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Siebentes Kapitel

Inzwischen war die Straße, zu deren Bau einst der Sintlinger halb ernst, halb spielerisch verstellt den letzten Anstoß gegeben hatte, vollkommen fertig geworden, und weil der Heiligenbauer trotz aller Zurückhaltung nicht nur bei dem Volk, sondern auch bei den Behörden als der eigentliche Vater dieses Unternehmens galt, ergab es sich mit Notwendigkeit, daß ihm bei der feierlichen Einweihung eine besonders ehrenhafte Rolle zugedacht war. Eines Tages erhielt er vom Landrat des Kreises, einem Freiherrn von Zwinin, ein eigenhändiges, höchst schmeichelhaftes Schreiben, in dem er ersucht wurde, »bei der feierlichen Eröffnung dieses wirtschaftlich so bedeutsamen Verkehrsweges seine Mitwirkung oder wenigstens seine Anteilnahme nicht zu versagen«. Dann folgte eine kurze Skizzierung der Feier, die so gedacht war, daß sie von dem Gut des Heiligenbauern ihren Anfang nehmen sollte. Dort, »an der Quelle des fruchtreichen Gedankens«, wollte der Landrat eine Ansprache halten, darauf sollte sich der festliche Wagenzug durch den Wald bis auf die Höhe, dem Buchteich gegenüber, bewegen. Hier, an der Grenze der Hemsterhuser Gemarkung sollte der Abschied von dem Gemeindevorstand und den Ehrengästen erfolgen. »Ich persönlich würde mich ungemein freuen«, so schloß der Brief, »wenn ich bei dieser Gelegenheit Ihnen, verehrter Herr, nähertreten und einen Einblick in Ihren so musterhaft vorbildlichen Wirtschaftsbetrieb erhalten könnte.«

Das Datum der geplanten Feier war vierzehn Tage später, auf den siebzehnten Mai festgesetzt, und der Sintlinger wurde gebeten, wenn es ihm dienlich erscheine, Abänderungsvorschläge zu machen.

Wenn der Sintlinger noch so fest wie eh auf seinem außerirdischen Sonnenpferde an der Seite des Lenleins gesessen hätte, wäre ihm die Antwort auf den Brief des Landrats nicht schwer geworden. Lachend hätte er nur all die bunte Unruhe von sich geschoben. So aber lachte er wohl spöttisch auf, nachdem er den Brief gelesen und zu sich gesteckt hatte, aber schon nach einigen Schritten zog er das Schreiben wieder hervor, überflog bald diese, bald jene Stelle, atmete schwer auf, schüttelte den Kopf und spürte ein ratloses Verfinstern über sich zusammenschlagen. Am Nachmittag war es so weit gediehen, daß ihm sein ganzes Leben wie ein Wasser erschien, das seine Ufer durchbrochen hat und wild und querfeldein nach allen Seiten auseinander strömt. »Was gehn mich denn euer Weg und eure Fahnen an?« sann er erregt. »Wenn ihr eine Marotte von mir ernst genommen habt, so ist das eure Sache. Schwemmt euch mit Geplärr und Getue hin, wohin es euch juckt. Aber laßt mich aus dem Spiel!«

Doch indem er so zornig aufbrauste, fühlte er im Unsichtbaren geisterleise, unzerbrechliche Fäden um sein Dasein sich enger und enger ziehen, die er unter dem Zwang des Schicksals mit all seinem Streben nach der höchsten menschlichen Freiheit selbst gewoben hatte. Er schüttelte wohl im nächsten Augenblick dies als spukhaftes Blendwerk der erregten Einbildung fröhlich ab, spürte sich aber doch bald wieder in diesen geheimnisvollen Verschwörungen festsitzen. Zu allem erhielt er am Nachmittag desselben Tages mit dem zweiten Postboten noch einen Brief von einer Kölner Gesellschaft für Terrainverwertung mit der Anfrage, ob er geneigt sei, in der nächsten Zeit einen Herrn zu empfangen, der den Auftrag und die Vollmacht besitze, wegen des Verlaufes seines Gutes mit ihm in Unterhandlungen zu treten. Dieses neue Andringen an ihn war von feiten der städtischen Spekulanten nicht zu verwunderlich, weil neuerdings der Plan einer Nebenbahn nach dem Rhein lauter und immer ernster erwogen worden war; und weil die Industrie jede Gelegenheit ergriff, wegen der billigeren Arbeitskräfte ihre Unternehmungen auf das Land zu verlegen, rechneten die weitsichtigen Geschäftsleute wohl mit dem Bau von Fabriken, die an der Bahn, inmitten der weit ausgedehnten Waldungen, nicht zu weit von dem Rhein mit seinem kleinen Umschlagshafen Gründungen mit der glänzendsten Zukunft werden mußten.

Freilich, sann der Heiligenbauer weiter, und so soll es wirklich darauf hinauslaufen, daß ich dazumal, als ich um den Straßenbau getrieben wurde, selbst die Hand erhoben habe, die nun Anstalten trifft, mich mitsamt dem Hofe von dem Hübel zu schieben. Und dabei fielen ihm seine eigenen Worte ein, die er vor einigen Tagen zu dem Lenlein gesprochen hatte: »Dann reisen wir beide so weit in die Welt, daß wir auch nicht mehr in Gedanken auf den Hof hier zurückfinden.«

Und da er am Abend unter den Torlinden diesen Gedanken noch weiter nachhing, entsann er sich plötzlich mit greller Deutlichkeit des tiefen Eindrucks, den er vor langen Jahren in seiner stillen Zeit auf einer Holzfahrt im Walde an einer krautversteckten, kleinen Quelle empfangen hatte. Obwohl es vollkommen windstill gewesen war, hatten die zarten Schwingel des überhängenden Grases fortwährend unter dem bloßen Kühlhauch des dürftigen Wasserfädleins so gezittert, als würden sie nicht bewegt, sondern rührten sich aus eigenmächtiger, innerer Ergriffenheit.

Und ebenso deutlich erinnerte er sich des Gedankens, der ihm damals blitzend durchs Hirn gefahren war: »Vielleicht verhält es sich mit allen Wesen, auch den Menschen, so, wie mit diesem Grasschwingel: Es bewegt uns, und wir glauben, uns zu bewegen.« Wenn aber das so ist, sann er verloren weiter, wenn es meinem Leben einen anderen Weg weist, über den Hübel hinunter in die Welt hinaus, wie das Lenlein sagt, was soll ich mich dagegen versteifen? Wirklich, am Ende blieb ihm doch nichts übrig, als mit Weib und Kind aus der Gegend von den Menschen fortzugehen, die ihm teils feindlich, teils furchtsam gegenüberstanden, ihn vergröbernd überschätzten oder, was ihn am schlimmsten berührte, seine Gedanken irrtümlich ins Leben übersetzten, sein Wesen verzerrt nachäfften.

Jawohl, fort! Das wäre das beste, denn so käme das Lenlein aus allen bunten Dunstwirbeln wieder ganz in das Dasein ihrer himmelssichtigen Augen, ich laufe nicht mehr als der Narr meiner Weisheit oder, wie es neuerdings jeder Hofhund bellte als bloßer Abklatsch dieses Faber-Menschen umher.

»Wenn es mich bewegt, warum soll ich mich nicht bewegen?« fragte er laut vor sich hin.

In diesem Augenblicke trat seine Frau aus dem Hofe, hörte den Laut seiner Worte, vermied aber jeden Schein der Besorgnis und setzte sich zu ihrem Mann, als sei sie auch nur tagesmüde und wolle die Unruhe in das Maidunkel ausklingen lassen. In Wahrheit empfand ihr wachsames Gemüt eine Luft um ihren Andreas, wirbelnd von allen Seiten herbeigesackt und unberuhigt wieder abgetrieben, ähnlich der Zeit, da es ihn einst durch den Trunktaumel gejagt hatte.» Was in den letzten Wochen von ihm zu ihr ging, zehrte sowieso schon oft wie Hilflossein an ihrem Herzen, und das Suchen von Fingern strebte nach ihr hin, die sich gern in ihre Hand gewühlt hätten.

»War Brindeiseners Hund wieder da?« fragte sie nach einigem Nachdenken, wie man's am besten anfange, und rückte etwas weiter auf der Bank hin, um zu prüfen, ob ihr Mann zu seiner Aussprache bereit sei. Aber der Sintlinger stand nicht auf, sondern machte Johanna Platz. Zugleich beantwortete er ihre Anfrage: »Du meinst, weil ich so laut gesprochen habe. Nein, Brindeiseners Hund war nicht da, aber andere, auch Hunde, wenn man so sagen will. Denn Gebell ist genug da, und Gebell aus Menschenmäulern erträgt sich schlechter als Hundegekläff.« Und so, ein Wort das andere nach sich ziehend, redete der Heiligenbauer über seine Bedrängnis wie in früheren Jahren, da er wankend an sein Weib gesunken war, stutzte wohl über sein Schwatzen, wurde aber, um es als Unrecht zu betäuben, von diesem bitterlichen Gefühl zu immer größerer Aufgeschlossenheit geführt. Er redete über alles, was ihn in diesen Tagen nicht nur, nein, seit langem bedrängt hatte, wie es aus allen Höfen und Häusern umher wieder einmal schal und kraus und dumm gegen den Hübel herandünste, sprach über die ärgerliche Maskerade der Straßeneinweihung, und daß es ihn wie ein Schauer packe, als Plakat mißbraucht zu werden, das andere sich anheften; streifte die unbegreifliche Wandlung Helenens, sogar das erstemal das Hereinwirken Fabers, und kam zuletzt auf das Angebot der Kölner Terraingesellschaft. Ja, er ließ sich von der Wollust eines fast völligen Ausgießens so weit verführen, von seiner Landflucht entschiedener zu sprechen, als er vorher gedacht hatte, und entwarf das verlockende Bild eines Hauses, in Gottes einsame Berge so völlig entrückt, daß sie keinen anderen Nachbar als den Wald und keine anderen Gespielen als einen Bach, Licht und Wind hätten.

Johanna wagte wohl nicht mehr, mit weichen Händen seinen heißen Kopf an sich zu ziehen, aber es war ihr doch, als flüchte ihr Mann wie früher über den Hübel hinunter und suche Schutz im Nachtirren, aber heute lief er im Geiste zugleich nach allen Seiten davon. Und so setzte die einfache Frau, der Reife ihrer Jahre entsprechend, in aller Güte und Klugheit dem Gemütsschweifen des Heiligenbauers die karge Klarheit des gesunden Menschenverstandes entgegen. Von dem Gehaben der Leute sagte sie, man müsse es hinnehmen, daß das Vieh in jedem Stall anders gefärbt sei, warum wolle man verlangen, die Menschen sollen alle mit unserer Farbe angestrichen sein. Wenn er den Leuten ganz aus dem Wege gehen wolle, so dürfe er sich auch nicht mehr auf dem eigenen Hofe sehen lassen, und sei ihm Ehre zuwider, dann müsse er erst seinen Verstand abtun. Also solle der Landrat nur ruhig auf den Hof kommen. Sie fürchte sich nicht, und zum Verkriechen sei es beim Sintlinger noch lange Zeit. Mit dem Lenlein wende es sich nicht zum Schlimmen, wie er fürchte, sondern zum Guten. Bis jetzt habe Andreas sie gehabt, nun wolle sie, die Bäuerin, das Mädchen in die Schule nehmen und ihr als Frau geben, was eine Frau braucht. Die Gedanken an die Landflucht aber nannte sie ungeschminkt einen Grillenschleier und Mückentanz, und als der Sintlinger verstohlen ihre Hand faßte und herzlich drückte, wurde sie geradezu fröhlich, nahm seinen Kopf, küßte ihn lachend auf den Mund und sagte übermütig: »Das müßte ja nicht mehr mit rechten Dingen zugehen, sollte ein Mann zu guter Letzt noch närrisch werden, den die Leute den Heiligenbauer nennen.«

Armverschlungen standen sie auf und gingen ins Haus.

Des andern Morgens schrieb der Sintlinger die Briefe an den Landrat und die Kölner Gesellschaft im Sinne seiner Frau und sandte sie sogleich mit Wendel auf die Post nach Hemsterhus. Und das war gut, sonst wäre die Ausführung wohl wieder unterblieben. Denn als der Sintlinger den Knecht, der noch andere Besorgungen im Dorf zu erledigen hatte, auf dem Brettwagen davonfahren sah, kam eine Empfindung über den Bauer, wie sie wohl einen erfaßt, der, des Schwimmens unkundig, durch einen anderen in ein tiefes Wasser gestoßen worden ist. Alles Geschehen ist unsicher und alles Handeln auch, sann er im Zurückgehen auf den Hof. Das weiß ich doch. Es kommt nur auf die Notwendigkeit an. So, gedankenvoll mitten im Hofe stehend, hörte er seine Frau singend durch das Haus wirtschaften. Bald klang ihre Stimme im unteren Stockwerk, bald trällerte sie über die Stiegen den oberen Flur hin, zuletzt schien es ihm gar, als juble sie zu einer Bodenluke in alle Welt hinaus, und dann fand sich gar noch der Gesang Helenens dazu, daß das ganze große Sintlingerhaus von frohen Liedern überquoll. Mit halbem Mißmut und halbem Unwillen wandte er sich ab, trödelte sich wieder zum Tor hinaus, trat an den Rand des Hübels, sah gedankenlos auf die neue Straße hinunter und murmelte wieder und wieder ganz leer, ganz innerlich verzettelt: »Es kommt nur auf die Notwendigkeit an. Überhaupt... überhaupt... es kommt nur auf die Notwendigkeit an... überhaupt... überhaupt...«

So benommen stand und ging der Heiligenbauer einige Tage umher, und immer wieder trat er an den Hügelrand und schaute und horchte auf die neue Straße hinunter, als bewegte ihn das bewußtlose Vertrauen, das genaue Betrachten des Weges könne ihn von diesem zwecklosen Pendelschwingen des Geistes erlösen. So vollkommen saß er in einem Gedankenbrei aus Ärger, Selbsthohn, Gleichgültigkeit, Hoffnung und Grauen eingedumpft, daß er gar nicht auf die Wirkung achtete, die sein oftmaliges, unbegreifliches Heraustreten vor das Tor auf dem Brindeisenerhof ausübte.

Dort drüben aber mußte durch das Sintlingersche Gesinde oder aus dem Dorf die Kunde der ehrenvollen Rolle bekannt geworden sein, die der Heiligenbauer bei der feierlichen Einweihung der Straße spielen sollte. Das hatte den Zorn des alten Brindeisener wieder ins Kochen versetzt, und er sah in dem auffälligen Heraustreten des Sintlingers und dessen sonderbarem Betragen während mehrerer Tage nur eine Handlung der Prahlsucht und der Verspottung seiner Person, der bei dem öffentlichen Fest eigentlich nur ein Platz unter den Mitläufern angewiesen worden war. Obwohl er doch mehr an Feld geopfert und entschiedener, sogar gegen den Sintlinger, den Bau beeinflußt hatte, sollte er, der große Fremdbauer, nur mit im Schwärm der Staubschlucker hinterhertraben, während dieser honiggiftige, kleine Heiligenschleicher es wieder einmal fertig gebracht, seine Kühe auf der Weide anderer satt zu füttern« Grimmig polterte der alte Bauer seine massigen Knochen über die morschen Stiegen, saß grabend am Fenster und brummte gewitternd umher. Als aber der Heiligenbauer immer und immer an den Hübelrand trat, wohlgefällig die neue, seine Ehrenstraße mit den Augen verschlang und höhnisch hinüberblinzte, riß der Zankteufel in dem Brindeisener alle Stricke. Er trat hinaus vor sein Tor, lachte spöttisch auf, als schlage, wer an ein hohlliegendes Brett, und als das nichts half, rief er einen höhnischen Gruß hinüber, schwang die Arme, mehr ein Drohen als ein Winken, und ließ sich endlich von seiner Wut fortreißen, daß er mit voller Lunge über den Grenzweg brüllte, der Sintlinger möge nur die Augen spitzen, denn auf dem Wege lägen lauter Orden und Ehrenzeichen, »Purlemitt und anderer Quark«. Ja, er hätte, von dem leichten Abwinken und dem eiligen Zurücktreten des Heiligenbauers noch mehr gereizt, allen ererbten und aufgestapelten Unflat des Hasses ausgesackt, wäre er nicht durch das Dazwischentreten seines Peter, des Studenten, von weiteren Ausschreitungen bewahrt worden. Durch Zureden und gütlichen Zwang ließ er sich endlich, obwohl mit Widerstreben, bewegen, in den Hof zurückzukehren. In der Stube angekommen, wandte sich seine Wut gegen Peter, und er warf ihm vor, seit jeher mit diesem Heiligenpack da drüben unter einer geheimen Decke zu stecken, und wenn er Ehre im Leibe hätte, so wäre er mit dem vermaledeiten Gestudiere schon längst an ein Ende gekommen, das ja doch keinen anderen Zweck habe, als in allen Städten herumzufaulenzen, das Geld zu verschlampen und ihn, den Bauer, sein Weib und alle auf dem Brindeisenerhofe an den Bettelstab zu bringen. Was wolle er denn überhaupt hier? Gerade jetzt! Warum müsse er denn ausgerechnet diese Ferien sich an seine Eltern erinnern? Er sei ja sonst seit zwei Jahren kaum nach Hause gekommen, sondern habe sich bei Verwandten und Kumpanen herumgedrückt. Wenn er nur erschienen sei, ihn daran zu hindern, diesem Sintlingergezücht einmal den Daumen fest ins Auge zu drücken, so sollte er sich ruhig, lieber heut als morgen, wieder davonscheren. Denn er wisse es ja, es bleibe allein auf seinem greisen Buckel die Verpflichtung liegen, die Ehre der Brindeisener hoch und heilig zu halten.

Und nachdem der Alte sich seine Leber so gründlich ausgeräumt hatte, stützte er am Fenster den Kopf in die Hände und versank in stundenlanges, schweigsames Brüten.

Peter hatte, aufgerichtet, ohne ein Wort der Erwiderung, ohne mit der Wimper zu zucken, blassen Gesichts und starren Blickes die zum Teil nur zu berechtigten Vorwürfe seines Vaters angehört. Er versuchte auch nicht, innerlich sich ins Recht zu setzen, wartete eine Weile schweigend, ob der Alte noch etwas zu sagen habe, und sprach dann leise mit mühsamer Beherrschung und Ergriffenheit: »Vater.« Und weil Brindeisener sich aus der Versunkenheit nicht rührte, wiederholte er noch dringender denselben Ruf: »Vater!« Der Bauer blieb wie ein Stock und fühlte nicht, daß sein Sohn sich zu seinen Füßen schmiege. Deswegen drückte Peter das, was er hatte laut sagen wollen, erschüttert und heiß in seine Seele. »Laß gut sein, Vater«, sagte er leise zu sich, »es soll anders werden.« Dann stahl er sich unhörbar mit langen Schritten auf den Zehen aus der Stube, ging hinauf an den Rand des Waldes und sah auf den Heiligenhof nieder, bis sich seine Augen mit Wasser füllten.

Denn was im Herbst vorigen Jahres auf der Universitätsbrücke zu Breslau nach der tollen Nacht ihn wie ein Spuk überfallen hatte, war lebendig in ihm geblieben und hatte eine vollkommene Wandlung seines Lebens hervorgebracht. Er war nach Münster übergesiedelt und hatte sich in der juristischen Fakultät einschreiben lassen, um unter Benutzung der beiden Semester, die er, das eine in Greifswald, das andere in Jena, gehört hatte, mit eiserner Energie auf das Staatsexamen hinzuarbeiten. Die traumhafte Hoffnung, die er seit je als ein Taumeln in Seligkeit hinein in sich getragen hatte, war zu einem klaren Licht in ihm geworden. Er glaubte sicher und fest, das Recht auf das Vertrauen zu besitzen, aus allen Fallen und Irren, aus der finsteren Zerstörung seiner Familie in Höhen zu kommen, in denen Helene, das heilige Sintlingermädchen, lebte, weil dieses wundersame Wesen durch ein unbegreifliches Schicksal, trotz aller Feindschaft der Familien, ihm oft so seelennahe gerückt worden war und jede Berührung mit ihr ein fast schmerzhaftes Glück in ihm ausgelöst hatte. So stark und inbrünstig war er davon bewegt, daß er nicht nur glaubte, jetzt sei er reif zur höchsten Epoche seines Lebens, sondern er griff sogar mit der bebenden Hand eines seligen, fast trunkenen Ahnens in eine Zukunft, die ihm das Lenlein vielleicht gar in die Arme führen werde. Dann, dann war ja alles gut. Dann war sein Fallen Steigen, sein Irren nur heiliges Suchen und jeder Sturz ins Bodenlose ein jäher Sprung in die Höhe geworden. Denn es gibt kein Unglück, keine Untat an sich; welchen Gebrauch der Mensch davon macht, das allein entscheidet über Gut und Böse, Glück und Unglück.

Wendel, der Knecht, der auf seiner Besorgungsfahrt ins Dorf die beiden Briefe für den Heiligenbauer mit zur Post genommen hatte, war an dem Tage ungebührlich spät, erst gegen den Abend hin und dazu mit völlig abgetriebenen Pferden, auf den Hof zurückgekehrt. Von dem alten Zenker zur Rede gestellt, glaubte er durch freche Schnodderigkeiten leicht über die Verantwortung hinwegzukommen und das dringende Forschen über die Gründe der Verzögerung durch gewöhnlichen Streit zu verwirren und so ins Leere zu führen. Allein der Zustand besonders des Handpferdes wurde in der Nacht schlimm, jagend lief sein Leib auf, fiel ein, stand jetzt in rinnendem Schweiß und fühlte sich dann wieder eiskalt an. Kein Einguß, keine Abreibung half, nun dampfte es vor Hitze, nun zitterte es wie Espenlaub. Man drang in Zorn und Güte in den verstockten Knecht, ob er ihm jungen Klee gegeben, es überprescht oder schwitzend im Zuge habe stehenlassen. Wendel sagte bald dies, bald das, sprang von einer Geschichte in die andere, wappnete sich gegen die Entdeckung seiner Widersprüche mit drohender Bosheit oder lachte höhnisch belustigt auf, schlug man ihm eine neue Lüge aus der Hand. Dann saß er gar auf der Siedelade, baumelte gleichgültig mit den Beinen und überließ die Wartung des kranken Tieres ganz dem alten Zenker und seinem Neffen Gottlieb. Gegen Morgen starb das Pferd. Da stieg Wendel von seinem Kasten, rekelte sich faul und übersessen, sagte gähnend: »Gott sei Dank, daß mit der Schindmähre ein Ende ist«, ging aus dem Stall und warf die Tür hinter sich zu. Gottlieb wurde durch diese gefühllose Roheit so in Wut versetzt, daß er eine Furke packte und sie dem Davongehenden nachwarf. Der kehrte sich nicht daran, und sein Spottgelächter verlor sich über den Hof. Der Bursche, der ja wohl seit seiner Ochsenjungenzeit von dem Widerspruchsgeist geritten wurde, war seit Wochen lässig und faul geworden und schien vollends verrückt geworden zu sein. Wodurch diese vollkommene Verkehrung seines Wesens verursacht worden war, hatte sich bisher jeder Einsicht entzogen, und so ertrug man, im festen Vertrauen auf die erprobte Gutartigkeit Wendels, seine Verfehlungen nach dem gütig besonnenen Geiste des Hofes als Ungleichheiten, die jeden, besonders junge Menschen, dann und wann heimsuchen und sich nach einiger Zeit von selbst wieder auswachsen.

Nun aber fühlten der alte Zenker und sein Neffe, daß mit jeder Schonung gegen den Knecht gebrochen werden müsse, traten in aller Frühe vor den Heiligenbauer und meldeten ihm alles ohne einen Hauch von Beschönigung oder Entschuldigung, sondern entrüstet, kochend, und seltsamerweise der greise Wirtschafter nun sogar leidenschaftlicher als sein Neffe, der Gottlieb, daß es diesem ein paarmal wie in ergrimmtem Horchen den Kopf herumriß. Der Sintlinger hörte schweigend zu, sah gelassen zu Boden, legte die Hände bald so, bald so ineinander und atmete nur hin und wieder schwer. »Gut«, sagte er am Schluß, »so wollen wir uns zunächst den Gaul ansehen« und stand auf, um mit beiden die Armenstube zu verlassen, die im Laufe des Jahres so etwas wie das Verhandlungszimmer des Hofes geworden war. In diesem Augenblick stürzte die jüngste Magd in die Stube, ein fröhliches, hübsches Mädchen aus Walsum, die erst seit Neujahr auf dem Hofe diente und, wegen ihrer heiteren Freundlichkeit von allen geliebt, nicht mit ihrem eigentlichen Namen, Meiwald, gerufen, sondern nur neckisch das Meierlein genannt wurde.

Wie gesagt, drang sie in die Stube mit blassem Gesicht, fliegender Brust und bebenden Lippen. Jetzt sei es alle, nun halte sie es nicht mehr aus, rief sie wie von Sinnen, erblickte aber nun Zenker und Gottlieb, wurde über und über rot und bat, die beiden Männer zu entfernen, denn was sie zu sagen habe, solle der Heiligenbauer allein wissen. Kaum hatten die beiden das Zimmer verlassen, so brach das Meierlein in Tränen der Verzweiflung aus und erzählte dem Sintlinger mit der Bitte, nicht schlecht von ihr zu denken, ihre Not. Wendel verfolgte sie vom ersten Tage, erst mit Aufdringlichkeiten, dann mit Anträgen, sei nicht abzuweisen, werde mit jedem Tage »meschanter«, ja oft gemein, und überhäufe sie in den letzten Wochen mit Geschenken, die er heimlich in ihre Sachen schmuggele, seitdem sie alles zurückgewiesen habe. Damit entleerte sie ihre Taschen und häufte eine Menge Schmuck, Kettchen, Ringe, Ohrgehänge, Spangen und dergleichen auf den Tisch, die, wahllos gekauft, greller Plunder und wertvolle Stücke, weit das Vermögen des armen Knechtes überstiegen.

Und wo er das viele Geld herhabe, wisse sie auch, denn sie habe an manchen Abenden den Olbrich aus Hemsterhus um den Hof schleichen sehen, der als Schieber und Hehler ungetreuer Knechte bekannt sei.

Das Meierlein bat um sofortige Entlassung vom Hofe und beweinte aufs neue ihr erbarmungswürdiges Geschick, ohne ihr Zutun in das Leben eines so schlechten Menschen verwickelt zu sein.

Als der Heiligenbauer sie angehört hatte, war sein Gesicht blaß geworden, er lächelte kalt, tröstete das aufgelöste Mädchen und trat dann zu kurzem Sinnen ans Fenster. Als er zurückgekehrt war, saß seine Unterlippe zwischen den Zähnen, daß das Meierlein vor dem ungewohnten Anblick erschrak. Er winkte beruhigend mit der Hand, drückte ihr ein Zehnmarkstück als Belohnung der Treue in die Hand, erhöhte ihren Lohn um die Hälfte und meinte, nun sei sie erst recht und hoffentlich für immer auf den Hof gezogen.

Damit war sie entlassen und sprang froh hinaus. Der Heiligenbauer durchmaß mit reißenden Schritten ein paarmal die Stube und kämpfte einen kurzen Kampf. Aber er entschied sich, das Geschwür auszubrennen, den Hof und sich selber einmal gründlich in gesunden Zugwind zu bringen, da ihm sonst das Dach auf dem Hause und der eigene Kopf zwischen den Achseln verschimmele.

Sein ganzes Wesen verwandelte sich in einen Knäuel zum Brechen gespannter Stahldrähte. Als er so hinaustrat, ging Wendel eben, taumelnd von heimlich besorgtem Schnaps, über den Hof, gestikulierte wild mit den Armen und lärmte. Beim Anblick des Heiligenhofbauers fuhr der Trunkene zusammen und sah ungewiß mit seinem kalkweißen Gesicht voll Verzweiflung und Hohn einen Augenblick hin, dann schrie er plötzlich gequält: »Was willst du denn noch von mir? Du, Heiligenbauer! Ich habe nichts mehr mit dir zu schaffen. Laß mich in Ruh, das rat' ich dir. Ich habe nichts mit dir zu schaffen!« Dann taumelte er weiter, sich von Zeit zu Zeit umwendend und mit gellem Gelächter über den Hof schreiend, daß aus Stall und Schuppen, Haus und Scheune das ganze Gesinde zusammenlief.

»Hur du mit dem Teufel weiter, Sintlinger«, schrie der Besessene einmal; »du hast den Hafer vom Satan gestohlen, und ich hab' ihn verkauft«, brüllte er wieder. »Halt dir den Gottlieb, das Christenschwein! Meinetwegen kann er sich in Meierleins Hemde schlafen legen, so viel er will, haha! Verreckt alle, wie die Mähre im Stall.« Der Sintlinger stand schweigend und griff mit zwei Fingern vorsichtig nach dem obersten Knopf seines Jacketts. Aber seine Hand zitterte so, daß er immer daran vorüberfuhr. Plötzlich wurde es rot um ihn. Mit drei Sätzen war er bei dem tobenden Knecht, der eben in der Siedekammer verschwinden wollte, riß ihn zurück, warf ihn wie einen Ball in die Luft, hob ihn auf, trug ihn laufend durchs Tor und warf ihn wie ein Bündel Unrat mit weitem Schwung über den Hübel hinunter.

Eine Weile tobte der Trunkene noch auf dem Grenzweg. Dann fing er an zu singen und torkelte davon. Der Heiligenbauer ging, ohne jemand anzusehen, hinauf in seine Stube und schloß sich ein.

Am Abend traf Johanna ihren Mann auf der Bank unter den Linden sitzend. Ganz allein, im tiefen Maidämmern. Er hatte die Ellenbogen aufs Knie gestützt, die Hände krampfhaft ineinandergefaltet, und sein Kopf hing tief herunter. Ganz so saß er da, zermürbt, zusammengesunken wie in den Wirbeljahren nach einer Trunkniederlage.

Die gute Seele ließ sich neben ihm nieder, legte den Arm um seinen Hals und sagte leise, an ihm rüttelnd: »Du, Andreas, du!«

Der Heiligenbauer rührte sich nicht.

Dann begann sie liebreich und eindringlich, ihm diese ungehörige Trauer und Kleinmütigkeit zu verweisen, denn er habe diesen lumpenhaften Wendel behandelt, wie es sich gehöre, breitete alle Diebstähle und Vergehungen des Knechtes bis ins einzelne vor ihm aus und schloß mit der verstärkten Versicherung, daß er durchaus richtig getan habe, nicht wieder alles mit einem linden, gütigen Tuch zuzudecken. Denn ein Mann sei doch kein Narr.

Endlich richtete der Sintlinger sich auf, als sei er ganz allein, und sah lange mit schmerzlichem Gesicht in die Kronen der Linden hinauf:

»Es braust in den Bäumen, Johanna«, sagte er dann leise. Die Bäuerin, die ihn nicht gleich verstand, bedeutete ihm, daß ja alles kirchenstill sei, nicht ein Lüftlein rühre sich.

»Und wenn auch«, sprach er dumpf, »es braust, oh, ein böser Wind braust in den Bäumen.«

Dann sank er wieder zusammen, faltete die Hände und schwieg.

Während Johanna so bei ihrem gramvollen Manne Wache hielt, fing Helene in dem Blumengarten hinter der Scheuer an zu singen: »Schön ist das Leben bei frohen Zeiten«, das Lied, das sie von dem Scherenschleifer Liebeneiner gelernt hatte, und die ganze sehnsüchtige Glücksinbrunst ihres jungfräulichen Herzens lebte in der silberleisen Stimme des Mädchens.

Da fuhr der Heiligenbauer auf und sagte ringend:

»Geh, Johanna, hol mir mein Kind! Geh schnell, mein Lenlein!!« Die Bäuerin eilte davon. Aber Helene war wie verzaubert, verstand ihre Mutter nicht, die abgerissen und von weitem sprach, und fuhr fort zu singen.

Als Johanna zu dem Bänklein zurückkehrte, war es leer, und der Sintlinger rief ihr von dem halben Hügel herauf etwas Beruhigendes zu, was sie aber nicht verstehen konnte. Dann sah sie ihn, rüstig schreitend, ins Dunkel verschwinden.

Das Lenlein aber ließ noch lange ihre Seele mit ihren Liedern in den Himmel steigen. Sie ging auf dem kurzen Gänglein vor der Laube und wieder zurück, hin und her, und sang bald laut, bald nur mit den bunten Träumen ihres Innern.

Als sie sich müde geschwärmt hatte und ins Haus zurückkehren wollte, hörte sie Schritte auf dem Steige, der vom Buchengrunde her an dem Blumengarten vorüberführte, und eine tiefe, junge Männerstimme grüßte vom Zaune her: »Guten Abend, Fräulein Helene! Warum singen Sie nicht weiter?«

Da wurde das Mädchen von wonnevollen Schauern durchflammt, als habe sie eine Erscheinung. Es verschlug ihr die Luft, und sie blieb, die Hand aufs Herz gepreßt, ohne Laut mitten auf dem Gange stehen.

Der Unbekannte, dessen Stimme weit über ihr, wie aus einem Baume geklungen hatte, wartete vergeblich auf Antwort. Dann entfernte er sich langsam und zögernd. Das Gras rauschte leise, als trügen ihn vorsichtig selige Flügelschläge davon. Helene trat an den Zaun, lehnte sich darüber und hielt lange, lange ihr Gesicht lauschend in die Welt hinaus. Dann grüßte sie verstohlen wieder in die Richtung, in der sich die Schritte verloren hatten. »Gute Nacht, mein Liebster, schlaf wohl.«

Und ohne zu wissen, was sie tat, von dem ungewissen Feuer ihres Herzens überwältigt, küßte sie sich die Hände und streckte sie ihm nach.

An der leidenschaftlichen Bewegung aber kam sie zu sich, wurde von Scham überglüht und kehrte erschreckt und schnell ins Haus zurück.

Am letzten Tage vor dem Fest der Straßeneinweihung ging Johanna gegen Abend noch einmal in die Prunkstube des Sintlingerschen Hauses, wo schon am Nachmittage der Tisch zu einem Imbiß hergerichtet worden war, der dem Landrat geboten werden sollte. Sie wollte sehen, ob noch irgend etwas fehlte und ob alles in der pünktlichen Ordnung sei, die die Heiligenhofbäuerin in der ganzen Wirtschaft hielt.

Da traf sie das Lenlein zu ihrem sprachlosen Erstaunen in dem neuen Festkleide einsam und unbeweglich am Tische sitzend, die weißen Hände auf dem weißen Tischtuch verschlungen, das goldblonde, reiche Haar über die zarten Schultern gebauscht, mit verzückter Aufgelöstheit vor sich hinträumend. Und als ihr die Mutter über »dies närrische Getue« Vorwürfe machte, erwachte die Blinde halb aus ihrer Hingenommenheit, erwiderte aber kein Wort, sondern stand errötend auf, neigte den Kopf, als sähe sie zu Boden und sagte dann leise: »Und wenn mich der Landrat in seinen Wagen hebt und in die Welt mitnimmt, so sei nicht traurig, Mutterlein.«

Dann ging sie lautlos in ihre Stube hinüber.

Dort setzte sie sich geschmückt ans offene Fenster, und als die Lindenkronen verhalten zu rauschen begannen, fing auch sie wieder an, sehnsüchtig und leise zu singen, und hörte nicht auf, bis ihr die Augenlider schwer wurden. Und bei jedem Stück, das sie beim Auskleiden ablegte, sagte sie selig: »Morgen. – Morgen.«


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