Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Unter allerlei Gedanken, die regellos wie windzerblasener Maiblumensamen in dem Kopfe des alten Zenker herumstoben, kam er aus dem Walde und durch die Einsattlung auf den Wirtschaftsweg. Im Emporsteigen gegen die »Hohe Kippe« war er mit sich unzufrieden, daß er ungeachtet des Fauchens dieses irren Weibes nicht die Leiche des Niemand-Narren die paar Schritte durch den Wald auf Brederoder Gebiet geschleift und damit alle Schererei und alles müßige Gerede der Leute von dem Sintlingerhofe ferngehalten hatte.

Als er auf der »Hohen Kippe« angelangt war, duckte er sich und blickte vorsichtig nach dem Feldbirnbaum hinunter. Da sah er noch immer den Bauer, Johanna und die blinde Helene. Die Frau saß nicht mehr, sondern stand neben dem Sintlinger, der mit erhobenem Arm in die Richtung nach Querhoven wies, das mit nichts zu sehen war als mit dem kümmerlichen Rauche seiner Hütten über dem Föhrenwalde, in den sein oberer Teil eingewühlt lag. Indes er das beobachtete, überlegte er, wie es anzustellen sei, dem Bauer allein die Nachricht von dem unerwünschten Waldfunde zu überbringen, denn ob er auch durch ein Ahnen in die Nähe der frohen Hoffnung kam, das Ende des Niemand-Albes könne für die verzagte Bäuerin zu einer Heimkehr in ihr altes Wesen werden, er getraute sich doch nicht, geradeswegs hinunterzustürzen, weil er als alter Junggeselle zu sehr die unvermuteten Quersprünge fürchtete, der nun schon jede Frau unterworfen ist. Wie gut auch, sann er, daß ich den Jungen nicht geschickt habe. Er hätte den beiden die Nachricht wie mit dem Prügel an den Kopf geschlagen.

Als Zenker wieder hinsah, wendete sich die Bäuerin eben mit Helene zur Heimkehr, der Sintlinger blieb stehen und fuhr fort, in die waldige Ferne zu starren. Der alte Wirtschafter erhob sich, und sobald Johanna hinter der Hügelwölbung langsam wandelnd zu versinken begann, lief er, so schnell ihn die alten Beine zu tragen vermochten, hinab auf den Bauer zu.

Sein Atem wollte nicht mit. Abgehetzt kam er bei dem Sintlinger an, der sich bei dem Gepolter der schweren Stiefel umgedreht hatte, und überbrachte, durch die ungewohnte Eile überwältigt, die Erzählung von dem toten Narren stoßend und wirr wie in großer Angst vor.

»Wenn es auch nur wahr wäre«, sagte der Bauer mit einem Erhellen im Gesicht und wendete sich um.

Die Bäuerin mußte wohl auch den lauten Ruf des alten Dienstmannes in der stillen Luft gehört haben. Sie war zurückgekehrt und stand halb über den Hügel gehoben mitten im Wege und richtete ihr blasses Gesicht fragend auf die zwei.

Der Sintlinger schrie ihr zu, daß weiter nichts vorgefallen sei, daß es sich nur mit dem Wagen geschert habe, und sie solle in Ruhe nach Hause gehen, er komme gleich nach.

Zögernd tauchte ihr Kopf wieder unter, und die beiden stiegen empor, dem Walde zu.

Als sie die »Hohe Kippe« hinter sich gebracht hatten, fing der Sintlinger plötzlich an, wie wahnsinnig zu laufen. Der Junge, der noch immer von Zeit zu Zeit sang und mit der Peitsche knallte, war aus dem Walde heraus bis an den Hemsterhuser Weg gefahren. Er rief dem Bauer zu, das Weib sei toll geworden und gehe wie wütend um; aber der Sintlinger hörte nicht auf ihn, sondern rannte vorbei. »Auf der Blöße an der Brederoder Grenze ist er!« schrie ihm der Junge nach, hörte jedoch schon nichts mehr als das Schnellen und Klatschen der Zweige, die hinter dem Davoneilenden zusammenschlugen.

Zenker folgte mit reißendem Atem in langem Abstande seinem Herrn.

»Ist er schon hier durch?« fragte er mehr mit den Augen als den abgetriebenen Worten zu dem Jungen hinauf und schob sich fast taumelnd an dem Gefährt vorüber und traf den Sintlinger auf einem Baumstumpf vor der Strauchumwallung sitzen, hinter der der Tote lag. Als der abgepreschte Alte näher kam, kehrte ihm der Bauer ein erblaßtes, verfinstertes Gesicht zu.

»Nu, habe ich nicht recht gehabt?« fragte flüsternd der Dienstmann in der Meinung, der Sintlinger habe sich schon von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugt und ruhe von dem ersten Schrecken aus. Aber der Bauer antwortete nicht, sondern stand schweigend auf, bog die Büsche auseinander und trat an die Leiche. Zenker folgte ihm und überprüfte noch einmal den Entseelten.

»Bist du ganz sicher«, fragte nach langem Betrachten der Sintlinger, »daß das der Mensch ist, der den Braunen davongeritten hat? Sieh dir ihn genau an!«

Zenker lächelte über die unnötige Frage und antwortete: »Ach, das sehn Sie ja selber, und das müßte jedes Hemsterhuser Kind erkennen.«

»Was denn?« fragte der Bauer.

»Nu, daß das der Niemand-Alb und weiter kein anderer ist«, erwiderte Zenker.

»Der Niemand-Narr?« fragte der Sintlinger ironisch gedehnt, den Kopf schüttelnd, und trat an den Kopf der Leiche.

In diesem Augenblick tauchte aus des Sintlingers Erinnerung das Bild des Albes, das er vom Hoftor aus vor einem Jahr gesehen hatte, als der Halbsinnige am Grenzwege kauerte und die roten Läppchen einscharrte und ausgrub. Es stimmte: genau so grotesk und wirr wie diese Leiche hatte der Narr dort unten gehockt. Es war der gleiche lange, dünne Hals, der eigentlich nur aus zwei Sehnensträngen bestand, zwischen denen eine Rinne sich nach dem Rücken zu verlief. Aber wo war der rotbraune Haarschopf und das magere Schwänzchen, das er hatte die Halsfurche hinunterfließen sehen, daß dem Bauer damals der Gedanke angekommen war, dies sei kein Mensch, sondern ein Tier? Dieser Unbekannte trug einen schwarzbraunen Haarschopf, der sich scharf wie eine Perücke von der bläulichweißen Haut des Halses abhob.

Nein, das war nicht die Leiche des Hemsterhuser Albes.

Der Sintlinger ließ sich aber seine Gedanken nicht anmerken, sondern suchte mit den Augen den Rasenplatz der Blöße ab und fragte: »Kleider habt ihr nicht gefunden?«

Zenker schüttelte nur mit dem Kopfe.

»Vielleicht liegen sie bei dem Weibsbild. Wo ist sie denn?« fragte der Bauer.

»Da drüben hinter dem Hirscholderstrauche. Aber ich rate Ihnen, Bauer, sie hat den Teufel. Nehmen Sie sich in acht«, sagte Zenker und ging hinter dem Sintlinger her, der durch das Gebüsch zurücktrat, um von außen herum an den Platz zu kommen, denn die Blöße war eng, und er hätte müssen über die Leiche schreiten. Als sie den kleinen Bogen durch den Wald machten, ertönte von fern Menschengespräch, schnell vorübergerissen, eine höhere und eine tiefere Stimme. Dem Sintlinger stieß es den Kopf herauf, er horchte und zuckte ein wenig zusammen.

»Geh mal hin und sieh, wer es ist«, sagte er zu dem Wirtschafter. »Und wenn es die Frau hergetrieben hat, halt sie zurück.«

Zenker eilte, so schnell er konnte, davon.

Fern um die Seele des Sintlingers war ein spukhaft zehrendes Verdämmern.

Er wußte, daß eigentlich er hätte seinem Weibe entgegengehen und sie zurückhalten sollen. Trotzdem wurde er, wie ein Nachtwandler vom hinsinkenden Mondlicht, weitergezogen.

»Jetzt muß es sich erfüllen«, sagte er mit eindorrenden Lippen und stand im nächsten Augenblick vor der Irren, die diese wahnwitzige Totenwacht hielt. Aber nun war alle Wildheit aus ihr geschwunden. Der schlanke, ausgezehrte Leib lag wie schmerzvoll unter den Baum geflossen. Sein Ebenmaß war noch durch die grauen, schmutzstarrenden Lumpen wahrzunehmen, die ihn bedeckten. Der Kopf, von dem fahlgelben Züngeln verwirrter Haare umzuckt, lehnte zurückgesunken, erschöpft am Stamme. Die Augen starrten verzweifelt, wie unter die Stirn genagelt, durchs Geblätter zum Maihimmel, voll von einer ausgebrannten Anklage.

Die Fliegenwolke stob immer von dem Toten sausend auf und wurde, summend, wieder von ihm angezogen. Und jedesmal, wenn so die Leiche aus ihrer Erstarrung zu erwachen und sich mit leisem Stöhnen zu rühren schien, verdunkelte ein tierdumpfer Schmerz das Gesicht der Irren, und aus den weiten Augen liefen Tränen in den Mund, der sie gierig wie einen Labetrunk verschluckte.

Auf dem Schoße hielt sie eine alte Schildmütze, krampfhaft mit beiden Händen gefaßt, wie ihre letzte Kostbarkeit.

Der Sintlinger vergaß vor diesem erschütternden Anblick seine eigene Lebensnot; er dachte nicht daran, was diese Irre für ihn bedeutete. Nur ein grenzenloses Mitleid erfüllte ihn. »Du«, sagte er mit gütiger Stimme, »du Weib, wer hat dir denn deinen Mann genommen?«

Die Irre rührte sich nicht.

»Nicht wahr, du hast den Niemand gern gehabt?« fragte er mit noch größerer Liebe.

Obwohl sie offenbar die Worte nicht verstand, wurde sie von den Lauten der Güte wie von körperlichem Kosen berührt. Es strahlte ein Leuchten über ihre Züge. Unter leisem, innigem Wimmern hob sie die Mütze an die Brust und küßte inbrünstig die leere Luft.

Da hörte der Sintlinger die Stimme des alten Knechtes rufen: »Frau! – Frau!! Sind Sie um Gottes willen schön gebeten! – Bleiben Sie hier! – Nicht hingehen!«

Die dringenden Rufe taumelten hinter einem rauschenden Laufen drein, das sich rasch näherte.

Auch die Irrsinnige mußte von dem Rufe des Knechtes getroffen worden sein, denn sie hob den Kopf, streckte ihn wie ein sicherndes Tier vor sich und bemerkte jetzt erst den vor ihr stehenden Bauer. Da ging plötzlich eine rasende Wildheit in der Verrückten auf. Sie ließ sich auf die Arme nieder, ihre Augen funkelten wieder wie blaue Stahlbuckeln. Unter leisem Knurren, mit entblößten Zahnen ging sie kriechend auf ihn los.

Unwillkürlich wich der Sintlinger einen Schritt zurück.

Da wurde er von seiner Frau gesehen, die im Heranlaufen in die Nähe des Gebüsches gekommen war. Sie rief schrill seinen Namen: »Andreas!«, und er sah sie bleichen Gesichtes heranstürmen.

Mit eins wich der seltsame Taumel von ihm, und er sprang auf Johanna zu, um sie im letzten Augenblick zurückzuhalten. Aber sie glitt an ihm vorüber und wand sich durch das Gebüsch vor die Leiche.

Nach einem Starren sank sie dort in die Knie, und als er neben sie trat, sah er sie mit gefalteten Händen halblaut in unendlichem Glück gegen die Erde sprechen wie in erlöstem Gebet.

»... Nun hast du mir doch geholfen ... mein lieber Vater«, sagte sie hauchend. »Jetzt weiß ich, daß es gut war, daß du gestorben bist. Ich danke dir. Du hast den Alb aus der Welt gerissen. Nun wird alles gut werden, wie es früher gewesen ist.«

Dann ließ sich die Bäuerin von ihrem Manne aufheben und davonführen.

Als sie zu dem Strauche kamen, wo die Irre gekauert hatte, war die Stelle leer.

Sie sahen sie wie ein graues Gespenst durch den Wald eilen und hinter den Bäumen verschwinden.

Die alte Schildmütze lag im Grase. Johanna wendete sie mit einem Zweige um und um.

»Dieselbe Mütze«, murmelte sie, »die er trug, als er sich zu unserem Kinde geschlichen hatte.«

»Was sagst du, Johanna?« fragte sie der Bauer.

Da flog sie ihm mit dem jubelnden Schrei an den Hals: »Andreas, der Niemand-Alb ist tot!«

Der Sintlinger sah ein, daß er ihren Glauben nicht zerstören dürfe; denn wenn er ihr seine Überzeugung gestanden hätte, daß die Leiche in dem Strauchhause hinter ihnen nicht die des Halbsinnigen aus Hemsterhus sei, so wäre das Schlimmste für ihren Geist, wenn nicht gar für ihr Leben zu befürchten gewesen. Darum streichelte er ihr den Scheitel, beglückte sie mit allerhand tröstlich aufmunternden Worten und hielt sie in den Armen, bis sie ihren Schmerz und ihr Glück ausgeweint hatte.


 << zurück weiter >>