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Zweites Kapitel

All diesem Kampf der Querhovener um die Behauptung ihres errungenen Glaubens hielt sich der fern, aus dessen Wesen und Leben doch die neue Welt der armen Walddörfler so viel empfangen hatte, der Heiligenbauer Sintlinger. Durch das kluge Entgegenkommen und die Versöhnlichkeit des neuen Hemsterhuser Pfarrers, den Sektierern die Lehnäcker zu belassen, hatte man des Sintlingers versprochene Hilfe beiseitegeschoben, um durch Verhinderung äußerer Verbindlichkeit die Störung der inneren Beeinflussung anzubahnen. Der Heiligenbauer kam also gar nicht dazu, aus seinem Gut den Querhovenern Pachtäcker zu überlassen.

Aber wie sich der Dr. Spiller über die Wirkung seiner sachlichen Maßnahmen auf den Geist der Querhovener täuschte, so mußte er auch bald die Nutzlosigkeit dieser mittelbaren Bekämpfung des Heiligenbauers erfahren. Denn der Sintlinger war über die Beilegung des Streites um die Lehnäcker nicht bloß nicht betroffen, sondern äußerte sogar seine unverhohlene Befriedigung, daß der Not der bedrückten Speilhobler so verständig abgeholfen wurde.

Und doch drängte es den Sintlinger von dem Ringen der Querhovener noch weiter in die Abseitigkeit seiner einsamen Seele hinein, als ihn sein Wesen bisher von Grund aus gewiesen hatte. Daran aber war ein anderer als der Hemsterhuser Pfarrer schuld. Denn es ist verbürgt, daß der Heiligenbauer entschlossen war, an dem Begräbnis des auch von ihm hochverehrten Vanlyßender teilzunehmen. Der Wagen mit dem angeschirrten Pferde stand an dem Tage schon auf dem Hofe. Der Knecht Wendel saß auf dem Bock, und der alte Zenker umging an seinem Stock noch einmal das Gefährt, um nachzusehen, ob auch alles in Ordnung sei, schlug auf die Polster, nach vergessenem Staub zu fahnden, fuhr dem Pferde an den Flanken hin, griff seine Mähne durch, prüfte die Schnallen der Gurten und entdeckte endlich, daß das Gebiß dem Gaule zu eng ins Maul gelegt sei. Indem er nun mit dem wortschnellen Knechte darüber in Streit geriet, trat der Sintlinger aus der Tür, im schwarzen Rock, den hohen Hut auf dem Kopfe, und näherte sich, ein mildes Lächeln auf dem ernsten Gesicht, dem Wagen, »Häng' das Gebiß einfach ein Glied weiter ein, Zenker«, sagte er. »So, wenn ich warten soll, bis Wendel dir das letzte Wort läßt, ist Nimmerleinstag da und mein guter Vanlyßender derweil schon von den Toten aufgestanden.« Sein Gesicht vertiefte sich noch um einen Schatten mehr in ruhigem Ernst. Er streckte die Hand nach dem Wagenschlag aus und hob den Fuß, hineinzusteigen. Aber ehe er recht auf den Sitz kommen konnte, trat durch das Beitürchen der Hemsterhuser Postbote in den Hof, hob die Mütze grüßend von dem verschwitzten Kopf und wollte, da er den Bauer so nahe vor der Ausfahrt sah, mit seiner Bestellung an ihm vorüber ins Haus hinein. »Nichts an mich?« rief ihm der Sintlinger nach und beugte sich aus den: Wagen. »Freilich, ein Brief«, antwortete der Briefträger über die Achsel zurück. »Nun also, warum soll ich ihn da nicht auch kriegen?« sagte der Heiligenbauer launig, nahm ihn an sich, und während er ihn schnell aufriß, gab er zugleich Wendel das Zeichen zur Abfahrt. Zenker stand gerade vor dem Kopf des Pferdes, und es dauerte ein Weilchen, ehe er auf die Seite humpeln und die Bahn frei machen konnte. Indessen hatte der Sintlinger den Namen des Schreibers und die ersten Worte des Briefes gelesen. Das genügte, schon nach einigen Schritten des Pferdes, den Knecht von der Fortsetzung der Fahrt zurückzuhalten. Der alte Wirtschafter sah seinen Herrn sich plötzlich verwandeln, leidenschaftlich über das Schreiben gebeugt, immer blasser werden und in verlorener Versunkenheit Blatt um Blatt wenden. Minute verstrich um Minute. Der Sintlinger schüttelte da den Kopf, nickte dort gedankenvoll, ließ, zu Ende gekommen, den Brief auf die Knie sinken und schaute dann lange, wie ratsuchend, in den Sommerhimmel hinauf. »So, so...«, sagte er endlich mit einem tiefen Atemzug, stieg aus, gab den Befehl, auszuspannen, und ging, mit großen, unbeweglichen Augen in der Luft hängend, ins Haus zurück.

Der Alte, als er den Sintlinger sich so seltsam gebärden sah, brummte dem Bauer nach: »Ja, ja, geh du immer 'nein! Das Kopfsprengen hört nicht auf bei dir, und wenn du siebenmal die Heiligen inwendig übernanderlegst.« Dem verdutzten, neugierigen Wendel aber riß er alle Fragen an den Zähnen ab und gab seinem »Gemäre« alle Schuld, dem Herrn die Fahrt verleidet zu haben. Der Heiligenbauer kam nach kurzer Zeit in der Arbeitskleidung die Stiege herab, rief seiner erstaunten Frau durch die halboffene Tür in die Küche zu, daß er eines Briefes halber nicht nach Hemsterhus hinunter könne, sondern in den Wald müsse, wo er erwartet werde. Und ehe Johanna noch etwas fragen konnte, war er auf und davon.

Die Bäuerin eilte, so schnell es sich wegen der Mägde tun ließ, ihrem Manne wohl nach, erreichte aber damit weiter nichts, als vom Hoftor aus ihn eben über die Hohe Kippe nach dem Walde zu mit großen Schritten verschwinden zu sehen. Der Sintlinger ging, ohne anzuhalten, die Waldstraße entlang. Je tiefer er in seinen Forst eindrang, desto klarer wurde die Sicherheit in ihm, daß es ihm nur an jener Stelle des Waldes gelingen konnte, den eben empfangenen Brief richtig zu lesen und zu verstehen, wo ihm vor Jahren der wahngetriebene Kräutersammler zu Gesicht gekommen war, den er für den verstromerten Faber-Rebellen gehalten hatte. Denn das Schreiben stammte von diesem Manne, der in der Nacht nach der Sintlingersteinfeier wie ein Spuk sein Leben gestreift hatte und es doch seitdem mit Fangarmen umstrickt hielt, die ihn nicht losließen.

»Bin ich denn nicht selbst närrisch, mich immerfort von diesem Menschen wie von einem Albe treiben zu lassen?« fragte er sich ein über das andere Mal und brachte es doch nicht fertig, den Brief aus der Seitentasche zu nehmen, zu zerreißen und die Schnitzel in den Wald zu streuen, sondern lief immer weiter, bis er ungefähr an die Stelle kam, von wo aus beim Umwenden die einsame Waldstraße sich fern in die halben Kronen der Bäume hinaushob.

Dort ging der Sintlinger linker Hand so tief in den hohen Bestand, daß er vom Wege aus nicht zu erblicken war, ließ sich auf einen alten, übermoosten Stock nieder und las den Brief, der weder Ort, noch Datum, noch Anrede trug, sondern sofort begann:

»In letzter Zeit habe ich in verschiedenen Zeitungen Ihren Namen gelesen und darin erfahren, zu welch großem Einfluß Sie in der dortigen Gegend gelangt sind. Ich beglückwünsche Sie von Herzen zu der großen Wandlung, die sich in Ihren Anschauungen vollzogen hat. Denn die Nacht steht noch unvergeßlich in meiner Erinnerung, in der ich ruheloser Erdenflüchtling als Gehetzter das erste und einzige Mal mit Ihnen zusammengetroffen bin. Sind es nicht schon zwölf oder gar dreizehn Jahre? Aber es gibt ja keine Zeit vor unserer Seele, und der Geist des Menschen kennt keine Trennung. Sie haben recht mit der Wahrheit, die Sie die Querhovener gelehrt haben: Die unbegrenzte Liebe der Menschen zueinander ist die einzige Offenbarung des Gottes in uns und des Weltgottes, die ein und dasselbe sind. Dazu bedarf es keiner Kirche, keiner Priester und keiner Sakramente. Wie gern möchte ich zu Ihnen eilen und Ihnen die Hand drücken, der trotz des schweren Geschickes seines Kindes die Kraft gefunden hat, sich aus den Verstrickungen der Eigensucht und leidenschaftlichen Stolzes in die lichte Weite schrankenloser Liebe zu den Nächsten loszuringen. Trotzdem Sie in jener Nacht mich verspotteten und höhnisch hinter mir herlachten, als ich vor dem heranreitenden Gendarm in den Wald flüchtete, war ich der Wirkung jener Stunde und meines Wesens auf Ihr Leben sicher. Glauben Sie mir, es gibt keinen Menschen, der glücklicher über diesen Ausgang sein kann, als ich es bin. Würden Sie mir es glauben, daß es im Laufe der Jahre oft Augenblicke gegeben hat, wo ich mich fast körperlich neben Ihnen gehend gefühlt habe?

Ich bitte, stoßen Sie sich nicht an der Unruhe und dem etwas erhitzten Schweifen meiner Worte. Es ist zum Teil ein Angebinde meiner Natur, heute aber ein Ausfluß meiner Freude und wohl auch etwas noch die Folge meines Zustandes. Ich habe mich von dem Säbelhieb des Schutzmannes, den ich bei der Demonstration der Berliner Arbeitslosen in Moabit erhielt, noch nicht ganz erholt. Meine Stirn, die fast gespalten war, ist ja zugeheilt, aber in der Erregung überfällt mich noch mal und mal Schwäche. Sobald ich ganz hergestellt bin, komme ich in Ihre Nähe, denn in dem rheinisch-westfälischen Kohlenbezirk wühlt sich wieder etwas zusammen, und ich muß hin, um die Arbeiter von Torheit und Unvernunft zurückzuhalten, sollte mir auch dort ein zweites Mal beschieden sein, was mir hier widerfahren ist.

Auf jeden Fall besuche ich Sie wahrend meines Aufenthalts in der dortigen Gegend. Dann hofft Ihnen noch näherzutreten

Ihr

Franz Faber.«

Der Sintlinger las den Brief aber- und abermal. Je tiefer er indes in den Gedankengang und die Gesinnungswelt Fabers eindrang, desto mehr, desto tiefer fand er sich wieder in Gegensatz dazu. Besonders die Stelle, an der von des Sintlingers Änderung, von seiner Wandlung aus der »Eigensucht« und dem »Stolze« in schrankenlose Liebe zum Nächsten gesprochen wurde. Was wußte dieser Mensch von ihm und von der Art der Leute überhaupt! Immer und immer, das hatte er, der Sintlinger, doch erfahren, nutzt die Belehrung des Irrenden nichts, da ein Mensch des anderen Meinung stets nach seiner, nicht nach der Art des Sprechenden, also falsch versteht. Das Denken des eigenen Kopfes ist ja schon eine Verwirrung der Wahrheit, die an die Innenwand des Schädels klopft, wieviel mehr das Wort, diese neue Entartung des Gedankens. Wenn Menschen miteinander sprechen, so legen sie Hölzchen nebeneinander, nie fügt sich eines an das nächste.

Und die Liebe? Gott, ja, die Liebe! Besteht sie ihrem Wesen nach nicht in der schrankenlosen Bereitwilligkeit, den Zustand des anderen zum eignen zu machen? Und ist das in alle Ewigkeit nicht ein aussichtsloses, nutzloses Beginnen? Nie vermag eine Eiche sich in eine Buche, nie ein Wassertropfen in einen anderen zu verwandeln. Wie kann einer seine innere Gestalt in die des Nächsten vertauschen? Ewig müssen wir Menschen einsam bleiben, einsam wie Hügel und Berge, die nur in der Tiefe ihrer Gesteinswurzeln, wo sie noch nicht Hügel und Berge sind, übereinstimmen. Das hatte der Heiligenbauer ja doch sogar in seinem Verhältnis zu seinem Weibe erleben müssen, von dem alten Klim und dem Prahl-Meixner nicht zu sprechen, dem Pfarrer und allen Querhovenern. Nun, und gar der Wahn der Hilfe, von dem dieser närrische Mensch aus einer Not in die andere, einer Niederlage und Enttäuschung in die nächste gehetzt wurde! Der Mensch befindet sich gegen sich selbst in der Torheit, wenn er glaubt, daß mit Gedanken ihm von den Schäden geholfen werden kann, die das Leben jedem zufügt. Denn die Gedanken kommen immer erst nachher, wenn alles vorüber ist, wie Boten, die ein Unglück melden, oder ein Glück, je nachdem. Und genau so ist es mit unserer Hilfe am Nächsten, am Menschen und der Gesellschaft. Wir kommen auch da immer erst nachher, immer zu spät. Kinder werden erzogen nach Grundsätzen, die nicht mehr gelten, wenn sie erwachsen sind. Wir sind wie Stellmacher, die für Verschmachtende Wagen bauen, und sind wir fertig damit, so hat diejenigen schon der Tod geholt, denen sie weiterhelfen sollten. Ja, sogar unsere eigenen Erfahrungen nützen uns nichts. Der Jüngling kann von seiner Kindheit und der Mann nichts vom Jüngling lernen. Noch weniger kann man sie übertragen. Immer bringt man Pferde auf einen Markt, der schon vorüber ist. Alle Bemühungen der Lehre, der Liebe und der Hilfe sind darum zwecklos, sie bewirken nur, daß wir an der Erreichung der eigenen Vollkommenheit gehindert werden. Statt als Stern am Himmel zu strahlen und alle zu trösten, die im Dunkel oder in der Nacht pilgern, erniedrigen wir uns zu Lichtfunzen, die umherschwirren, das Dämmern der Winkel zu erhellen, ohne doch das Elend und die Not vertreiben zu können. Also mochte der Faber immer handeln und denken, wie er wollte, über die Welt und ihn, den Sintlinger selbst, das sollte ihn nicht beirren. Für ihn gab es nur das eine Gebot: Er wollte fortfahren, ohne rechts und links zu sehen, seine Pflicht gegen sich, gegen seine tiefsten Bedürfnisse zu erfüllen und gleich dem Gewitter sein, das sich darum auch nicht schert, wenn die Menschen meinen, es komme ausgerechnet ihrethalben. Es reinigt die Luft auch da, wohin der Laut seines Donners nicht mehr reicht. Fließt irgendwo Luft ab oder zu, so müssen sich die Luftschichten des ganzen Erdkreises endlich danach richten. Alles, das Innerste der Seele auch, unterliegt Gesetzen, an denen nicht zu rütteln ist, unausweichlichen, denen Gott selbst sich nicht entziehen kann. Denn diese Gesetze sind die Staatsmänner seiner Gewalt.

Oder war er, Andreas Sintlinger, der Bauer, der hier auf dem bemoosten Stocke im eigenen Walde saß, den sie rundum den Heiligenbauer nannten, etwa nach eigener Willkür zu diesen Erkenntnissen gekommen? Es hatte ihn ja doch wider seinen Willen, mit unausweichlicher Notwendigkeit dahin geführt. Und nun kam dieser stumpfe Irgendwer, dieser Faber, und sprach von dem Zustande seines Lenleins und damit von all seinem Dasein als einem bösen Geschick. Der Heiligenbauer brach in ein lautes Gelächter aus, daß der ganze Wald widerhallte. Dadurch wurde er selbst aus dem Wirbel seines leidenschaftlichen Bohrens herausgerissen. Er stand auf und schaute betroffen umher, ob nicht doch ein Lauscher irgendwo unbemerkt in der Nähe sei; denn der Wald hat so viel Ohren, wie Blätter an den Bäumen hängen und Nadeln an den Zweigen sitzen. Wirklich, da drüben auf der Waldstraße stand ein Mann und sah aufmerksam gegen die Gegend hin, wo der Sintlinger sich befand, schüttelte den Kopf, stach ein paarmal mit dem Stock überlegend in die Straße und setzte sich dann vorsichtig in Bewegung, um zu erkunden, von wem dies laute Gelächter in dem Walde herrühre.

Der Heiligenbauer sah den Fremden immer näher kommen, duckte sich und lief lautlos in den Wald hinein, bis er eine dichte Schonung hinter sich hatte. Dann stand er still und lauschte wieder. Es war kein Laut mehr zu vernehmen außer dem Sieden des Lichtes in den Kronen der Bäume.

Das schnelle Laufen hatte ihm den Atem etwas abgetrieben. Er legte sich deshalb in das feuchtwarme Moos, nahm die Mütze ab und drückte die Hände in das weiche, grüne Polster. So beruhigte er sich allmählich, und da er seine Flucht vor dem Unbekannten jetzt überdachte, lächelte er nachsichtig und wohlig über seine komische Eile. Aber, Gott sei Dank, war er doch ins reine mit sich gekommen und fühlte sich wieder auf dem alten, sicheren Pferde sitzen.

Er überließ sich einem traumhaften Verfließen des Gemütes und verfolgte mit Neugier ein winzig kleines, zikadenähnliches Tierchen, das, wohl von seiner Hand aus dem Wipfel eines Moosbäumchens gerüttelt, Anstrengungen machte, durch das grüne Gewirr wieder heraufzukommen. Um dem Insekt sein Bestreben zu erleichtern, lüftete er den Druck der Hand. Die Moosbäumchen hoben sich, und in kurzer Zeit war das Tierchen aus seinem Gefängnis befreit und lief ihm auf den Zeigefinger. Dort stand es lange in der nur den Insekten eigenen, vollkommenen Starre still. Nur seine winzigen Fühler zitterten noch fortwährend wie unter den Nachwirkungen der Angst. So hatte der Heiligenbauer Muße, das Tierchen zu betrachten und über seine unbeschreibliche Schönheit in das höchste Erstaunen zu geraten. Sein etwa den vierten Teil eines Zentimeters langer Leib, von der Form eines winzigen Torpedos, nur mit stärkeren Verjüngungen am Hinteren und am Kopfende, war in ein metallisches Weißgrün gekleidet, über dem ein puderig weißer Hauch lag. Dieselbe Farbe hatten auch die beiden Halbflügelchen, krausig gewellte Fächerchen, in deren Vertiefungen das Ahnen eines roten Schimmers schwebte. Die Ringe des Hinterleibes waren mit tiefschwarzen Bogen abgesetzt, nach der Mitte zu schwächer und schwächer werdend, daß man die Stelle ihres Aufhörens kaum bestimmen konnte. Das größte Wunder aber waren die schwarzen, feurig glühenden Augen am spitzen Kopfende und die beiden hauchdünnen, schwarzen Fühler, die in blaßgrüne Büschelchen, wie in magische Zitterflämmchen, endeten. Das Tierchen stand auf rosa Beinchen, und nun, da es zu laufen anfing, sah es aus, als sause es auf einem rosigen Nebelchen hin.

Und dieses Wunder sah von zwanzig Millionen Menschen kaum einer. Vollkommen verborgen blühte es in dem Zauber seiner Pracht und welkte, vielleicht nach Stunden oder Tagen schon, wieder hin, ohne seine Schönheit selbst je anders gekannt zu haben als nur in der Schönheit seiner inneren Harmonie, von der die äußere Gestalt der Ausdruck war.

So gotteseinsam, selbst unwissend, sollten auch Menschen ihre Vollkommenheit tragen. So, wie sein Lenlein sie trug und wie er ihr nachzuleben sich bemühte. Und der Heiligenbauer erinnerte sich mit Glück der Erkenntnis, die ihm vor Jahren beim Anblick des schwarzen Huhnes vor dem Drahtgitter gekommen war. Alle Gestalten des Lebens sind ja immer Sinnbilder derselben Wahrheit. In allen wohnt der unaussprechliche König, der dem Spiel der Lebensgebärden zuschaut, am deutlichsten aber im Menschen.

Nun, und hatte er, der Sintlinger, immer reiner und reiner in den Jahren, hatte er nicht auch ins Leben hineingespielt? Wie dies Tier, wenn auch nicht unwissend und wenn auch nicht mit Willen.

Ja, ja, reiner und reiner, für sich selbst, natürlich.

Aber wie? Welche Folgen hatte es denn für die gehabt, mit denen er in Berührung gekommen war?

Und das erstemal sah er sein Leben, wie er es noch nie gesehen hatte. Wie ein Überfall kam das, ein Einbruch, ein Aus-den-Angeln-Heben. Er mochte wollen oder nicht, ein lautloser Sturmwind riß ihn fort: Sein Schwiegervater, der alte Klim, war daran gestorben. Den Pfarrer Ardelt hatte es ins Grab gestoßen, den Prahl-Meixner an den Baum gehängt, den Frieden der ganzen Gegend gestört, Menschen entzweit, ihn selbst seiner Frau entfremdet, den alten Erbhaß der Brindeisener neu entflammt, den Gottlieb vom Hofe getrieben.

Und was war ihm denn eigentlich selbst von allem geblieben?

Ein paar ärmliche beschriebene Blätter in einem verschlossenen Schub.

Das dunkle Bewußtsein der Schuld an dem Aufruhr der Gegend hatte ihn nach Hemsterhus getrieben, um gutzumachen, was von ihm herrührte. Und hatte er nicht in feiger Furcht vor der Verantwortung das Lenlein als Schutz mit in den Aufruhr gezerrt, und war seitdem sein Mädchen nicht wie verwandelt?

Eine fremde Macht wirkte in sein Leben hinein und hatte so alles verwirrt, trotz des Meisters, des unsichtbaren Königs in ihm, daß er jetzt nach jahrzehntelangem Ringen sich ins Unrecht verstrickt sah wie ehemals, als er durch die starken Entgleisungen des Trunkes sich am Leben versündigt hatte.

Der Heiligenbauer war wie zerstört und bebte am ganzen Leibe. Er sah auf seine Hand und merkte, daß er die schöne Zikade zwischen seinen Fingern zermalmt hatte.

Das erschütterte ihn noch tiefer.

»Bin ich denn ein Unhold, daß ich alles vernichten muß, was ich angreife?« sprach er trostlos, mit stockender Brust.

»Warum geschieht mir das alles? – Warum?« fragte er in Schrecken weiter. Da antwortete es ganz deutlich: »Weil du dein Denken denkst und dein Fühlen fühlst, und weil dir deswegen die Liebe fehlt, die sich hingibt, ohne zu wägen und zu fragen.«

Es sprach ganz klar, nur konnte der Sintlinger nicht unterscheiden, ob in ihm oder außer ihm.

Mit zusammengezogenem Herzen wartete er, daß es weiterrede.

Und während er lauschte, fiel ihm eine Stelle des Faberschen Briefes ein, jene Stelle, in der er ihm schrieb, daß er sich in den Jahren oft körperlich in seiner Nähe gefühlt habe, und zugleich dachte er, wie oft wirklich leibhaftig das Bild dieses Mannes vor ihm in der Zeit aufgetaucht war.

Voll eines traumhaften Grauens hob er endlich die Augen und sah um sich. War der Fremde auf der Straße etwa gar schon der Faber gewesen?

Aber der ganze Wald war leer und totenstill. Die Bäume standen unbeweglich im sinkenden Abendlicht.

Wie zerschlagen erhob sich der Heiligenbauer und ging, achtlos, wohin es sei, im Walde fort.

In tiefer Nacht fühlte die Heiligenbäuerin im Schlaf, daß jemand ihre Hand fasse.

Sie erwachte und sah, daß ihr Mann neben ihr auf dem Bettrande saß.

Seine Finger waren kalt und umfaßten ihre Hand wie ein Schraubstock.

Er antwortete auf keine Frage und ging, nachdem er eine Weile gesessen hatte, ohne einen Gruß wieder aus dem Zimmer.


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