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Drittes Kapitel

So blieb es. Auch als der Sintlinger nach Hause zurückgekehrt war, beherrschte ihn eine Versunkenheit und Gefangenheit, die ihn selbst nicht verließ, da ihn Johanna vor das Hoftor hinausführte und ihm den Sintlingerstein neben den Torlinden zeigte, mit seinem sauberen Unterbau, dem gefälligen Kreuze und dem geschmackvollen Eisengitter. Er nickte zustimmend, aber zerstreut, freute sich, daß Johannas Wunsch endlich in Erfüllung gegangen sei, und las dann die Widmung auf der vorderen Fläche des Unterbaues: »Dem Andenken der früheren Besitzer des Hofes gewidmet«, halblaut leer und gedankenlos, nickte bedeutsam dazu, sah Helene groß in die Augen und verlor sich von ihrer Seite, von einem Winde entführt, der in seinem Innern aufgesprungen war und sich nicht regieren ließ. Vielleicht hatte ihn der Schreck eines Menschen ergriffen, der, auf einer todeinsamen Insel lebend, plötzlich menschlich-brüderliche Laute neben sich aufklingen hört und im ersten Zusammenfahren zweifelhaft ist: hat der Laut einer fremden oder der eigenen Stimme sein Ohr getroffen. In dieser Gegend der Welt, in der er mit Helene allein zu leben glaubte, vor der den alten Klim das Grausen in den Tod und sein Weib hart an den Rand des Irrwerdens getrieben hatte, dort atmete also dieser verrückte Herner Bergmann und redete Worte, die allem widersprachen, was ihn seine Schicksalsschläge bis jetzt gelehrt hatten. Der Mensch redete diesen Wahnsinn vor Hunderten wie seine sicherste Wahrheit. Wenn der von dorther so sprechen konnte, war es unmöglich, daß seine eigene Überzeugung vom Wesen Gottes und des Menschen die einzige Berechtigung hatte. Jene Ansicht nämlich, daß das ganze Weltall von unzerbrechlicher Gesetzmäßigkeit, die zugleich Gerechtigkeit sein muß, regiert wird, eine unbedingte Gewalt auch Gott gegenüber besitzt und nicht die geringste göttliche Willkür zuläßt. Dieser Unbekannte wohnte wie der Sintlinger in derselben Weite, fern von allen Lehrmeinungen der andern Menschen, und war imstande, solch offenbaren Wahnsinn auszusprechen, wie der, daß die Seele eines Menschen Macht über Gott besitze. Wie? Dann hatte er sein Lenlein so gemacht, wie es jetzt war! Dann war er, der Sintlinger, entweder ein Scheusal, das nicht zu leben verdiente, oder ein solch heiliger Mensch, daß er sich vor sich selber fürchten mußte. Das erstere, wenn, wie alle glaubten, Helene wirklich blind war, das andere, wenn sie nach seiner Ansicht schon im diesseitigen Leben tiefer in die außerirdische Macht hineingerückt sei.

Mit diesen Gedanken schlug sich der Sintlinger auf das leidenschaftlichste und wurde es nicht gewahr, daß man das Tor und den Denkstein am andern Tage mit Girlanden aus Tannenreisig schmückte, daß aus dem Mittagessen eine festliche Mahlzeit geworden war und das Gesinde in feiertäglichen Gewändern umhersaß.

Johanna spürte wohl, daß ihr Andreas in der Seele leidenschaftlich mit jemand haderte, und meinte nach einigem Schwanken, seine unbegreifliche Art sei nichts als die von Güte nicht ganz bezwungene Abneigung gegen das »Steinschmeißen«, wie er die Aufstellung des Denksteins genannt hatte. Doch als er während der Mahlzeit sich an ihr Ohr neigte, sie aufforderte, ihn doch einmal genau anzusehen, und dann fragte, ob er wahrhaftig wie ein Narr aussähe, da verließ sie diese Bekümmernis. Sie beruhigte sich damit, daß ihn eben wieder seine Eigenart regiere, die entweder eine Folge seiner früheren Wildheit oder ein Erbteil des Sintlingerschen Blutes war, und störte ihn weiter nicht in seinem absonderlichen Gehabe. Der Sintlinger streifte noch einige Zeit durch Haus und Gehöft, wobei er oft stehenblieb oder erregt mit jemand Unsichtbarem sprach, und war dann verschwunden. Auch als gegen Abend das Gesinde begann, in seiner Art die Einweihung des Sintlingersteines zu feiern, ließ sich der Bauer nicht sehen. In seinem unbekannten Versteck duldete er es, daß über den ganzen Heiligenhof sogar ein wirklicher Tumult kam, so als ob mit dem Denkmal nicht die verderbliche Macht der tollen Sintlinger gebrochen worden wäre, sondern so, als seien die wilden Fremdbauern zu neuem Regieren aus den Gräbern gelockt worden. Und seltsamerweise war der alte Zenker der Anstifter und Anführer der ausgelassenen Springprozession, die bis tief in die Nacht lärmend umherschwärmte. Aus seinem Beutel war das Faß Bier gekrochen, das wie von ungefähr sich auf dem Sägebock hinter der Scheuer einfand. Auf sein Geheiß hatte sich im Schütze der Dämmerung sein Schwestersohn aus Querhoven mit der Harmonika durch den Wald in den Hof geschmuggelt. Erst schnellte wie ein Hochzeitspeitschenschlag da und dort ein lautes Gelächter auf. Das Mädchenkichern stachelte überall leise an der Lust. Nicht lange, und es schnippte, pfiff, schäkerte und jauchzte überall aus den Pferdeställen, dem Milchkeller, der Siedekammer, unterm Schuppen und im Flur.

Und als gar unvermutet die Harmonika melodisch aufwieherte, überstürzten Knechte und Mägde die Abendarbeit, und bald fegten alle singend und tanzend über den ebenen Wiesenplan hinter den Scheuern.

Vergeblich machte Johanna einigemal den Versuch, das Überbrausen der Vergnügtheit einzudämmen. Doch anstatt sich ihrer Beschwichtigung zu fügen, ließ man sie hochleben, kreiste sie armverschlungen ein und hüpfte nach dem Takt der Harmonika um sie herum, daß die Bäuerin sich schnell dem fessellosen Schäumen entzog und sich auf das Vorbänklein rettete. Dort setzte sie sich und schaute in das Dämmern des Abends hinaus. Der Grenzweg drunten war kaum mehr zu erkennen, und der Brindeisenerhof sah im Schatten nicht wie ein Gebäude, sondern wie eine Schwarzbuschkuschel aus, die unhörbar auf dem Hügel schwankte. Wenn ein Freudenschrei des Sintlingerschen Gesindes an ihn prallte, wachte er mit einem schwachen, mürrischen Widerklang auf und versank dann aufs neue in das finstere Insichgekehrtsein.

Irgendwer mußte neben dem Wohnhaus im Garten sein. Und Johanna mühte sich, herauszubekommen, wer es sei; aber sie sah nur in dem Schatten sich schwärzere Schatten bewegen, formlos, unhörbar, wie bei Nacht das Wild um einen Waldsaum spielt. Einmal glaubte sie wohl das leise Aufkrähen der Stimme Peters zu vernehmen, und hinterher war es, als rumpele gedämpft das Brummen der Stimme des alten Brindeisener darein. Allein, der laute Freudenbetrieb der Dienstleute nahm ihre Aufmerksamkeit dann wieder so gefangen, daß sie, ohne es zu wissen, die Melodien mitsummte, die der Harmonikaspieler endlos seilerte. Bald taumelte das Lachen, Singen und Musikwerken in die ährenfahle Nacht hinaus, als wolle es in das Feld auswandern, dann tauchte der Jubel wieder in der Ferne auf und wurde immer herzhafter und ungebundener wieder an den Hof herangesogen. Die Bäuerin überließ sich diesem Hin- und Herschwenken des fröhlichen Getöses, und nach einer Weile erschien es ihr wie eine frohe Verheißung der Zukunft. Dieses Fortsinken des Lachens und Singens ins Feld hinaus war wie eine Ernte des Glücks, als schwankten immerfort hochgeladene Fuder der Freude von draußen aus der Welt in ihren Hof herein.

»Warum könnt's nicht wahr sein«, sann die Bäuerin, »daß dieser Stein da drüben meine Kummerwand für immer durchgeschlagen hat?«

Als sich Johanna umdrehte, sah sie zum Erstaunen ihren Mann neben sich sitzen und Helene, die er an den Achseln zwischen seinen gespreizten Knien hielt.

»Ach, du bist's?« fragte sie endlich, erleichtert aufatmend. Der Sintlinger nickte nur schweigend.

»Warum hast du denn Helene nicht schlafen lassen?« fragte sie nach einer Pause weiter.

Der Sintlinger bog seinen Kopf auf die Seite und fragte: »Hast du's gehört? Sie schießen noch immer.«

Johanna bemühte sich, etwas wahrzunehmen, aber es war unmöglich. Allein Helene erklärte: Ja, es böllere in allen Hübeln, und auch Männer könnte man laufen sehen, wenn man sich inwendig ganz ruhig hinsetze.

Die Bäuerin sagte mit schelmischem Spott: »Nein, so was, Lenlein!« und streichelte ihm die Wange.

In diesem Augenblick kreischte aus dem Tanzhaufen hinter der Scheuer eine Magd schrill auf.

Der Sintlinger sagte: »Ich denke, es ist Zeit, Feierabend zu machen. Deswegen komme ich heraus.«

Plötzlich ruf die Blinde: »Dort!« und streckte die Hand in der Richtung des Waldes aus, der von Querhoven herüberzog.

»Was ist denn dort, Kind?« fragte der Sintlinger das Mädchen und nahm es schützend in die Arme.

»Sie ist übermüdet«, sprach Johanna, »wir wollen hineingehen«, stand auf und nahm Helene bei der Hand. Aber das Kind entzog sich ihr heftig und jagte mit weinerlicher Hartnäckigkeit, daß sie nicht müde sei, sondern sie sehe einen Mann.

Der Bauer berührte beschwichtigend die Hand seiner Frau und sagte dann ernst: »Also einen Mann sieht das Kind.«

»Ja«, antwortete Helene sehr bestimmt, »dort«, und sie zeigte nach derselben Richtung wie vorhin.

Es konnte ja nicht anders sein, daß die Wahrnehmungen Helenes Sinnestäuschungen infolge überreizter Nerven waren. Aber es fügte sich seltsam; als der Sintlinger und die Sintlingerin mit gemachter Aufmerksamkeit zur Beruhigung des Kindes Umschau hielten, kam der alte Zenker, vornübergebeugt und unsicher hinter der Schuppenecke vor. Ein Handwenden lang stutzte er gegen das Torbänklein hin, dann trat er an der Hügelwand gegen den Brindeisenerhof heran und sah angestrengt hinunter.

»Siehst du, Lenlein hat recht. Da ist ja der Mann!« sagte der Sintlinger launig zu seiner Frau. »Aber ich denke, nun ist es wirklich Schlafenszeit, sonst schüttet uns der Alte noch um.«

Er reichte Helene in die Arme seines Weibes und erhob sich. In diesem Augenblick schrie Zenker in sinnloser Wut auf: »Wirst du 'numergehn? Wirst du wohl gleich, Brindeisener – Vieh, du!«

Ehe der Bauer hinzuspringen konnte, hatte der Wirtschafter einen großen Stein aufgerafft und den Abhang hinuntergeschleudert.

Da war der Bauer auch schon bei dem Wütenden:

»Bist du des Teufels, Zenker!« rief er und rüttelte ihn am Arme. Der Alte drehte sich herum und glotzte ihn verständnislos an, und als jetzt das Schmerzgeheul einer Knabenstimme schrill aufklang, nickte er sogar zufrieden und lachte übers ganze Gesicht.

»Zenker, du hast den Jungen getroffen, du!« sagte der Bauer lauter und packte ihn fester am Arme, daß er zur Besinnung komme.

Von drüben brüllte jetzt der alte Brindeisener auf, dumpf krachend, als trommle jemand auf eine große leere Holzkiste. Aber man hörte nur einzelne Worte: »... Teufel ... Bande ... entzweischlagen ...«

Johanna nahm Helene auf die Arme und eilte in den Hof. Das Harmonikaleiern riß mitten entzwei, und das Gesinde drängte eilig heran. Als sie hörten, um was sich das »Brindeisenergeschimpfe« handle, traten alle, Knechte wie Mägde, auf die Seite des alten Zenker und erklärten: »Dem Rangen«, womit sie den kleinen Peter Brindeisener meinten, »sei recht geschehen, und wäre ihm auch der Schädel eingeschmissen worden.« Denn den ganzen Abend sei er um den Hof »herumgespioniert«, und habe man ihn da weggejagt, so hätte in der nächsten Minute sein weißer Haarschopf woanders auf der Lauer gelegen.

Aber der alte Wirtschafter wehrte nun ihre Anerkennung ab. Der trunkene Wirbel war schon vollkommen aus ihm herausgeblasen. Er sah betreten vor sich nieder und sagte mit bekümmerter Stimme: »'s is nich recht, ihr Leute, 's is nich recht. Nee, nee

Der alte Brindeisener hatte sich auch ausgeschüttet. Man hörte ihn krachend einen Torflügel herumschlagen. Ehe er aber den anderen nachdonnern ließ, brüllte er noch einmal mit der ganzen Kraft der Lunge durch die Nacht: »Verfluchtes, verfluchtes Sintlingerpack.« Dann schmetterte der andere Flügel ein, und der schwere Sperrbalken rasselte herunter. Das Sintlingergesinde brach in lautes Hohngelächter aus, und der Bauer hatte Mühe, sie zu beschwichtigen und in den Hof zu stopfen.

Der alte Zenker blieb an der Stelle stehen, von wo er den Stein geschleudert hatte. Als der Sintlinger wieder zu ihm trat, faßte er seine Hand und drückte sie übermäßig. »Du hast recht, Bauer«, sagte er mit dumpfer Bissigkeit, »ganz recht. Mich regiert's, ich leugne nichts mehr – ich bin ein alter Esel geworden«, und nach dieser Einleitung ließ er sich in eine lange Erzählung ein, deren Sinn darin bestand, daß er durch das Albpreschen »tontal, durchaus verschlagen habe«, die »Plauze«, die Beine, der Kopf, alles tontal. Und wenn er sich nicht eine Weile auf die Seite mache und sich aussitze und sattfletsche, dann mache es ihn stille und lege ihn auf den Rücken. Es wäre ja jetzt alles in Ordnung auf dem Hofe, man habe den Sintlingerstein und brauche ihn nicht mehr. Er wolle auf ein paar Wochen zu seiner Schwester nach Querhoven hinüber, und sein Neffe könne indessen für ihn auf dem Hofe eintreten. Der Bursche greife die Arbeit so leicht und sicher wie seine Harmonika. Es sei Zenkerblut, und er werde sich keine Unehre machen mit seinem Verwandten.

Der Sintlinger hielt standhaft aus. Als er aber sah, daß der Alte von neuem zur Abhandlung einer anderen Frage ausholte, sagte er, daß man das besser morgen bei Tage besprechen könne, jetzt sei es vernünftig, man gehe schlafen. Damit nahm er den Graukopf bei der Hand und zog ihn dem Hofe zu. Am Torpförtchen aber riß sich der Alte mit dem Bedeuten los, daß er noch etwas zu tun habe. Der Sintlinger verschwand im Hause.


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