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Fünftes Kapitel

Der Sintlinger traf am anderen Morgen den alten Zenker nach manchem vergeblichen Suchen in der Siedekammer, wo er auf der Siedelade saß und mit grauem, versunkenem Gesicht auf einen Haufen alten Plunders sah, der vor seinen Füßen auf dem Boden lag: ein Paar rötliche, knochenharte Langschäfter, eine ausgediente Stalljacke, ein zerwundenes Halstuch und einiges Riemzeug.

Beim Eintreten des Herrn hob der Schaffer den Kopf und nickte ihm zum Gruß spöttisch lächelnd entgegen: »Ja, ja, lach nur, Bauer! Mit Fetzen fängt das Leben an, mit Fetzen hört es auf. Unmächtig bin ich auf den Sintlingerhübel gekommen, unmächtig steige ich wieder 'nunter. Es dreht sich alles. Was grau angefangen hat, muß grau aufhören. Das darf wohl nicht anders sein bei unsereinem! Aber dazwischen war's doch manchmal schön und licht, nicht, Bauer?«

»Da willst du also richtig fort?« fragte der Sintlinger.

»Ob ich will, das springt auf einem anderen Stein«, antwortete Henker. »Es tut mich von selber 'naus.«

Damit rückte er auf der Siedelade ein Stück hin, und der Sintlinger setzte sich neben ihn.

So sprachen denn die beiden den Entschluß des Alten durch, daß er bei seiner Querhovener Schwester sich ein paar Wochen und, wenn's sein müßte, Monate, mit Sitzen und Liegen in Wärme und Ruhe von seinem Schaden erhole; man streifte plaudernd in diese und jene Gegend der Vergangenheit, und der Heiligenbauer zerstreute die Wolken, die dem treuen Dienstmann die Entfernung vom Hofe wie einen Abschied für immer erscheinen ließen, und sagte ihm so viel Liebes und Tröstliches, daß Zenker wieder Mut faßte.

»Nein, nein!« rief der Alte endlich lachend aus, »so meinte ich's eigentlich auch nicht. Los werdet ihr mich alten Brockenierer und Knurrer nicht ganz. Darauf verspitzt euch nur nicht. Eh der Winter kommt, brumm ich schon wieder durchs Haus.«

Dann verhandelten sie noch über den Schwestersohn, den Gottlieb Meixner, und Zenker lobte ihn mit kargen Worten als einen fleißigen, verläßlichen und brauchbaren Burschen, dem das einzige von seinem Vater und seinem Onkel, dem Prahl-Meixner, anhänge, daß er manchmal sozusagen ein verrücktes Trillern kriege. Aber dann brauche man ihm bloß die Kandare zwischen die Zähne zu reißen, auf einen derben Rucker nur, so fielen die bunten Meixnerfetzen ab, und das Zenkerblut käme wieder obenauf.

Ja, es sei schon seltsam, meinte der Sintlinger, was so Väter Kindern mitzuspielen imstande seien, wenn die sich nicht selber einen Tisch aufzustellen wüßten mit eigenem Essen darauf. Da stoße ihnen sonst jedes Gericht auf, an denen sich Vater und Großvater je einmal den Magen verdorben habe. Ob es mit dem Meixner-Elis – er hieß Elias – noch lange dauern werde? Damit meinte er den einzigen Querhovener Großbauern.

O ja, antwortete Zenker, wisse denn der Bauer nicht, daß es ihm jetzt wieder ganz besonders gut ginge, und ganz Querhoven stinke vom Meixnerhofe her Sonntag und Woche nach Braten und Wein, und der Prahl-Elis fahre, daß den Pferden die Hufeisen in den Schwänzen hängenblieben. Denn im Vorjahr sei der kreuzlahme Bruder der Frau gestorben, der kranke Geizkragen, dem eigentlich von Rechts wegen der ganze Hof und alles gehört habe.

Nun ständen die Talerkisten fortwährend auf, und wo sich Meixner nur bücke, falle ihm Geld aus der Tasche.

Die beiden redeten über den wirren Großbauer von Querhoven noch manches hin und her und kamen so auf Umwegen wieder auf den Fortzug des alten Wirtschafters, dessen Umstände sie dann ganz genau festlegten.

»Gut, da wär' also alles abgemacht«, sagte der Sintlinger am Ende und erhob sich. »Der Gottlieb kutschiert dich gegen Abend hinüber und bringt sich bald auf dem Rückwege seine Sachen mit, und dein Lohn geht weiter. Merk' dir's, Zenker, du gehörst zu uns!«

Er versetzte dem Alten einen herzlichen Schlag auf die Schulter und verließ ihn schnell, denn er sah, wie der gute Graukopf, von Rührung übermannt, fahl dastand und in Wut auf seinen Zahnstummeln herumbiß, um das Wasser nicht aus den Augen zu lassen.

»Gottlieb ist auf der Hinterwiese«, rief er dem Sintlinger in grimmiger Gepreßtheit noch nach. Dann packte er die alten Langschäfter, hieb sie krachend neben der Siedelade auf den Boden und sagte: »Die Knochen zerschlag' ich dem, der an unsern Herrn 'ran will.«

Als der Heiligenbauer auf der Waldwiese anlangte, lag der größte Teil schon niedergemäht, in Schwaden, und der Bursche ließ die Sense noch immer tanzen, als habe er sie eben erst in die Hand genommen. Schlechte Mäher stehen steif und rupfen mit der Sense an dem Gras herum wie eine alte zahnlose Kuh. Der gute Mäher überläßt sich eigentlich mehr diesem Schnittmesser an dem langen Stiel. Er tut nichts hinzu. Nach kurzer Zeit wird die Sense von dem Sausen gepackt, das in ihr ruht. Dieser Schwung geht in den Mahder über, daß er mehr wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln über die Wiese wogt. Der Sintlinger näherte sich dem Burschen, ohne von ihm gesehen zu werden. Jetzt, da er bei ihm stand, berührte er von hinten seine Schulter, und Meixner riß die Sense aus dem Schwung und stellte sie lächelnd mit dem Stiel auf die Erde.

»Na, wird's auf dem Sintlingerhof gehen, Meixner?« fragte der Bauer.

»Wegen mir schon«, antwortete Gottlieb lächelnd.

»Aber Harmonikaspielen macht sich schon leichter, was?«

»Eins ums andere, wie's kommt.«

»Und wenn das Mutterbändel nun zerreißt?« fragte lächelnd der Sintlinger, weil Gottlieb sein Leben noch nicht aus Querhoven herausgekommen war.

»Na, da denk' ich, bleiben meine Hosen schon trocken«, antwortete Gottlieb schlagfertig.

Nach dieser fröhlichen Einleitung kamen die beiden wegen des Lohnes überein. Der Bursche erhielt sein Handgeld und wurde davon verständigt, daß er heute schon antreten könne. Meixner war kurz, klar, mit einer Neigung zu spöttischer Verstecktheit. Auch beim Ernst flog ein komisches Jucken durch sein sehr großes, hügelig unregelmäßiges Gesicht. Besonders seltsam waren die Augen. Von Geburt etwas schielend, lagen sie in tiefen, übergeräumigen Höhlen, klein, dunkel, voll jagender Unruhe. Damit musterte er den Heiligenbauer, von dem er schon so viel gehört hatte, jedesmal, wenn der Sintlinger den forschenden Blick von ihm abwandte. Dann schössen die Augen mit stechendem Zupacken vor und sprangen sofort, wieder in Schüchternheit verfallend, zurück, wenn ihn der Heiligenbauer ansah.

Im allgemeinen gefiel Meixner dem Bauer, und dies seltsame Gehaben im Gesicht erklärte er sich mit den verborgenen Wirbeln, von denen der alte Zenker gesprochen hatte. Es wird sich schon alles fügen, dachte er, und wenn nicht, so sind wir ja nicht verheiratet.

»Passiert ist sonst nichts?« fragte der Sintlinger am Ende und überschaute mit heimlichem Staunen den Ort, wo sich vor Stunden erst das Erlebnis mit Faber abgespielt hatte.

»Passiert?« Gottlieb kehrte ihm etwas verdutzt das Gesicht zu. »Na ja, ich meine bloß so«, sagte der Bauer lächelnd, nickte zum Gruß und schritt der Straße zu. Dort ging er unauffällig eine kleine Strecke nach dem Walde zu und suchte nach, den Spuren des Landreiters, der in der Nacht vorübergetrabt war. Aber in dem zermahlenen Staube hatten diesen Morgen schon so viele Gefährte die Bandspuren ihrer Räder und Huflöcher der Pferde eingegraben, daß nichts zu entdecken war.

»Von der Erde verschwunden«, sann der Sintlinger, »so soll's auch bleiben.« Dann kehrte er sich um und ging langsam auf dem Hemsterhuser Wege seinem Gehöft zu. Und während er säumig vorwärts kam, ließ er in läßlichem Erinnern seine Gedanken in die Nacht zurücksinken und konnte sich eines bitteren Gefühls gegen sich plötzlich nicht erwehren, so, als habe er unedel gegen Faber gehandelt, ja sogar in der bösen Härte seiner früheren Zeit.

Aus diesem Verlieren weckte ihn der Knall einer Peitsche, und als er den Kopf hob, sah er sich mitten auf dem Grenzwege hart vor zwei Pferdemäulern stehen, die ihm den warmen Brodem ins Gesicht bliesen. Zugleich erscholl ein rumpelnd-tiefes Gelächter und spöttisches »Holla!«

Der Sintlinger sprang zur Seite und erkannte den alten Brindeisener, der, wie ein riesiger Haufen Klobenholz auf seinem Bretterwagen hockte, und dahinter gewahrte er den kleinen Peter.

Schnell gefaßt trat er mit einem Lächeln an den Wagen, um gleich über den ärgerlichen Handel zu reden, der gestern abend von seinem Gesinde ohne sein Zutun angerichtet worden war. Die Männer hatten sich kurz die Hände gereicht, und obwohl aus den Augen des alten Fremdbauern nicht einen Augenblick das hämische Bohren wich, beruhigte er das Bedauern des Sintlingers mit achtlos gleichgültigen Worten, doch so, als lohne es sich weder zu zürnen noch zu verzeihen.

Da sei ja weiter nichts zu reden, meinte er, aus einem Steinbruch fallen eben grobe Brocken, und ein Luder stinke halt schon. Das sei einmal nicht anders auf der Welt.

Dabei knurrte er wieder sein höhnisch-gutmütiges Gelächter, sah mit Geringschätzung auf den kleinen Sintlinger herab und bemühte sich nicht im geringsten, seinen Nachbar ausdrücklich von dieser beleidigenden Entschuldigung auszuschließen. Alles, was er zur Abschwächung seiner Worte tat, bestand in der zornigen Aufwallung gegen seinen Jungen, der eigentlich an diesem neuerlichen Hofzank allein die Schuld trage. Denn das könne man ihm glauben, geschickt sei er zu dem Spionieren von niemand worden. Er sei nur immer von einem unnötigen Schweifen und Herumlugen besessen, treibe allerhand unnötiges Gehaben, schwätze, singe, springe, quirle umher und mache alles, nur nicht, was ihm befohlen werde. Und wenn er sich wieder einmal drüben um den Hof drücke, so solle man dem Rangen mit der Peitsche Beine machen.

Der kleine Peter hatte sich während der Strafpredigt seines Vaters unauffällig immer weiter auf dem Brette gegen das hintere Ende des Wagens fortgeschoben und wartete offenbar nur auf den Moment, in dem der alte Bauer versuchen würde, seinem Groll einen handgreiflichen Abschluß zu geben. Der eine Fuß des Knaben stand schon fluchtbereit auf der Hemmschraube, und seine Hände saßen zum Abspringen gefaßt mit entschlossenem Griff am Rande des Seitenbretts, auf dem er gelockert saß. Seine großen, weißblauen Augen, von zurückgehaltenen Tränen noch glänzender gemacht, gingen ungeduckt zwischen seinem Vater und dem Sintlinger hin und her und ruhten mit erstauntem Verwundern immer ein wenig länger auf dem tiefen, ruhigen Gesicht des Heiligenbauern. Der Junge hatte ein freies, sympathisches Wesen, sogar jetzt, da ihn ein furchtvolles Lauern beherrschte.

Als darum der Brindeisener das böse Brummen seiner Strafpredigt beendet hatte, trat der Sintlinger an den Jungen heran, strich ihm einmal über den blonden Scheitel und tröstete ihn gütig, denn gar so schlimm werde es von seinem Vater ja wohl nicht gemeint sein.

Die unerwartete, ihm ungewohnte Güte erschütterte den Knaben so, daß er die Hand des Heiligenbauern mit beiden Händen ergriff und leidenschaftlich preßte. Der Brindeisener aber, der das sah, lachte rauh auf, versetzte den Pferden plötzlich einen tüchtigen Hieb und murmelte, schnell davonfahrend, allerhand Verächtliches über »solch Sintlingersches Gefimper« vor sich hin.

Der Heiligenbauer stieg kopfschüttelnd über soviel dumpfes, hartes Leben zu seinem Hofe hinauf.

*

Am Nachmittag desselben Tages lud der alte Zenker seine Habseligkeiten auf, nahm Abschied von allen auf dem Sintlingerhofe und ließ sich von seinem Neffen hinüber nach Querhoven fahren. Er hatte versprechen müssen, wenn es ginge, manchmal herüberzukommen und sich so zu pflegen, daß er vor dem Einwintern wieder seine alte Stelle einnehmen könne.

In der Nacht dieses Tages drückte sich der Sintlinger immer vergeblich bald auf dies, bald aufs andere Ohr und konnte nicht schlafen. Jetzt hörte er es leise die Bodenstiege herabkommen. Nun stand es draußen in der Stube, und es war ihm, als stecke er hinter der Tür und lausche selber mit ruhlosen Ohren auf seine eigene Schlaflosigkeit. Er zündete Licht an und sah nach Johanna und nach Helene, weil er glaubte, sie lägen mit wachen Augen und spähten in die Nacht. Aber um seines Weibes Mund spielte ein halbes Traumlächeln, und das Mädchen schlief verklärt wie atemlos. Er löschte das Licht wieder aus und grub den Kopf tief in die Kissen. Es nutzte nichts. Das unbegreifliche Horchen ließ nicht ab von ihm. Endlich merkte er, wie der Wind sich aufmachte, seufzend um die Ecken strich und dann mit leisem Brausen in den Bäumen des Gartens wühlte. Jetzt glaubte er, würde es ihn wohlig auslöschen. Aber plötzlich hörte er, wie am Hoftor gerüttelt und gleich darauf einigemal wie mit der Faust gegen Holz geschlagen wurde. Geräuschlos wand er sich aus dem Bett, zog sich notdürftig an und ging durch die Haustür über den Hof. Das Tor war geschlossen. Kein Laut rührte sich, und doch schien es ihm, jemand stehe draußen und warte mit bebenden Knien und zitternden Kinnladen, daß man öffne und ihn hereinlasse. »Wer ist denn draußen?« fragte er gedämpft. Es antwortete nicht, und als er das Türchen öffnete und vor sich hinlangte, griff er in die leere Nacht. Das war so schmerzhaft, daß er behutsam die kleine Tür wieder schloß und in die Stube zurückkehrte. Dort setzte er sich im Finstern hinter den Tisch und war ganz erschüttert.

Auf einmal, ohne daß er wußte, wie ihm geschah, legte er die Hände vors Gesicht, beugte sich auf das Sitzbrett und sagte: »Alles ist wahr. Ich brauch' keine Sorge zu haben. Ich hab' recht. Ich allein ... nicht du. Faber, und du ... wahrhaftig nicht ... wahrhaftig nicht! ...«

Stundenlang rang er mit dem Riesenschatten des Herner Flüchtlings, bis ein Licht um ihn aufging, eine stille, grenzenlose Helle, in die sich sein Schlaf verlor.

Am anderen Morgen fand ihn Johanna, die Arme auf den Tisch gelegt, im tiefen Traum.

Als sie ihn weckte, hob er das überwachte, blasse Gesicht und sah sie so an, als werde er zu einem Bekenntnis gedrängt. Aber da sie ihn fragte, was es gäbe, stand er auf und kleidete sich rasch vollends an. Dann ergriff er ihre Hände und führte sie schweigend aus dem Hause über den Hof, tief ins Feld hinaus.

Als nichts mehr um sie war wie das frühleise Rauschen der Ähren neben und der blasse Lichthimmel über ihnen, stand er still und schickte sich zum Reden an.

Doch er brachte nichts über die Lippen, als daß er jubelnd ein paarmal ihren Namen rief: »Johanna, Johanna!« Dann mußte er schweigen und schloß sie erschüttert in seine Arme.

Und nachdem er sich etwas gefaßt hatte, bat er sie, zurück in den Hof zu gehen und sich nicht zu besorgen. Er sei nichts als glücklich, wirklich glücklich, und sie sei auch darin, sie und alle Sintlinger.

Das erstemal in ihrem Leben sah Johanna etwas wie den Glanz hervordrängender Tränen in seinen Augen und verließ ihn mit dem Verwundern, daß so schnell das alte, unbegreiflich leidenschaftliche Herz ihres Andreas wieder erweckt worden war. Beim Zurückwenden sah sie seinen besonnten Scheitel in den Ähren, so als schwebe eine schwarzgoldene Kugel über die fahle Getreideweite.

Wie groß sein Glück war, geht aus einer Stelle seiner Tagebuchblätter hervor, die nur in dieser Zeit des angespannten Ringens entstanden sein kann, aus dem Kampf mit Faber in einer glanzvollen Lebenshöhe alles neu wiederzufinden, was die unerhörbaren Räder des Schicksals auf dem Sintlingerhofe Wundersames zurechtgemahlen hatten. Auch jener, der nicht die geringste Kenntnis der Ereignisse jenes Lebensabschnittes besäße, würde fühlen, daß den Bauer eine neue, höhere Woge seines Geschickes erfaßt habe. Für den aber, der seine Tage am Pulsgelenk hält, tut sich ein Ausblick in jene nur dämmernd erleuchteten Gebiete auf, wo, gleichsam hinter dem Rücken des Daseins, die irdischen Kräfte der Menschen gegeneinander abgewogen werden. Durch den bloßen Vorübergang des Riesenschatten Fabers war ein neuer Geist über den Heiligenbauer gekommen, der ihn wider Willen in die Gewalt des Mannes zog, den er einen Überwundenen nannte. So ganz anders auch im Wortfall nimmt sich diese Eintragung aus.

Die Sätze lauten:

»Wird ein Mensch geboren, so fängt im selben Augenblick ein Zweigeläut an. Eine Glocke läutet unten, eine oben; eine gleichsam in der Erde, eine, wie die Leute sagen, im Himmel. Dieses doppelte Geläut hört nicht auf, solange wir leben. Und je nachdem der Mensch mehr die Glocke von droben oder von drunten hört, ist er gut oder böse, groß oder klein, geht es mit ihm bergauf oder bergab.

Manche Menschen aber verüben in der Mitte ihres Lebens mit ihren Geschäften oder mit ihren Leidenschaften, ja, manche gar bloß mit ihren Gedanken einen solchen Lärm, daß sie der Klang der beiden Glocken nicht erreichen kann. Solche stecken mitten in der größten Not, von der ein Mensch hier auf Erden befallen werden kann. Sie haben den Weg verloren. Wenn sie in den Spiegel sehen, erscheint ihnen ein fremdes Gesicht. Denn sie verstehen nicht mehr ihren eigenen Handel, wenn sie etwas tun, ihr Eigenwort, wenn sie etwas reden, und ihre eigenen Gedanken, wenn sie sinnen. Das ist der Acker, auf dem Narren wachsen, als wären es Weise. Verlaufene wollen dann andere führen, und die unter die Räder geraten sind, beeilen sich um gute Ratschläge für Gestrauchelte.

Denn es gibt wahrhaftig Leute, die durch alle Arbeit in ihrem Glück es zu nichts bringen, als sich wie ein Räuber im Dunkel fortwährend selber anzufallen und auszuplündern. Die sind auch wie Bergwässer, die immerfort stürzen müssen, wenn sie am Leben bleiben wollen.

Lenlein, ich bin auf dem rechten Wege, ich bin auf deinem Wege!

Lenlein, ich hör' es läuten! Aus der Höhe hör' ich es läuten...!«

*

In dieser Sonnenluft schaffte der Heiligenbauer an seiner Ernte und konnte nicht Mühe genug kriegen. Wenn die Knechte und Mägde am Abend wie betäubt vor Müdigkeit dem letzten Fuder nachgingen, erwischte der Sintlinger bei der Heimkehr noch sein Kind und schwang es und spielte mit ihm durch den Garten.

Von Hemsterhus hörte er nicht mehr als den Laut der Turmglocke, und an der Welt interessierte ihn nur das Wetter. So kam es, daß sein lichtbenebeltes Auge auch nicht nach einer Seite sah, wo sich ein Vorgang abspielte, der seiner Sicherheit mindestens übel aufgestoßen hätte, wenn er bis auf den Sintlingerhügel gedrungen wäre.

Etwa drei Wochen nach des Heiligenbauers nächtlichem Abenteuer auf der Wiese stand in den Zeitungen die Nachricht, daß der spurlos verschwundene Führer der Herner Rebellen, der steckbrieflich verfolgte Faber, sich von selbst in Neustadt, einer kleinen zwischen Koburg und Sonneberg liegenden Stadt Thüringens, dem Gericht gestellt habe. Freilich hatten alle Zeitungen diese Notiz mit kleinem Druck in dem unauffälligsten, verstecktesten Winkel ihres Blattes gebracht, weil inzwischen das ganze lärmende Lügengebäude über Faber zusammengebrochen war.

Einen Monat später tauchte nur kurz die Nachricht auf. Faber sei unter Anrechnung der Untersuchungshaft wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses zu drei Wochen Gefängnis verurteilt worden.

Indessen hatte der Sommerwind Feierabend auf dem Felde bekommen. Er brauchte die Uhren nicht mehr zu schaukeln, weil ihnen das langsame Reifen zu eintönig wird. Er hatte nicht mehr nötig, die Halme aufzutreiben, wenn sie müde von dem Tragen der immer schwereren Ähre sich auf die Erde lagern wollen. Er streicht müßig umher, pfeift sich leise eins und spielt höchstens achtlos mit den Schwingeln der letzten Haferfelder oder jagt die Vögel durch die Luft, daß ihnen die ersten Wandergedanken kommen.

Um die vielen Dörfer, die man vom Heiligenhofe aus sehen konnte, schwebte ein rötlich-blauer Hauch; denn das Heidekraut blühte. Es war, als sei ein milder, rötlicher Abendschein auf die Erde gesunken und habe dort Wurzel geschlagen, die Straßen sahen aus wie goldene Bänder, die aus dem Himmel geflattert waren. Die Wälder sangen bei stehender Luft, und das Licht spielte mit klarem Verwundern über diese späte Schönheit um alles, und Bäume, Häuser und Menschen glänzten so, daß man gar nicht daran dachte, sie könnten einen Schatten haben.

Das waren die Tage, in denen Faber das Gefängnis der kleinen thüringischen Stadt verließ. Der Inspektor händigte ihm einen Zehrpfennig aus und stellte dafür die Forderung, daß der befreite Häftling nach dieser unangenehmen Erfahrung sich nicht mehr um das Leben anderer und die Einrichtungen des Staates kümmere, zu deren Besorgung die Behörden eingesetzt seien, sondern auf dem geradesten Wege in die Heimat zu einer nützlichen Beschäftigung zurückkehre. »Vor allem«, sagte der Gefangenenaufseher, »werde er im Laufe des Tages von einem der Polizisten noch in der Umgebung betroffen, so könne er nicht dafür gutstehen, daß er gefaßt und per Schub nach Schlesien befördert werde.« Faber sah ihm während des Sprechens unverwandt mit seinen großen, tiefen Augen ins Gesicht, daß der Mann den Blick endlich nicht aushalten konnte und seine klugen, wohlmeinenden Worte wie eine Torheit empfand. Er drehte sich verwirrt weg, und Faber wanderte still lächelnd zur Stadt hinaus. An den letzten Häusern traf er ein armes Mädchen, das in die Schule wollte. Dem schenkte er erst den Zehrpfennig aus dem Gefängnis und überließ sich dann einem wohligen, säumigen Wandeln. Nachdem er so eine Weile unter den vergilbenden Ahornen der Chaussee hingegangen war, kam er aus tiefen Gedanken zu sich und sah nach der Richtung, in der sein Schatten neben ihm auf der Erde lag. Er erstreckte sich rechter Hand in den Graben und zeigte auf eine Wiese, die sich zwischen Stoppelfeldern nach einem Wäldchen hinwand, das blau in der Ferne stand, und daneben in der Weite blitzte der Turmknopf einer Dorfkirche golden über das Feldergrün.

Faber folgte seinem Schatten, übersprang den Graben und schritt mit dem langen, feierlichen Gange seiner großen Füße die Wiese hinauf. Denn wer in seinem Herzen daheim ist, dem erscheinen alle Orte der Erde gleich gut.


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