Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Indessen war die Rütschin aus der Wuhle mit dem Kinde niedergekommen, dessen sie in den Wirbeln habhaft geworden, durch die das hübelheilige Lenlein die Trauer um das gestorbene Weißköpfchen für immer von ihr genommen hatte. Allein dem neuen Leibkinde war bei dem abendlichen Überfall, den die Rütschin von einem Unbekannten auf der Waldwiese zu erdulden gehabt hatte, ein Schaden zugestoßen. Denn sie brachte wohl zur bestimmten Zeit ein Mädchen zur Welt, das neben der Schönheit des Weißköpfchens die engelhafte Zartheit des Heiligenlenleins besaß, aber nur ein paar Tage lebte, und das, ohne die Brust der Mutter auch nur zu berühren. Dann starb es schnell und ohne Krampf, ohne eine Miene zu verziehen, so, als sei es gar nicht auf der Welt gewesen.

Und so scheint es auch die arme Rütschin selber aufgefaßt zu haben, nicht als sei es ein wirkliches, ihr Kind gewesen, das sie geboren und kaum recht besessen, schon wieder hatte hergeben müssen, sondern das, halb ein Schatten des Weißköpfchens und halb ein Widerschein des Heiligenlenleins, nur deswegen aus ihrem Körper durch die Welt gehuscht sei, um die Mutter auf den rechten Weg zu weisen, der ihr von Anfang an bereitet war.

Sie hatte schon nach dem Tode ihres geliebten Söhnleins einen inbrünstigen Rückschlag in den wiedertäuferischen Glauben erlitten, der als uralter Schatten noch in den meisten Querhovener Häusern lebendig umging, indem sie ihre übrigen drei Jungen nächtlicher Zeit durch das Wasser des Waldteiches einem neuen, höheren Leben wiedergab. Aber nun nach dem Erbleichen ihres letzten Kindes ließ sie die Gewalt des neuen Geistes aus der gehüteten Heimlichkeit immer offener in ihr Leben einbrechen, saß jeden Abend vor dem Schlafengehen einige Zeit über der alten Bibel und fing auch so mit der einsamen Lesung irgendeiner Stelle ihren Tag an, der, wenn es die Arbeit nur immer zuließ, zu einer dauernden Meditation und Hinkehr nach jenen höheren Regionen des Daseins wurde, in die sie Wachen und Schlafen durch die Kraft heiliger Worte immer emporzuheben nicht nachließ.

Unter den Folgen ihrer »Erweckung« erlitt weder der Gang der häuslichen Geschäfte, noch ihr Verhältnis zu Mann und Kindern, noch auch ihr Wesen im mindesten eine Veränderung zum Schlimmen. Darum ließ sie ihr Mann, der gute Rütsch, nicht bloß gewähren, nein, nachdem er wegen der Verletzung seiner Treue gegen den katholischen Glauben der Väter durch ein verheimlichtes Verdunkeln der Seele gegangen war, nahm er sogar diesen und jenen Hauch des Geistes an, dem seine über alles geliebte Ursel in dem Hause der Wuhle eine Heimstatt schuf.

Aber nicht er allein wurde von der Gewalt ergriffen, die immer tiefer in das Leben seines Weibes einzog. Ganz Querhoven, soweit es nicht aus später zugewanderten Familien bestand, begab sich lautlos, wie den Bildern eines uralten Traumes nachwandelnd, auf den Weg, den die schöne Rütschin geführt wurde. Klänge, aus Jahrhunderten stammend, die längst den hörbaren Zauber verloren hatten und zu unruhvollem Blutskreisen, grillenhafter Gemütsspannung oder verbohrter Schrullenhaftigkeit, kurz, zu einem quirligen und quengigen Wesen geworden waren, begannen mit leisem, zauberhaftem Wohllaut durch die tiefste Seele zu wehen. Das Erstaunen, wie über ein nahendes Zeiterwachen, das diesem Nest der armen Speilhobler und Spunddreher geschenkt worden war, hatte durch die Pläne des Sintlingers, von denen entschiedene Verbesserungen der Lebensumstände zu erhoffen waren, einen wirklichen Boden, sichtbare Ziele und denkbare Wege erhalten. Der alte unterirdische Wundersuchtsstrom Querhovens war ans Licht gehoben worden. Jetzt strömte das muttertiefe, rührende Leben der Rütschin einen Schimmer über diesen Glauben der Väter, den alle nie recht gekannt und geübt hatten, vor den sie sich in vergessenen Winkeln ihrer Brust nur manchmal als Schatten vor einem Schattenhaften hatten verneigen müssen.

Vielleicht geschieht einem einzelnen Menschen etwas Ähnliches, dem in den Dämmerungen des Alters plötzlich seine erste Liebe das Herz heiß durchbraust, obwohl es keinen Zug jenes Bildes mehr aufbewahrt hat, den es deuten, keinen Tod, den es ergreifen, keine Gebärde, die es hinreißen kann. Es wird nur glückhaft betört.

So sinnlich diese einfachen Menschen ihre Seele erlebten, so sinnlich erfuhren sie auch die Heimsuchung des neuen Geistes. Auf dem Katnerwesen des Banlyßender, aus dem die Ursula Rutsch stammte, schimmerte an manchen finsteren Abenden jene. Mauer des Hauses in einem unsagbar schwebenden Licht, die noch nie von einem anderen als dem Strahl der letzten Sonne getroffen worden war. Der Müller hörte die verstoßenen weiblichen Dämonen jener Gegend nach einem halben Jahrhundert wieder das erstemal im Morgengrauen von Uferloch zu Uferloch sich im Mühlgraben murmelnd unterhalten und mit Geschluchz fortwandern, das aber in der Ferne immer heiterer geworden war und endlich in einem leisen, herrlichen Gesang sich verloren hatte. Am Waldteiche sahen heimkehrende Holzfäller die weiße Gestalt der Katharina Tauche wandern und beim Herannahen mit auseinander geworfenen Armen und glückhaftem Lachen wieder in dem Wasser verschwinden, in welchem sie sich vor langer Zeit aus religiöser Schwermut ertränkt hatte.

Zu der verschwiegenen Unterhaltung zweier Vertrauten über neue, merkwürdige Vorkommnisse gesellte sich der herzliche Freund des einen und der treue Bruder des anderen. Die Ergriffenen entzündeten sich gegenseitig, die Scheu vor sich selbst und der erzählten Seltsamkeit schwand mehr und mehr, die einsame Inbrunst, die so leicht erlahmt, verlangte nach der Glut des anderen Herzens, und so, über die eigene Kraft hinausgesteigert, schwelgte es bald aus dem Schauern an verborgenen Gesichten in die heißen Feuer der lauten Verkündigung vor allen. Das »Zungenreden« in religiösen Geheimzirkeln war da, ein Mittelpunkt geschaffen, an dem sich der Taumel des einzelnen neu beleben und immer tiefer dringen konnte.

Niemand wußte zu sagen, wie es zugegangen war, aber nach Verlauf von kaum zwei Jahren war das religiöse Leben der Querhovener zu einer zwar phantastischen, aber festen Ordnung gelangt, der sich kaum einer entzog, der von den Ahnen her eine wiedertäuferische Fiber im Leibe hatte.

In jener Zeit waren die Verhandlungen über den Bau der neuen Kunststraße an den Rhein so weit gediehen, daß in den Gemeindevertretungen der drei beteiligten Dörfer Hemsterhus, Brederode und Querhoven die endgültige Beschlußfassung zugunsten der Waldstraße ausfiel, die durch den Wald der beiden Fremdbauern führte, wie der Sintlinger und der Brindeisener noch immer hießen, sobald man sie zusammen nannte.

Der Plan begann sich der Ausführung zu nähern, den der Sintlinger vor langem beiseitegeschoben und nur in einem achtlosen Spaß gegen den Brindeisener gefördert hatte. Gleichzeitig willigte der Heiligenbauer in die Abtretung gewisser Gebietsstreifen seines Feld- und Waldbesitzes und genoß auch nur wenig das Vergnügen an der standhaft verheimlichten Wut des alten Brindeisener über die Verhunzungen seiner schönsten Gewanne durch den neuen Straßenlauf.

Dieser fluchte wohl, aber nur mit hauenden Schritten beim Gange, schimpfte auch, doch bloß mit den Augen, und Werte in dem bellenden Ton seines Hustens.

Im übrigen ließ er sich das Mißvergnügen nicht anmerken, durch seine Feindseligkeit von dem Heiligenbauer in einen Handel verwickelt worden zu sein, den er sonst bis zum letzten Hauch seiner widersetzlichen Brutalität bekämpft hätte. Und da er von der Vorstellung seines Ansehens behindert wurde, sein Wort zu brechen und alles über den Haufen zu werfen, begnügte er sich damit, wo es immer ging, den Sintlinger mit Hohn über den Schaden durch den Straßenbau in den Zorn und die Wildheit hineinzuhetzen, die er selbst mühsam verbarg. Aber der Heiligenbauer war mit nichts aus der fernen Gleichgültigkeit herauszubringen und tröstete den Brindeisener mit der Rücksicht auf den Vorteil aller so, als hätte dieser alte Bitterbauer nicht ihn, sondern sich selber verhöhnt. Das ging so weit, daß der alte Brindeisener nach langem, dumpfem Bohren eines Abends seinem Weibe die peinvolle Erkenntnis gestand, er komme sich in dem Straßenbau von dem kleinen Hübelhexer drüben hinters Licht geführt vor, daß er bei Gott eigentlich nicht anders gehandelt habe, als dem Sintlinger die eigenen Hosen hinzuhalten. Mit bösem Augenglimmen empfing er die Katasterbeamten zur Vermessung auf seinem Gut, und wäre es nach ihm gegangen, er hätte die rotweißen Pfähle aus der Erde gerissen und an ihren Köpfen kurz und klein geschlagen. Das allerärgerlichste aber an der ganzen Angelegenheit war die Tatsache, daß der Heiligenbauer ohne sein Zutun auch hier wieder schon bald der Mittelpunkt geworden war, von dem aus alle Maßnahmen ihren Sinn erhielten, mochte sich der alte Anton noch so sehr bemühen, auch mit seinen Raten Raum und Geltung zu gewinnen.

Die übrigen Bewohner von Hemsterhus, nachdem sie lange Monate in leerer Besserwisserei um das Projekt geschwärmt waren, kehrten, weil es zu lange dauerte, an ihre häuslichen Geschäfte zurück, der an die Schnitzbank, jener hinter sein Gespann, manche zu dem ewigen Zank mit ihrem Weibe und andere zu Spiel und Trunk.

Allein, die Querhovener hörten nicht auf, mit der lebendigsten Anteilnahme allen Wendungen und Verwandlungen in der Ausführung des Bauplanes zu folgen. Nicht allein deswegen, daß die Straße durch einen Teil des Ortes führte und sie, die immer Beiseitegeschobenen, nun bedeutsam in das Getriebe der Welt einfügte, nein, vor allem, weil in ihrer Schwarmsucht die Meinung entstanden war, dieser neue Weg, der sie hinauswies, müsse durchaus als »eine dringliche Verheißung der Vorsehung« aufgefaßt werden, daß eine neue Zeit anbreche, das große Neujahr der Menschheit, da, wie immer »die Leeren und Sündhaften sich auch stellen mögen, das himmlische Zion auf allen Wegen unter die Menschen dringe«.

Und weil diese Unternehmung, die ihrem äußeren und inneren Leben ein so bedeutendes Licht brachte, von dem Heiligenhofe ihren Anfang genommen hatte, gab sich ihr Glaube erst recht Mühe, hinter dieser profanen Angelegenheit eine rätselhafte Fügung Gottes zu ahnen. In ihren geheimen nächtlichen Zusammenkünften, die reihum bei den edelsten Eiferern abgehalten wurden, suchte man in der Heiligen Schrift nach Stellen, die dem Wahne recht gaben, aus ihrem Winkel werde die Erneuerung der Christenheit den Ansang nehmen, wenn das Maß der Glaubenssünden voll sei. Und so geschah es, daß sie immer mehr des Stolzes aller Sektierer voll wurden, mit verborgener Geringschätzung auf alle Menschen zu sehen, die ihre Seelen in dem toten Atem der Priester verwesen ließen, indem sie glaubten, man könne auf einer papiernen Brücke und mit den Füßen anderer hinüber zu Gott gelangen. Obwohl sich langsam ihre religiösen Übungen in die feste Form gewisser Zeremonien gewöhnten, nahm doch der Geist, von dem sie getrieben wurden, je nach der Natur der hauptsächlichsten »Verkünder«, ein immer verschiedenes Wesen an. Diese Vielgestaltigkeit der Erscheinung des neuen Geistes war einer der Hauptgründe seiner Werbekraft. Der Kreis seiner Anhänger wuchs fortwährend, weil sich jeder einmal durch den Mund eines Erweckers mit dem Klang seiner eigenen Natur im Innersten getroffen fühlte.

Zuletzt hielten sich in ganz Querhoven nur zwei von dem Strome abseits, der die Menschen dieses armen Dorfes dem Schimmer einer unbeschreiblichen, fernen Erwartung entgegentrug: Gottlieb, der Neffe des alten Zenker, der auf so abenteuerliche Weise vor langer Zeit den Heiligenhof verlassen hatte, und sein Onkel, der Prahl-Meixner, auf dem einzigen Großbauernhofe über der Mühle.

Man sagt, der große Elis habe in dieser Periode, da beide außerhalb der Bewegung standen, durch schief gestellte, hämische Worte, wie es eben seine Art war, versucht, in Gottlieb das alte Polterwesen zu wecken und gegen das geheime Treiben der Eiferer zu lenken. Allein, der junge Mensch war seit seiner Echternacher Wallfahrt so von Grund aus verändert, daß er mit nichts in die laute Ausbündigkeit seiner früheren Heiligenhof-Feindschaft zu bringen war; aber auch die sorglose Heiterkeit seines angeborenen Wesens, sein Harmonikaleiern, schien für immer von ihm abgefallen.

Er hatte sich in der Stube seiner Mutter eine Hobelbank aufgestellt und stieß vom grauen Morgen bis in den späten Abend mit dem mehrfach geöhrten Eisen Speile aus eingepflöckten Scheiten, ohne um- und aufzusehen, gleichgültig gegen seine bekümmerte Mutter, gegen die Welt, ja, wie es den Anschein hatte, sogar gegen sich selbst. Sein hügeliges, großes Gesicht war blaß und abgemagert, seine kleinen Augen hatten ihre jachen Unruheüberfälle eingebüßt und lagen verloren und regungslos auf dem Grunde der geräumigen Höhlen, und wenn etwas in diesem schnell erloschenen Leben noch deutlich zu erkennen war, so bestand es in einem unabwendbaren, schon fast schmerzlos gewordenen Kummer. Höchstens, daß er öfter und länger, die Hände zwischen die Knie geklemmt oder den Kopf aufgestützt, an dem Fenster saß, das nach der Lehne zu hinausging, die Querhoven von dem Gebiet der Fremdhöfe schied, so daß man hätte denken können, das Kreisen verborgenen Träumens schweife noch immer nach dem Heiligenhofe hin, wo seinem Leben ein Stoß versetzt worden war, den niemand verstand. Aber als seine Mutter ihn einst deswegen geradezu fragte, antwortete er nicht, ja, sah nicht einmal herum, sondern stand auf, ging hinaus und vermied es, von diesem Tage an je wieder von dem Platze her Ausschau zu halten. Die Stunden seiner Muße verbrachte er nun außerhalb des Hauses, am liebsten an den dunkelsten Stellen des Waldes. Dort lag er auf dem Rücken und starrte unverrückt in die Kronenfinsternis über sich oder warf sich wohl gar aufs Gesicht und drückte die Stirn so in das Moos, als grübe er am liebsten seinen Kopf in die Erde. Wegen dieser vollkommenen Abwendung seines Lebens kam seine Mutter endlich auf die schreckenvolle Vermutung, ihr Sohn habe eine geheime Untat auf sich geladen, die ihn nun von innen her auffraß.

In dieser höchsten Not trat in seinem Leben eine Wendung ein. Es geschah an einem Abende, da sich die Gläubigen Querhovens im Hause des Vanlyßender versammelt hatten. Der Natur dieser sanften Familie gemäß fanden sich alle gemütsstillen, seelentiefen, stumm bewegten Menschen ein, die in aufgelöster Andacht gewohnt waren, über blaue Wellenberge von Träumen sich Gott nahe zu heben. Nach der achten Abendstunde des frühen Herbsttages begann sich die geräumige Stube mit Gläubigen zu füllen, die mit dem leisen Gruße: »Gott blühe uns!« eintraten und von dem Hausvater und seinem Weibe empfangen wurden. Als ein Viertel nach acht auf eine kurze Zeit der Strom der Ankömmlinge anschwoll, beteiligten sich auch Rütsch und seine Frau, die inzwischen eingetroffen waren, an der Ordnung der Menschenschar, insbesondere holten sie diesen und jenen Alten, der bescheiden an der Tür stehengeblieben war, näher an den Tisch heran und wiesen ihm einen Platz auf einem Stuhle oder der umlaufenden Wandbank an. Bald war der große, niedrige Raum voll von Besuchern, die, schweigend oder nur gedämpft karge Worte tauschend, in dm verschiedensten Stellungen dem Beginn der Erbauungsstunde entgegensahen: die einen saßen in gesammelter Demut wie saugend in sich zusammengesunken, andere, an straffen Armen die Hände fest ineinandergeschlungen, standen gereckt, den Kopf horchend gehoben, die lehnten versunken an der Wand, die kauerten in Winkeln, die meisten saßen kniend auf ihren Beinen bis nahe an den Tisch heran, über dem die kleine Schirmlampe in einem dumpf-rötlichen Ballen Licht hing. Die Plätze um den Tisch waren bis auf einen besetzt. Die Ursula Rütsch hatte neben ihrer Mutter auf der Ofenbank Platz genommen. Als niemand mehr kam, floß die Erwartung der Gläubigen in eine wortlose Forderung zusammen. Die Ursula hob den Kopf, blickte in die nach dem Tisch zu gewandten Gesichter der Brüder und Schwestern, nickte ihnen fragend zu, und alle gaben zur Antwort ein Nicken der Einwilligung zurück. Darauf erhob sich die Ursula und holte ihren Vater, den alten Vanlyßender, hinter dem Ofen hervor, wo er sich verborgen hatte, und führte den betreten lächelnden, greisen Mann an den Ehrenplatz unter der Lampe, ihm damit für diesen Abend den Vorsitz übertragend. Nachdem der Alte sich niedergelassen und, die gekreuzten Hände auf der Bibel haltend, ein Weilchen verharrt hatte, war es ihm gelungen, aus sich heraus in das größere Wesen zu sinken, das alle erwarteten. Die Betretenheit schwand aus seinen Mienen. Er faltete die Hände, erhob sich und sprach eingesunkenen Auges mit tiefer Inbrunst das Gebet der Erweckung:

»Über den Bergen, o Gott, stehen deine Augen und schlafen nicht. Mit den Winden wandern, mit den Wassern reisen deine Füße über die Erde und ruhen nicht. Deine Träume wachsen als Blumen auf allen Feldern. Du redest im Brausen der Wälder und erfüllst mit deiner Stimme den Gesang der Vögel.« Und als er nun zu den Stellen kam, die von der Gleichgültigkeit der Menschen diesem tausendfachen Ruf Gottes gegenüber handelten, steigerte sich seine Stimme zur leidvollen Ergriffenheit. Den Schluß aber, »die Bitte um Lösung der Fesseln vom eigensüchtigen Herzen und der Gefangenschaft des eigenen Willens«, sprach er erschüttert. Seine hohe, kindhaft reine Greisenstimme wurde von dem Beben der Andacht vielfach erstickt. Den Ruf nach Erweckung brachte er wie einen Schrei heraus und mußte sich dann schnell und fallend setzen. Da und dort tönte unterdrücktes Seufzen, Stöhnen, ja sogar Schluchzen aus der Versammlung. Aber als das Eingangslied gesungen worden war: »O Sünder, komm herbei und laß dein Herze rühren. Dein Heiland steht bei dir, will dich mit Gnade zieren«, hatte sich die schmerzvolle Aufregung der Gläubigen in eine stille, hohe Spannung der Seele gesänftigt.

Darauf rief der alte Ender, wie es Sitte geworden war, »nach einem unschuldigen, einfältigen Herzen, das den Versammelten für heute den Weg zur frommen Höhe« weise. Nach einigem Zögern trat ein zartes Mädchen, eben der Kindheit entwachsen, zaghaft an den Tisch, schloß die Augen und tastete mit den Händen nach dem hingeschobenen Bibelbuch. Als sie es erfaßt hatte, drückte sie einen Kuß darauf und öffnete es dann. Alle Anwesenden folgten mit Spannung dem Ausfall »der Wahl«. Vanlyßender zog das aufgeschlagene Buch an sich und las: »Das Büchlein Ruth, erstes Kapitel, sechzehnter Vers.«

Über die Gesichter der Gläubigen ging ein glückhaft erstauntes Erhellen, daß das Kind, von seiner unschuldsvollen Seele geführt, in diese lieblichste Gegend des Garten Gottes geraten war. Ungefähr diese Worte gebrauchte der greise Ender, um das gläubige Erstaunen aller auszudrücken, wie sichtbar der Herr durch das Kind im Geiste dieser Stunde sei. Dann aber begann er zu lesen: »Und sie antwortete: Sei mir nicht entgegen, so daß ich dich verlassen und zurückkehren sollte; denn wo du auch hingehst, gehe ich hin, und wo du bleibest, bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott mein Gott.«

Der Vanlyßender las die Worte langsam, mit psalmodierender Stimme, und da er etwa in der Mitte des Verses angelangt war, öffnete sich wie von ungefähr die Tür. Das leise Brausen des fernen Waldes floß in die Stube und begleitete wie himmlisches Orgelrauschen das singende Sprechen des greisen Mannes.

Alle empfanden das als ein Zeichen von oben und richteten nach einem betroffenen Blick auf die Tür die glänzend gewordenen Augen und erblaßten Gesichter nach dem erleuchteten Tisch. Am tiefsten wurde die Ursula aus der Wuhle erfaßt. Die Mienen ihres schönen Gesichtes zerflossen in traumwandlerischer Entrücktheit, und so, frohlockenden, starren Auges, erhob sie sich, nahm sanft ihrem Vater das Buch aus der Hand und las weiter: »Das Land, das dich im Tode aufnimmt, darin will ich sterben, und da soll der Ort meines Begräbnisses sein.« Schon bald nach den ersten Worten verwandelte sich der Ton ihrer fraulichen Stimme in die schwingende, hohe Süße kindlicher Sprechweise. Dann brach sie im Lesen ab. Es hatte sie ergriffen. Sie richtete ihre entzückten Augen auf die offene Tür und lauschte eine Weile in das leise Brausen des fernen Waldes. Und jetzt begann sie: »Und wenn Gott über uns Menschen den Tod eines Lieben verhängt hat, so sind wir mitnichten von denen geschieden, die von uns genommen sind. Die Toten treten verklärt durch das Tor unseres Herzens in unser Leben ein. Und wenn wir essen, so sitzen sie neben uns, langen in die Schüssel mit uns und sättigen sich an dem Mahle, das uns speist. Mein Schlaf ist erfüllt von ihrer Gestalt, auf dem Wege begegne ich ihnen.« So schwelgte die Rütschin noch eine Weile in der Trauer um ihre verstorbenen Kinder. Es war allen, die ihr Weißköpfchen gekannt hatten, als spräche der Verstorbene aus ihrem Munde. Aber gegen das Ende hin wandelte sich der Klang ihrer Stimme abermals: sie redete weich, wie mit dem Tone eines silbernen Glöckchens, leicht wie Hauchen. Und kaum hatte sie so ein paar Sätze gesprochen, so flüsterten sich die Zuhörer zu: Nun rede das Heiligenhoflenlein aus ihr.

Die Verzückte mußte die leisen Bemerkungen gehört haben, denn nach einem Stutzen sagte sie, die Zuhörer direkt anredend: »Ihr habt recht, ihr Schwestern und Brüder, die Zeit naht sich der Erfüllung. Das Zion, das neue Zion auf dem Berge ist nahe. Durch ein Kind kommt uns abermals Gnade, und die Heilige, die Gott sendet, ist schon mitten unter uns. Wer an sie glaubt, wird erhoben werden in seinem Herzen; aber wer sich ihr widersetzt, der wird ins Dunkel verstoßen werden und wandert im Finstern. Wehe den Verblendeten! Wehe ihnen!«

In der Totenstille, die diesem Ausruf folgte, entstand an der Tür plötzlich ein Geräusch, als sinke ein Mensch zusammen, und unterdrücktes Schluchzen ertönte. Die Zunächstknienden wandten sich um, der Kreis öffnete sich, und man sah den Meixner-Gottlieb noch halb im Vorraum, das Gesicht in den Händen vergraben, auf der Schwelle liegen. Er stotterte schmerzvoll immerfort vor sich hin. Dem Klang der Stimme nach waren es Selbstanklagen. Und da man ihn aufgehoben hatte, stand er blaß, mit niedergeschlagenen Augen da und wagte niemand anzublicken. Alle waren glücklich über die Erweckung des Burschen, der sich so lange ferngehalten hatte, traten der Reihe nach heran, drückten ihm die herabhängende Hand und gingen erhoben nach Hause. Der Harmonika-Meixner rührte sich nicht von der Stelle in dem Vorraum, wohin er zurückgetreten war. Aber da Anselm Rütsch und seine Frau als letzte davongingen, trat er auch aus dem Hause und folgte ihnen von ferne bis in die Wuhle hinauf. Und dann sahen sie ihn im Lichte des späten halben Mondes noch lange wie eine Bildsäule stehen und nach dem Rütschhause blicken.

Allein jene, die in der Erschütterung Gottlieb Meixners nur seine Erweckung zum Dasein der Auserwählten sahen, täuschten sich. Auch seine Mutter. Er bat weder um die Wiedertaufe, noch auch gab er andere als hinhaltende Antworten auf das Drängen, endlich in das Bad des Lebens zu steigen. Ja, als ihm eines Tages von irgendwem das weiße Taufhemd mit einem Mahnzettel in verstellter Schrift kurzerhand ins Haus geschickt wurde, gab er es bald durch einen Angesehenen der geheimen Gemeinde zurück. Und weil er gleichwohl fortfuhr, wenn auch nur als Türsteher, alle Versammlungen zu besuchen, in denen sich die Ursula Rütsch einfand, und nie aufhörte, die schöne Frau durch scheue, kummervolle Verehrung auszuzeichnen, mußte man erkennen, daß der Bursche von einem anderen als dem Heiligen Geiste erfaßt worden war. Aber die Vermutungen hielten auch nicht stand. Gottlieb sei in Liebe zu der schönen Ursula entbrannt, denn nie trat er aus seiner fernen Scheu heraus, in der er sie ansah, ihr lauschte und von weitem folgte, so oft sie im Dunkel nach Hause ging. Aber einige Monate nach dem Beginne seines Dienstes um die Rütschin, im Mai des nächsten Frühjahrs, fand die Schwerdtnerin auf der Schwelle ihres kleinen Häuschens in Hemsterhus eine neue Gitarre liegen und nahm sie nach glückhaftem Verwundern als die geheime Gabe jenes Unbekannten an sich, der ihr bei dem Überfall in der Nähe des Brederoder Steinbruches einst die alte Zupfgeige zertreten hatte.

Niemand kam auf den Gedanken, jener reuevolle Übeltäter an der armen Straßensängerin und der scheue Verehrer der Rütschin könne ein und dieselbe Person sein. Die Schwerdtnerin zog wieder mit dem Klange der Stimme des Heiligenhoflenleins in ihren gräserleisen Liedern von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, und die Menschen rechneten bald die rührende Schönheit dieser späten Wiedervergeltung zu den anderen wundersamen Eigenschaften der kleinen Witwe. Zudem brachen auch nicht lange danach unruhvolle Zeiten über jene Gegend aus und verhinderten, den verborgenen Irrwegen eines leidenschaftlichen Gemütes nachzugehen.


 << zurück weiter >>