Haustürschwelle überfiel sie ihre Verlassenheit als solche Scham und Verzweiflung, daß sie jagend über den Hof schoß. Sie fühlte es um sich zucken, stürzte durch das hintere Beipförtchen und hörte des Meierleins Stimme ihren Namen rufen. Das fehlte gerade noch, dachte Helene, spürte, daß sie den Weg nach dem Buchengrund unter den Füßen hatte, und lief so lange geradezu bis alle Laute ihres väterlichen Hofes hinter ihr versunken waren. Dann änderte sie die Richtung und ging in einer leichten Mulde auf breitem Raine links hinauf gegen die neue Straße zu.

Nur das leise Fächeln der jungen Saat ihr zu Füßen, das traumschwache Gebrause des Waldes über ihr war noch um sie. Dann und wann schoß das Summen einer betörten Fliege vorbei, und in der Luft wogte, rein wie das Branden eines klingenden Meeres, der Gesang von tausend Lerchen, die schmetterten, als gälte es, die Himmelskuppel mit Wohllaut zu sprengen.

Wer weiß, es hätte sein können, das Lenlein wäre am Ende von dem friedvollen Jubel dieses Maimorgens wieder in die Seligkeit ihrer unirdischen Seele überwunden worden; doch wie man so spricht, der Zufall wollte es, daß einer Lerche in der blauen Höh über ihr im Übermaß des Glückes von dem eigenen Liede das Herz zerrissen wurde. Der Vogel stürzte durch die Luft und fiel dein flüchtenden Mädchen gerade vor die Füße. Nun war ja des Heiligenbauers Befehl gemach in Vergessenheit geraten, das Lenlein vor der Kenntnis des Todes zu behüten. Aber sie gebrauchte das Wort sterben, ohne zu wissen, was das eigentlich sei, weil wir im Grunde doch nur durch die Augen den Tod kennenlernen. Als nun das Sintlingerlenlein sich nach dem Vogel bückte, die letzten Zuckungen des Lebens in ihm spürte, barg sie ihn in den Händen, hauchte ihn an, horchte auf seinen Herzschlag, trug ihn, ohne im Gehen nachzulassen, eine lange Weile in der Hand und öffnete endlich die Finger, um ihm die Freiheit wiederzugeben. Aber so oft sie ihm auch einen kleinen Schwung in die Höh gab, er fiel immer wie ein Stein in ihre Hand zurück. Da schleuderte sie ihn endlich entsetzt von sich und verdoppelte ihre Eile, weil sie dachte, der Tod sei auch hinter ihr her, und wenn sie eingeholt werde, müsse auch sie sterben. Mit Zuhilfenahme der Hände kletterte sie über die Böschung der neuen Straße hinauf und flog auf dem sicheren Wege nur so hin.

Kein Mensch begegnete ihr, kein Gefährt kam ihr entgegen oder überholte sie.

Nach ihrer Meinung ging sie schon eine Stunde und mehr. Sie war sicher tief im Walde und mußte schon dem Rheine nahe sein.

Darum blieb sie stehen, um ein wenig Luft zu schöpfen, und kehrte dabei das Gesicht über sich; denn ihr fiel ein, was die Leute sagten, daß über dem großen Strome ein geheimnisvolles Glänzen in der Luft mitginge, und wer es verspüre, dem gelinge zu fehlerlosem Segen, was er gerade vorhabe. Und so kehrte sie das Gesicht der Höhe zu, um womöglich dieser himmlischen Verheißung teilhaftig zu werden.

Ja, sie hob sich selbst mit der ganzen Inbrunst ihres verscheuchten, sehnsüchtigen Lebens ins Raumlose hinein, konnte aber trotz aller Anstrengung nichts von einer sonnenhaften Berückung merken, die sich in der Höhe hin bewege. Statt dessen hatte sie das Gefühl, als fielen Fesseln von der Tiefe ihres Wesens nieder. In ihrem Innern war es, als öffne sich eine Tür, und ein freies Fluten ergoß sich aus ihr, wie sie es noch in keinem Augenblick des Glückes gespürt hatte. Und nun nahte sich auch das Glänzen, nach dem sie verlangt hatte, aber nicht von oben. Es kam ihr entgegen, daß sogar sein seliges Schreiten zu vernehmen war. Im höchsten Rausch breitete sie die Arme aus, und so, wankend vor Entzücken, näherte sie sich dem Unaussprechlichen, von dem sie fühlte, es sei dasselbe, von dem sie einstmals, hinter der alten Therese her, ein sicheres Ahnen gehabt hatte.

Da riß sie ein Schrecken mittendurch, daß ein Klingen durch den Rücken in ihr Hirn sprang, denn sie sah einen Mann vor sich stehen, leibhaftig, und dies Sehen war so ganz anders, wie sie es noch nie erfahren hatte.

»O Gott!« hauchte sie in höchster Furcht.

Aber da sie dachte, nun sei der Tod wirklich da und umfange sie mit seinen Armen, hörte sie dieselbe schöne Stimme auf sich einreden, die sie am Abend vor dem Straßenfest am Zaun des Blumengartens gegrüßt hatte: »Was ist Ihnen denn, Fräulein Helene? Um Himmels willen, öffnen Sie bloß einmal die Augen. Ich bin es, Peter Brindeisener.«

Aber je lieber der Jüngling zu ihr redete, desto ergriffener wurde sie, tastete mit zitternden Fingern über sein Gesicht und brach darauf in schreiendes Weinen aus. Feuer schlug über ihr zusammen, und besinnungslos hing sie in den Armen Peters.

Der Student glaubte nicht anders, das geliebte Mädchen sterbe. Darum nahm er sie auf die Arme und trug sie laufend durch den Wald, und während er mit der kostbaren Last dem Sintlingerhofe zueilte, jubelte trotz aller Angst sein Herz über die Fügung, die ihn bei der Kunde von der jähen Erkrankung Helenens am Straßenfest so mit Sorge beladen hatte, daß er Tag und Nacht um den Hof geschlichen war und schließlich heute morgen auf einem langen Waldspaziergang Errettung aus seiner Ratlosigkeit gesucht hatte.

Nun trug er die in den Armen, nach der alle Wogen seines Wesens seit je gesucht hatten.

Mit verstörtem, schweißüberströmtem Gesicht, das blonde Haar in die Stirn geklebt, kam er auf dem Hofe an und legte Helene mit der Erklärung, daß er sie ohnmächtig im Walde gefunden habe, der erschreckten Heiligenbäuerin in den Arm.

Sie sah ihn entsetzt an, dankte kaum und sagte tonlos: »Also doch.«

Dann stieg sie mit Helene mühsam die Stiege hinauf und ließ ihn stehen.

Denn geradeso wild aufgeregt sah das Gesicht Peter Brindeiseners aus wie damals, als er in der Jugend frech zu Johanna in die Stube gedrungen war, um die süße Stimme des hübelheiligen Mädchens zu erhaschen.

Peter stand einen Augenblick starr vor dem Sintlingerhofe, hörte das leise Weinen und Klagen der Bäuerin aus Helenens Zimmer dringen und ging betäubt den Hügel hinunter, dem väterlichen Hofe zu.

Die Sintlingerin schickte sogleich nach allen Seiten Boten aus, ihres Mannes habhaft zu werden, der noch vor Tage aus dem Toben seiner Liebesraserei aufgefahren und davongegangen war. Aber noch ehe der erste Bote zurückkehrte, besann sie sich anders, half dem alten Zenker anspannen und hieß ihn, was Zeug und Tier halte, in die Stadt nach einem Arzte zu jagen.

Der Wagen rasselte über den Hügel hinunter und brauste nach dem Walde zu davon.

Wie mit angehaltenem Atem lag der Heiligenhof in der Sonne. Johanna stand wieder vor dem Bett Helenens und sah sie wachsbleich und regungslos mit einem Gesicht in den Kissen liegen, verklärt und friedvoll, wie es nur der Tod dem Menschen beschert. Wenn nicht ein leises Zucken von Zeit zu Zeit unter der Haut über die Stirn gelaufen wäre, die Bäuerin hätte zum ewigen Abschied die drei Kreuze über sie geschlagen und sich dem Schmerz überlassen, der wie ein Tier in ihr hockte.

»So hat mich mein Ahnen nicht betrogen, daß Von diesem verfluchten Peter Brindeisener meinem Lenlein das Unglück kommt«, dachte sie zum hundertsten Male. Sie hatte es unbewußt laut gesprochen. Da öffnete das Mädchen die Augen, sah staunend auf, gewahrte seine Mutter, schloß sie erschreckt und sagte dann leise:

»Verhäng' die Fenster.«

Als der Arzt in der verdunkelten Stube erschien, fand er außer beschleunigter Herztätigkeit kein Krankheitszeichen an Helene, die willig alle Bewegungen vollführte, die der Doktor von ihr verlangte. Nur die Augen hielt sie fest geschlossen und war durch alle Mittel der Güte und liebevollen Drängens zu nichts anderem zu bringen, als die Lider einen Spalt weit zu lüften und sie dann entsetzt zu schließen. Als sich das einigemal ereignet hatte, sah der Doktor die Bäuerin bedeutsam an, verabschiedete sich tröstend von Helene und eröffnete Johanna draußen, wenn ihn nicht alles täusche, so sei mit ihrer Tochter ein Wunder geschehen. Er glaube bestimmt, sie habe das Augenlicht wieder erhalten, in welchem Umfange, lasse sich allerdings noch nicht feststellen. Als der Doktor über die Treppe hinuntergegangen war, kniete die Heiligenhofbäuerin an derselben Stelle, wo sie stand, nieder und küßte den Erdboden.

Dann ging sie zu Helene hinein, beugte sich über sie, schloß sie vorsichtig in die Arme, wurde aber unversehens so von dem Sturm ihres Glückes gepackt, daß sie losweinte und dabei, wie unsinnig von Seligkeit, lauter und lauter nur das eine hervorbrachte: »Mein liebes, liebes Lenlein, Gott sei Dank!«

Sie fühlte wohl, wie ihre Tochter schwache Versuche machte, die fast schmerzvolle Umarmung zu lösen. Aber immer aufs neue brach die Bäuerin in Rufe und Beteuerungen des Glücks aus. Schließlich merkte sie doch, daß Helene etwas sagen wollte, und da sie sich bezwang und still war, flüsterte ihr Helene ins Ohr:

»Ich liebe den Peter Brindeisener, Mutter, ich liebe ihn... ich habe ihn immer geliebt... immer... immer...« Das Mädchen wurde von diesem ersten Geständnis so ergriffen, daß sie nach all den Erregungen das Hervorbrechen der Glut nicht mehr aushielt, immer leiser und leiser und leiser sprach und selig einschlief.

Auf den Zehen ging Johanna davon und nahm im Herzen alle Lästerungen zurück, die sie Peter Brindeisener angetan hatte. Denn das konnte kein böser Mensch sein, dessen sich Gott bedient hatte, ein solch außerordentliches Wunder zu wirken.

So war also eingetroffen, was einst der Professor Flöreck in Münster vorausgesagt hatte, einmal werde die Natur den Schleier auf ebenso geheimnisvolle Weise von diesen Augen wegziehen, wie rätselhaft sie ihn davor ausgebreitet.

Bald jubelte der ganze Sintlingerhof, und kehrte wieder ein Bote zurück, der nach dem Sintlinger ausgeschickt worden war, ohne ihn gefunden zu haben, so erneuerte sich an seiner Freude die glückhafte Erregung der andern zu neuem Überschwang. Es brauste, lachte und rief aus allen Türen und Luken und erfaßte im Nu die ganze Umgebung.

Im Abenddunkel kam der Heiligenbauer von Querhoven her auf den Hof. Sein Gesicht war blaß und gramvoll, und als er hörte, daß alle jubilierten, weil das Lenlein von ihrer Blindheit befreit sei, taumelte er und wäre bald hintenüber zu Boden geschlagen, doch erhielt er sich noch und schleppte sich ins Haus.

Die Knechte und Mägde glaubten, das Glück habe dem Heiligenbauer den Verstand verdunkelt. Doch während sie noch darüber redeten, wie es möglich sei, daß jemand aus lauter Freude ein so verzweifeltes Gesicht machen könne, fing die Glocke im Türmchen so gell, so schreiend an zu läuten, daß alle vor Schreck zusammenfuhren.

Die Bäuerin wußte noch nichts von der Heimkehr des Sintlingers. Beim Klang des seit Jahrzehnten stummen Glöckchens kam sie laufend unter die Tür und fragte in den Hausen des Gesindes hinein, was das für ein Unsinn sei.

Man schwieg verlegen und antwortete endlich, der Sintlinger sei eben nach Hause gekommen.

Das Glöckchen wimmerte und zuckte noch immer. Wie gehetzt war Johanna über die Stiegen hinauf. Wahrhaftig, da steckte ihr Mann, krampfhaft ins Gebälk des Türmchens gezwängt, hielt sich stemmend mit der Linken fest und stieß fortwährend mit einer Latte in die Glocke. Bald traf er sie, bald fuhr er vorbei.

Endlich hörte er auf das Bitten, Schreien und Klopfen Johannas, ließ die Latte fallen, beugte sich nieder und sagte tonlos, mit stierem Gesichtsausdruck:

»Ja, ja, Johanna, schrei, schrei! Die Steine werden gleich in die Luft fliegen, und der Herrgott macht sich aus dem Staube.«

Dann brach er in Lachen aus und stieg mühselig aus dem engen Gebälk.


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