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Drittes Kapitel

Wie es die weibliche Wesensart überhaupt ist, daß alle Erlebnisse in ihr eigentlich nur Befürchtungen oder Hoffnungen wecken, so wurde Johanna nicht allein durch das Aufstoßen der alten Fremdbauernfeindschaft zwischen dem Brindeisener und ihrem Mann und dem Handel ihrer Kinder im ersten Augenblick von grellem Schreck überflackert, sondern sie ging auch noch eine geraume Zeit nachher im Dunkel unsicherer Beklemmungen umher.

Denn in jenen Wochen flog durch das Leben und Wesen des Lenleins ein Widerglanz aus der musikalischen Schwarmzeit, die das Mädchen mit dem Harmonika-Gottlieb erfahren hatte. In den angefieberten Nächten, die der Verwundung auf dem Brindeisenerhofe folgten, fuhr sie manchmal im Schlaf in die Höhe, und ohne recht zu erwachen, schaute sie wie suchend umher, um dann ermüdet langsam wieder zurückzusinken und im Traume all die Gassenhauer Gottliebs leise durcheinander zu singen. Einmal bemerkte Johanna sogar, daß ihr Kind dabei die auf dem Deckbett liegenden Arme so stellte, als halte sie tanzend das Kleidchen gerafft und vollführe mit dem ganzen schlafgebundenen Leibe die Bewegungen eines Menschen, der sich dem Wogen rhythmischer Weisen überläßt. Auch im wachen Zustande jener Zeit verfiel sie wieder öfter wilder und wirrer Widersetzlichkeit, verfing sich in heißes Gemütsjächen, war viel unter dem Gesinde und ging manchmal mit so kecken, leidenschaftlichen Schritten einher, daß alle, die es sahen, in Furcht versetzt wurden, es könne sich mit schlimmerem Ausgange der Unfall wiederholen, den das Kind eben überstanden hatte. Wenn auch nicht deutlich, so doch ungefähr, überkam die Bäuerin die Empfindung, das Lenlein sei wie ein Strauch im Dämmern, der plötzlich im Scheine einer fernen Glut feurig aufleuchte.

Und all das wurde ihr nicht leicht zu tragen, weil sie zu niemand davon sprechen konnte. Denn einmal galt es, das Gemüt des Lenleins von jedem Schatten frei zu halten, den es nicht verstehen konnte, zum andern mußte Johanna bestrebt sein, alle Äußerungen heimlicher Besorgnisse vor den Augen ihres Mannes zu verbergen. Der ging helläugig, gesicherter und klarer denn je umher. Und doch hat der Nachklang des Begräbnisses der Brindeisenertochter lange und tief auch in ihm nachgewirkt, trotzdem er zu keinem davon geredet hat als zu seinen verborgenen Papieren. Die Eintragung darüber ist die längste von allen und unterscheidet sich auch von den anderen Aufzeichnungen durch einen solchen Grad von Dunkelheit, ja, geradezu verworrener Vieldeutigkeit, daß nur eine förmliche Übersetzung Klarheit schaffen kann.

Offenbar hat den Heiligenbauer der Drang nach klarer Erkenntnis der Seele des alten Brindeisener und seiner Sippe zu Sätzen getrieben, die auch an das Geheimnis des Wesens aller Menschenbeseelung rühren. Sie lauten in unserer Art zu sprechen:

»Das Wasser der Brunnen ist lebendig und nimmt teil an dem Stauen und Strömen des unterirdischen Meeres, das zwischen Felswurzeln der Berge seine verborgenen Wege nimmt.

Aber das eingesperrte Spieglein wird auch von den Bahnen der Sterne gelockt. Es bebt dem Lichte des Mondes entgegen und zittert in sehnsüchtigem Glücke, wird es von einem verirrten Sonnenwiderschein getroffen.

Aber es gibt genug solch geheime Menschenbrunnenwasser, die nur in tiefen mond- und sternlosen Nächten zu klingen vermögen. Wer helle Ohren hat, der hört in dem Gegluck und Geschluchz aus ihrer Finsternis Laute wieder, die ihn einst aus Vogelliedern in der Sonne angerührt haben. Am schwersten leiden solche gefesselte Wasser in den Tiefen unter Gewittern, und zwar nicht unter Gewittern, die sich ganz austoben, auswildern und ausregnen. Sie werden am meisten von Wettern gequält, die in stiller, trockener Glut finster und dumpf stundenlang über den Bergen liegen, sich selber mit ihrer Glut versengen und nur blaues Blitzgeschwele und unförmliches Donnern hervorbringen ... Der Zorn, der nicht bezwungen, sondern nur unterdrückt werden kann, muß notwendig am Ende den Menschen und sein ganzes Leben zerstören.«

Auf diese gedankenvolle Weise machte sich der Heiligenbauer einen letzten Rückfall in den fröhlichen Spott seiner früheren Zeit zunutze und erhielt zugleich durch das Zusammensein mit so vielen gewöhnlichen Menschen einen Stoß, der ihn nie wieder zu tätigem Eingreifen für das Wohl und die Erhöhung der anderen kommen ließ. Denn von dem Begräbnis der Brindeisenermalchen aus beginnt die fast wunderbare, höchste Zeit, die dem Heiligenbauer in seinem Leben beschieden war. Es sind die langen Jahre, etwa acht oder zehn, in denen der Sintlinger das erreichte, was sich die meisten, auch ausgezeichnete Menschen, nur durch die Bilder ihrer Sehnsucht aneignen können. Sein Schicksal fiel ihn von allen Seiten als ein Glänzen an. War sein Leben früher scharf und verderblich gleich einer Flintenkugel auf das Ziel zugeflogen, jetzt glitt es vorwärts, wie Kreise sich auf einem Teich ausbreiten, ja, sein Dasein war in diesen Jahren gleich dem Schall, der im Vorwärtsschreiten überallhin wandelt.

Für die Leute verlor sich das Leben des Heiligenbauern und seines Kindes im Unvorstellbaren, weil es so ganz von der Gewohnheit abwich und einem Ziele zustrebte, das auch die Klügsten unter ihnen nicht zu finden vermochten. Dazu kam die Wundersucht der Menge, die maßlose Übertreibungen so liebt, und die Richtung und der Geist der ganzen Zeit, die, skeptisch und abergläubisch zugleich, sich wieder einmal auf dem Wege befand, ehrwürdige Wahrheiten zu stürzen, Sicherheiten als papierne Postamente aufzudecken, überhaupt, wie die Ruhigen sagten, einer großen Weltwende, wie die Furchtsamen meinten, einem unerhörten Zusammenbruch entgegenging.

Schier zahllose Legenden und Anekdoten existieren, die sich mit dem wunderbaren Leben des Heiligenbauers in diesen Lichtjahren beschäftigen und ihn, je nach dem Wesen des Beobachters, als Weisen zeigen, der einer neuen Religion zustrebt, als verwirrten Träumer, klugen Menschenfreund, ja, sogar als Hexenmeister.

Denn wirklich, man erzählt: Einmal fand sich ein armer Mann auf dem Heiligenhof ein, dessen Kuh kalben sollte, und die, weil unüberwindliche Schwierigkeiten entstanden, in Gefahr schwebte, zu verenden. Im tiefen Abenddunkel stürmte nun das Kätnerlein den steilen Zufahrtsweg hinan und kam atemlos auf dem Heiligenhofe an. Man hatte Mühe, das Stammeln des verängsteten, abgetriebenen Mannes zu verstehen, und als das endlich geglückt war, erfuhr er von der herzugetretenen Bäuerin, daß ihr Mann spazierend nach dem Buchengrunde zu ins Feld hinaus gewandert sei. Wenn er ihn durchaus noch diesen Abend treffen wollte, so müsse er es auf gut Glück versuchen, ihn in dem Büschlein zu erwischen, wo er manchmal das Hereinbrechen der Nacht erwarte. Aber raten könne sie ihm nicht, und unsicher sei es auf alle Fälle. Das Bäuerchen war schon genug angekratzt von der Hexenkralle, die nach der Meinung der Leute an des Sintlingers Zehendaumen wuchs. Darum erschrak es gleich über die vieldeutige Auskunft der Heiligenhofbäuerin, machte sich aber gleichwohl auf den Weg nach dem Buchengrunde, denn, handelt es sich um eine Kuh, so friert ja den Landmann noch in der Hölle. Also rannte auch unser Bauer aus Leibeskräften durchs Feld und dachte unterwegs immerfort bei sich: Und sollte ich mit dem Teufel selbst zu tun kriegen, das wäre mir egal, wenn nur meine »Blesse« nicht in Schinderhände kommt. Da merkte er plötzlich, daß sich der Weg unter seinen Füßen zu senken begann, und wie er erschreckt aufsah, stand er schon ganz nahe vor dem Buchenwalde und konnte doch nicht hin. Die Beine waren ihm wie zusammengebunden, die Erde vor ihm sah aus wie ein turmtiefer Abgrund, in dem ein Wassersausen dahinschoß, und zwischen den grauen Stämmen fing lauter und lauter ein Rollen an, und übermütiges Reden und Lachen von zwei Männerstimmen erscholl dazwischen, ganz so, als seien zwei leidenschaftlich auf der Kegelbahn in der Luft. Bald rief der eine »acht«, bald der andere »fünf«. Die eine, wie er genau hörte, war die Stimme des Heiligenbauers, aber die andere klang ausgebrannt und zischend, fürchterlich, daß dem Bauer das Frösteln durch die Röhrbeine lief. Dennoch faßte er sich ein Herz und rief in den Graus und das Toben hinein:»Heiligenbauer, meine Kuh ist krank.« »Hank«, äffte es aus dem Walde spöttisch zurück und brach gleich darauf in ein solch höllisches Hohngelächter aus, daß der Bauer sich bekreuzte und zitternd kehrt machte.

Als er nach Stunden des Irrlaufens halbtot endlich sein Haus fand, war alles glücklich vorbei, und seine »Blesse« stand da und leckte das schönste schwarzweiße Kalb von der Welt.

Seit diesem Abend zweifelte niemand mehr im Ernst bei sich, daß der Heiligenbauer mit dem Gottseibeiuns auf gutem Fuße stehe, und des Sintlingers unglaublicher Diskurs mit dem schwarzen Huhn erhielt mit diesem neuen Ereignis nachträglich eine neue Bekräftigung. Durch solche Geschichten, die das Volk einfach dem Sagenschatz seiner Ahnen entlehnte und neu aufputzte, versuchte es sich das Wesen des Sintlingers zu erklären, das immer rätselhafter und unbegreiflicher wurde.

Man fand den Sintlinger vor Bäumen stehen und ehrfürchtig und ergriffen staunen, wie andere vor dem Allerheiligsten in der Kirche. Er belauschte den Wind gleich einem Schüler, dem eine unergründliche Belehrung zuteil wird. Besonders aber hatten es ihm die Spiegel stiller Wasser angetan, und der Hornwassermüller sah ihn einst an einem einsamen Teiche sitzen und richtig mit dem Wasser reden, als sei es ein Mensch und kein Ding.

Ja, derselbe Müller will gesehen haben, daß auf die versunkenen Worte des Heiligenbauers ein Kräuseln über den Teich gelaufen sei, als verstände das Wasser die Menschenworte des Sintlingers und gäbe ihm Antwort.

Das wird wohl die Zeit gewesen sein, in welcher der Sintlinger die folgenden Worte in seine Papiere eingetragen hat:

»Das Bild der Bäume, des Himmels und eines vorüberfliegenden Vogels auf dem stillen Spiegel eines Teiches ist nichts Wesenhaftes des Teiches. Wenn das Bild schwindet oder erscheint, wird nichts Wesentliches vom Teiche weggenommen oder hinzugetan; es wird nicht weniger und mehr Teich. So ist es mit der Seele und allen irdischen Sinnbildern auf ihrem stillen Spiegel. Sie ist reicher von Grund aus als die Erde und bedarf der Welt nicht. Aber die Welt ohne Seele wäre wie ein Haufen Kehricht.«

Weit hinaus, ganz aus den Grenzen seines Standes, ja, der meisten Menschen, wandelte der Sintlinger und genoß dabei den Vorteil, vor ganz einsamen Geistern, daß ihn wenigstens vorderhand niemals Bangen und Ratlosigkeit ob seines fast vollkommenen Bruches mit den Anschauungen seiner Umgebung befielen. Denn eigentlich, recht gesehen, führte ihn, wie er es sich vorgenommen hatte, das traumhaft schöne Wunderwesen seines Lenleins in diese neue Welt. Er erschuf nichts, so empfand es der Sintlinger immer, sondern nahm nur auf, was ihm geboten wurde.

Die Unruhe, die der volle Mond über den Geist der Menschen bringt, der klärende Drang seiner zunehmenden Vollendung und das Stocken und Zagen während der Abnahme seiner Lichtgestalt, das und vieles andere erwarb sich der Heiligenbauer von der Seele seines Kindes her. Tiefer und unsagbarer empfand er lange vorher die Bildung von Wettern und schloß aus übersehenen Zeichen, etwa dem Klang, den der Hornflug der Käfer hervorbringt, dem Nachhall, den der Aufschrei eines Vogels am Walde verursacht, ja, aus den Gebärden der Bäume und Feldkräuter so sicher auf die Veränderungen im Luftraum, daß er in Aussaat und Ernte selten die rechte Zeit verfehlte.

Sein Reichtum wuchs mit den gehäuften Fudern, die ihm das Feld in die Scheunen schickte, aber auch mit dem Gedeihen des Viehes, für dessen Wohl Johanna alle stille Achtsamkeit aufopferte, deren sie so leicht fähig war.

Dieses ruhige, sichere Anschwellen des Sintlingerschen Wohlstandes verlieh seinem ungewohnten Leben auch eine Überredungskraft unter den Leuten, daß bald da und dort der Gedanke hervortrat, womöglich des greifbaren Nutzens eines solchen Daseins, aber mit dem alten Glauben und ohne Teufeleien, teilhaftig zu werden. Besonders unter den Verarmenden aus Not oder Schuld regte sich diese Partei der Anhängerschaft in immer steigender Anzahl, und wo zwei oder drei Bauern mit geflickten Kitteln zusammenkamen, verwunderte man sich über des Sintlingers Reichtum.

Endlich beschlossen einige, den Heiligenbauer direkt zu fragen. Der Sicherheit halber, weil zwei Paar Ohren immer mehr hören als ein Paar, taten sich mehrere solcher Bruchbauern zusammen und wählten den Meixner-Elis aus Querhoven zu ihrem Sprecher. Der war durch sein fortwährendes Genußtollen wieder tief in Schulden geraten und glaubte einfach, durch Erfahrung eines gewissen Kniffes auf leichte Weise abermals zu einem ungemessenen Haufen von Ludertalern zu kommen. Außerdem stach ihn der geheime Neid und eine Feindseligkeit gegen den Sintlinger, die ihren Grund mehr in der verschiedenartigen Natur der beiden Männer hatte als in dem Unwillen über die Ungerechtigkeit des Heiligenbauers gegen seinen Neffen, den Harmonika-Meixner. Allen aber machte er weis, daß er den Sintlinger eigentlich liebe, wenn er ihm einzig nur vergessen könnte, daß er den Gottlieb zugrunde gerichtet habe. Denn der gehe, seit das Rasen in ihm aufgehört habe, umher wie ein Huhn, das den Pips habe, ohne Mut und Sinn.

In diesem alten Zorn pleuderte der Meixner auch an dem Tage, da er mit den anderen auf den Heiligenhof ging, und sagte, daß sie sich auf ihn verlassen könnten: Habe der Sintlinger einen geheimen Trumpf, so wolle er ihn schon in die Hand kriegen, und wenn der kleine Hübelhexer auch flugs darauf sitzen sollte.

Die Männer wurden aus Versehen von der Magd in die Stube der Strauchfahrer geführt. Einige waren über diese Geringschätzung traurig, andere zürnten, vor allem der Meixner-Elis. Sein rotbärtiges Gesicht verfärbte sich. Er setzte sich höhnisch auf die Bummlerbank, sprang wieder auf und durchmaß mit großen, empörten Schritten den Raum.

Darüber trat der Heiligenbauer ein, entschuldigte sich über die Ungeschicklichkeit der Stubenmagd, begrüßte alle aufs freundlichste und bat sie, in sein Zimmer mitzukommen. Dort könnten sie sagen, was sie von ihm wünschten. Die anderen alle vergaßen vor der Würde und der lichten Kraft des Sintlingers sofort ihren Unmut. Der Meixner-Elis aber verfiel in sein gewohntes Schnapsgepolter und fragte ihn, und das fast so, als führe er Klage, wie er es anstelle, daß ihm das Leben, die Wirtschaft, der Frieden des Hofes, seine Ehe, ja, sogar sein Unglück so ins helle Glück geschlagen sei, obwohl er doch nicht mehr glaube, als daß ein Pfund Rindfleisch eine gute Suppe gebe.

Diese Worte sprach er mit dem Hohnlachen und der Verbitterung eines richtigen Bankrottbauern.

Der Sintlinger sah ihn aufmerksam und ruhig an, setzte sich kopfnickend zu den übrigen auf die Stromerbank und sagte eine Weile gar nichts. Als aber die anderen dem Querhovener wegen seiner Ungebührlichkeit Vorwürfe zu machen begannen, sprang der Sintlinger dem Bedrängten gar noch bei und entschuldigte sein Betragen. Denn wer von Natur große Füße habe, brauche derbe Stiefel und bringe es dann nicht fertig, leise aufzutreten.

»Das mit dem Pfunde Rindfleisch ist auch nicht so einfach. Meißner«, sagte er dann, sich an den Betretenen wendend, in heiterem Ernst. »Denn es ist doch sonderbar, daß dieses Pfund Rindfleisch bei den verschiedenen Menschen so verschieden wirkt: Bei dem einen Hurerei, Trägheit, Betrug, Zorn und Heuchelwesen, bei dem andern Liebe, Sanftmut, Beständigkeit und klugen Sparsinn.

Mein Lieber, das liegt nicht am Fleisch, sondern an der Kraft unseres Innern.« Der in seiner Seele abgestorben sei, der könne die Nahrung wohl verdauen, aber nicht verwandeln – und die Speise wirke in einem solchen nur nach ihrer Natur.

Wegen dem Glück, da wäre zu sagen, man müsse auf das Fernste und Feinste hören, wenn man sein Nächstes so tun wolle, wie es richtig ist.

Ja, gut, meinten nun die armen Bauern, die sich von ihrer Betretenheit erholt hatten. Aber wie das zu machen sei, das wüßten sie gern.

Da sollte man mit seiner Seele verfahren wie jemand, der in seinem Hause einen Raum sucht, wo er am ungestörtesten ist. Denn alles könne die Seele ertragen, nur keinen Lärm. Sie ist still und geheimnisvoll wie das Lautlose, aus dem der Getreidehalm wächst und der Klee blüht. Die mit Gedonner laufen wie ein Pferd, kämen nie, niemals zu ihr. Die Bauern verstanden ihn nicht, sahen einander ratlos an und wagten doch nicht zu fragen.

Der Meixner-Elis aber hatte sich indessen wieder gesammelt und fragte, ob der Sintlinger die Kirchenseele oder eine meine, die alle Menschen ohne Unterschied hätten.

»Alle Menschen ohne Unterschied«, antwortete der Sintlinger. »Wer es imstande ist, der handle wie ich.

Ich setze mich etwa vor den Hof auf einen Stuhl und regiere von hier alles. Da kommen die Boten, fünf, sechs mit allerhand Anliegen. Ich lasse sie warten und rege mich nicht. Endlich kommt der Weiße, Ferne, Strahlende, den man kaum sieht, und winkt in mir. Da erhebe ich mich und befehle. So geht alles glücklich, was ich tu und was mir geschieht. Und wer so ist wie ich, der wird mich verstehen und danach handeln.«

Die Bauern aber gingen verwirrter davon, als sie gekommen waren.

Hinter dem Hübel, auf dem Grenzwege, fing Prahl-Meixner an, aus vollem Halse zu lästern, und keiner der Männer verwies es ihm mehr, denn jeder meinte, entweder habe der Heiligenbauer sie nur foppen wollen, oder seine Wahrheit sei so kurios, daß niemals ein anderer davon werde Gebrauch machen können.

Trotzdem hörte es nicht auf, daß fortwährend Leute mit allerlei Anliegen auf den Heiligenhof kamen, um des Bauern Rat zu hören. Der wollte das Sympathiemittel wissen, das der Sintlinger seinem Weibe für die Pflege des Viehs an die Hand gegeben haben müsse. Der andere wieder fragte ihn, was er angewendet habe, daß jede Wut für immer in ihm erstickt sei, während er selber bei geschlossenem Munde nur die Zunge rühren dürfe, so fluche und sakramentiere es von selber in den Stockzähnen, daß ihm die Ohren nur so knackten.

Jedem gab er eine Antwort, keinem eine geradezu, denn die meisten kamen eigentlich nicht, um sich zu bessern, sondern aus Eitelkeit, um auch gefragt zu haben. Allein, waren sie wieder daheim, so machten sie doch vieles anders, und von dem Zusammensein mit dem Heiligenbauer brachte gar mancher sogar einen anderen Geist in sein Leben mit.

Einst bekam der Sintlinger einen neuen Knecht, der so fleißig war, daß ihm die Sonne nie zeitig genug aufging und der Tag immer zu kurz geriet. Wo die anderen gingen, lief er, und hatte doch nie am Feierabende ein fröhliches Gesicht. Selbst im Traume drosch er oder ackerte, kurz, mühte sich an der Arbeit, mit der er am Tage nie fertig werden konnte, weil er sich zuviel vornahm.

Als ihm der Bauer eine Zeit zugesehen und ihn umsonst ermahnt hatte, sich Muße zu nehmen und nicht während des ersten Schrittes mit den Beinen schon nach dem zweiten zu langen, entließ er ihn eines Tages vom Felde weg.

Denn, sagte er, die Lasterhaftigkeit des übertriebenen Fleißes sei um so gefährlicher, weil sie allgemein für hohe Tugend gehalten wird. Die rechte Arbeit sei wohl ein guter Weg in den Himmel. Doch nur der Gelassene findet ihn, jener, der zwar jeden Tag ein Stück hinter dem Raser zurückbleibt, am Ende des Lebens aber tausendmal weiter gekommen ist als er. Und der Käfer, der immer eine große Kotkugel hinter sich herdrehe, sei darum nicht vornehmer als einer, der das nicht tue. Der Reichtum der Menschen aber gelte vor unserm wirklichen Glück nicht mehr wie so eine Dreckpille.

Es kam so weit, daß kaum einer ohne des Sintlingers Rat etwas Wichtiges tat, und alles Gelungene, Ersprießliche auf zehn Meilen in die Runde geschah wie auf seinen Antrieb, auch wenn er gar nichts davon wußte. Doch blieb der Heiligenbauer seinem Grundsatz treu. Er ging einsam wie sonst, sammelte nie Anhänger und Gleichgesinnte, erteilte nur gebeten Rat, griff nie in eines andern Leben ein und hielt sich von jedem Amt fern.

Erst wollte man ihn zum Gemeindevorsteher von Hemsterhus machen, nachher zum Amtsvorsteher, und endlich trug man ihm die Würde eines Kreisdeputierten an. Er schüttelte zu allem lächelnd den Kopf und fuhr fort, handverschlungen mit seinem Lenlein durch sein fernes, wundersames Leben zu wandeln. Als indessen die Bestrebungen nicht aufhörten, seine seltene Kraft und sein Ansehen dem Dienst gemeinnütziger Vereine und Einrichtungen zu gewinnen, soll er, entgegen seiner erworbenen Güte, eine schroffe Antwort gegeben haben.

»Wenn ich meinen Wagen recht ziehe, so geschieht es, daß alle Menschen sich fortbewegen. Diejenigen aber, die ich mit Gewalt aufladen muß, damit sie vorwärtskommen, gleichen einem Steine, den ich in der Erwartung auf einen hohen Berg trage, daß er dort zu blühen anfangen werde. Will es der Vogel nicht selber, ändert sich sein Lied nicht.«

Und als ihm zu Ohren kam, daß viele Anstoß nahmen, weil er und sein Lenlein allem Kirchenwesen aus dem Wege gingen, sagte er: »Trocknen die Quellen aus, so drängen sich die Fische zusammen und bringen ihre Mäuler nahe aneinander, um sich Feuchtigkeit zu geben. Aber dieser Zustand ist lange nicht so gut, als wenn sie einander vergessen in den Strömen und Seen. Was von den Fischen gilt, gilt noch viel mehr von den Menschen, von denen jeder in sich ein Meer hat, das ohne Zeit und ohne Ende ist, und wo die Sonne nie untergeht.

Laßt mich mit den Bekehrern in Ruh. Ihre leiblichen Brüder sind die Totschläger.«

So ganz ging der Sintlinger in der Hingabe an diese unräumliche, unvorstellbare Welt unter, daß sogar die Grundmauern seiner Natur verrückt wurden.

Die Jahre kamen nämlich heran, da Helene nicht mehr in demselben Zimmer mit ihren Eltern schlafen konnte. Sie siedelte in eines der Zimmer des oberen Flures über, neben die Stube des Sintlingers, und es ergab sich wie von selbst, daß nicht ihre Mutter, sondern der Heiligenbauer mit seinem Kinde von nun an Wand an Wand schlief, um gegebenenfalls bei der Hand zu sein.

Johanna fand diese Lösung ja ganz dem innigen Verhältnis entsprechend, in dem die beiden zueinander standen, und drängte von selbst darauf. Aber als sie das erstemal allein in dem Schlafzimmer neben der Gesindestube lag, das Licht ausgelöscht hatte und schon halb im Traum noch einmal nach dem Bette ihres Mannes hinüberfühlte, griff ihre Hand ins Leere, und da sie sich erschrocken aufrichtete und den Namen ihres Mannes rief, klang der Nachhall ihrer Stimme von den Wänden des halb ausgeräumten Zimmers zurück, als komme er aus einer ausgestorbenen Welt.

Die Heiligenhofbäuerin lächelte wohl über ihre Empfindsamkeit, konnte aber doch gegen die tiefe Erschütterung ihres Innern nichts ausrichten, beugte sich nieder und raffte mit beiden Händen das Deckbett zu einem Knäuel zusammen, den sie krampfhaft gegen ihr Gesicht drückte. So mit zusammengebogenem Körper überließ sie sich der Flut von Tränen, die gar nicht aufhören wollten.

Jetzt, das fühlte sie, war ihr Mann, in dessen unerreichbare Weisheit sie ja nie fand, noch weitergerückt. Und so kam es auch. Der Heiligenbauer wurde so weit von ihr fortgeführt, daß er wohl noch Liebkosungen, Herzlichkeiten, Mitgefühl und alles Verstehen treuer Güte, allein nicht mehr jenen Strom der Inbrunst ihr mitteilte, durch den Frauen aufs neue von dem Manne mit der Kraft ihres Wesens beschenkt werden.

Unter den geheimnisvollen Umarmungen, denen sein Geist auf dem Wege nachging, den ihn sein blindes Kind führte, hörte endlich ganz die Lust auf, durch Umarmungen seines Weibes in heißem Blühen hinzuschmelzen. Und da Johanna die Sehnsucht empfand, ihr aber aus Keuschheit den rechten Namen zu geben scheute, machte sie sich durch doppelte Arbeit taub, durch zwiefache Sorgenbesessenheit stumpf und konnte doch nicht verhüten, daß sie immerfort nach etwas Verlorenem suchte. Drohendes über sich fühlte und Gefahren nahe sah.

Aus diesem Grunde auch ging sie ganz am Ende der Prozession, in der von allen Seiten her begeisterte, wundersüchtige und ehrliche Sucher hinter ihrem Manne und ihrem Kinde zusammenströmten.


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