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Zweites Kapitel

So wuchs der Sintlingerhübel gleich einem Berge in die Luft hinauf, von dem zwanzig, dreißig Dörfer das Ahnen eines geheimnisvollen Lichtes auf der Welt erhielten, einem Licht, das in dem Menschen brennt, aus dem einen herrlich herausglüht, in dem andern hinter Schmutz und Trümmern verborgen bleibt, das gleichwohl niemand entbehrt. Und während der Heiligenhof immer höher in diesen Schimmer hinaufblühte, wurde der Brindeisenerhof immer tiefer in trockene Finsternis geführt. Der alte Bauer versank ganz in die bittere, drohende Schweigsamkeit, das Erbe seines Geschlechtes, und oft saß er da, wie ein Stoß vergessenen Holzes tief im Walde steht, von Nässe versäuert, rissig, von Flechten überkrochen, mit gelöster Rinde. Und sah er das unbegreifliche Leben auf dem Heiligenhofe aus und ein gehen, so lachte er unversehens in lustigem Hohne auf, voll beizenden Glücksgefühls, denn diese Bummlerwallfahrten ab und zu, dies Plieren verrückter Weiber um die Mauern, dies überspannte Gealber um das Mädchen, das doch bei Gott nichts weiter hatte als blinde Augen und ein Gesicht so weiß wie ein Krautschmetterling, wahrhaftig, das war für den alten Anton Brindeisener eine einzige Freude, dieser ganze bunte, außergewöhnliche Dunst, der von je um den Sintlingerhof stand wie die Luft um ein Irrenhaus. Jetzt, wo einer droben regierte, der wirklich schon manchmal redete wie im Wahnsinn, der nur ein Kind aufgebracht hatte, bleich und geblendet, ein halbes Leichlein, jetzt war doch wohl die Zeit, daß dieses lärmende Unkraut der Sintlingersippe am Aussterben war. Und wie es den Anschein hatte, würde der alte Bauer noch den Zusammenbruch erleben, den seine Familie seit immer heimlich gewünscht hatte. So blähte sich in diesem finsterlichen Bauer mit einer fast verschollenen Seele der ererbte Schattenschwarm auf und gab seinem Alter die Kraft, an der lautlosen Auflösung seines eigenen Geschlechts vorbeizuleben, scheinbar ohne eine tiefere Aufregung als die gewohnte Bitternis seines Alltags. Das Gehöft war morsch in allen Balken, die Dächer da und dort eingesunken, die Geräte klapperig und überaltert, der Fleiß dumpf und ausgeleiert in Freudlosigkeit. Das Gesinde verrichtete unfroh und gereizt die Arbeit, die Bäuerin trug unwirsch ihr nahendes Alter, und der älteste Sohn, Jakob, der schon auf die Vierzig zuging, traf keine Anstalten, sich zu verheiraten und so das Leben des Hofes wieder in helleren Gang zu bringen. Er wich allen Mädchen mit einem Lächeln des Spottes aus, ließ keinen Tanz und Sprung an sich heran, mied jede Geselligkeit, auch die der Arbeit, und erholte sich nur dann und wann bei einer Magd, die er unversehens in der Finsternis des Bodens überfiel, oder betrank sich im Walde einsam und böswillig, bis er in ein mißtöniges Singen kam, das dann klang, als verfange sich der Wind in einem leeren Holzzuber, eintönig, dumpf, unmelodisch.

Nur der kleine Peter schwebte um dieses Verblühen, wie ein verspäteter Falter sich in der kühlen, kalkigen Sonne des Herbstes tummelt. An dem unmerklichen Versinken um ihn erlebte er nur immer den Zauber seiner Kindheit.

Niemand spürte so auf dem Brindeisenerhof, daß sich in allen Winkeln des weitläufigen Anwesens der Verfall eingenistet hatte, der vorderhand freilich mehr einem achtlos gehüteten Wohlstand ähnelte, von grämlichen Alten gehütet, unscheinbar, ja trostlos geworden.

Ein einziger Mensch unter allen fühlte den Niedergang, fühlte, wie die Luft der stillen Güte und sanften Liebe sich immer tiefer in die Brindeisener-Erde verkroch. Das war die Tochter Amalie, hinter der seit der Krankheit in dem Sintlingerschen Hochzeitsmonde auch ein Schwinden ging, erst ferner, dann näher und näher. Und jeder Ruck, der das Leben auf dem Hofe tiefer in den Schatten zog, drückte dem blassen Mädchen ein Stück Dasein ab, daß es zuletzt nach dem Atem reißen mußte, als stecke er in einem tiefen Brunnen.

An einem Tage nun saß sie mit ihrer Mutter in der großen Stube am Tisch und schliß Federn. Es war tiefer Herbst, ein Morgen, dessen Nebel von dem Nachtreif her noch silbrig und schwer auf der Erde lagen und nur mit einigen leichten Wölkchenstreifen gegen die Sonne aufstiegen, die aus weißen Schleiern, auch unsichtbar, niederstrahlte. Amalie saß vor ihrem Federhäufchen, das von dem kurzen, lechzenden Atem der Krankheit fortwährend bebte, und sah, immer wenn sie drei Federn abgezogen hatte, auf einen Blick zum Fenster hinaus, das durch den Baumgarten aufs Feld führte.

Dort trieb Jakob ein Gespann mit dem Pflug über den Kartoffelacker. Der Alte stand mit anreizendem Lauern am Rain, und Knechte und Mägde, mit kleinen Körben in der einen Hand, bückten sich emsig auf dem Felde weiter. Man sah nicht, was die Menschen machten. Sie steckten alle bis an die Knie in dem silbrigen Nebel, und man konnte meinen, sie seien nicht auf der Erde, sondern pflügten das Gewölk um, scharrten darin, griffen Flocken heraus und sammelten sie in Körbe, so wie man wohl Verstorbene träumen mag, die auf den Wolken in der Höhe vorüberfliegen. Dies alles sah Amalie nur noch vertieft von einer Lebensangst, die sie sich nicht glaubte, und in einer Schwäche, die alles noch seliger und verzückter machte. Aber ihre Mutter hatte endlich »dies dumme Getue« satt, ermahnte das Mädchen, lieber bei der Arbeit zu bleiben, und streifte unmerklich mit einem Blick über das ausgezehrte Gesicht der Kranken, in dem ein Glänzen wie ein Widerschein des weißen Nebellichtes arbeitete.

Da schrie die Schwindsüchtige verzweifelt: »Macht die Fenster auf!« Ehe das aber geschehen konnte, warf es sie nach hinten über die Stuhllehne, die rechte Hand knüllte sich in die Federn, und aus dem blauen Munde sickerte ein kümmerliches Blutfädlein und floß langsam den mageren Hals hinunter.

Nach kurzem Starren, unwirschem Reißen und lautem Geruf, doch nicht »Dummheiten« zu machen, erkannte die alte Bäuerin, daß ihre Tochter tot sei, nahm ihren federleichten Leib vom Stuhle, stieß mit dem Fuß die Tür zum Nebenraum auf und legte sie dort auf das Bett. Dann kehrte sie in die Wohnstube zurück, kniete vor dem Küchenofen und krückte Asche durch den Rost. Dabei liefen ihr die Tränen stumm und langsam aus den Augen. Sie achtete ihrer nicht, sondern bereitete genau und ordentlich die Feuerung fürs Mittagessen. Als sie damit fertig war, trat sie auf den Hof, rief der Stubenmagd und schickte sie zu ihrem Mann mit der Nachricht, daß »es eben mit Amalie ausgemacht« habe.

Der Tod, der seit lange mit dem Mädchen in der Gesellschaft aller auf dem Brindeisenerhofe gelebt, erst klein, dann immer größer in ihr verborgen gehaust hatte, war nun aus ihr herausgetreten. Er hatte die Tür aufgeklinkt und war quer über den Hof den Hübel hinuntergegangen, woanders hin in die Welt, wo ein Herz, ohne es zu wissen, nach ihm verlangte. Alle Steine, auf die er getreten hatte, klangen noch von seinen geheimnisvollen Schritten, die Luft war von den Schatten seiner Augen erfüllt, und die Blätter an den Gartenbäumen zitterten seinem davonstreichenden Atem nach.

Als der kleine Peter aus der Schule kam, geisterte dieser Schimmer des Todes noch in allen Winkeln des Hofes, auf dem ganzen Hügel bis an die Weiden des Grenzweges und darüber hinaus in alle Welt hinein, und der Knabe ließ betroffen, wo er die Nachricht vom Erlöschen seiner Schwester erhielt, den Tornister fallen, im Hofe, unter den Fenstern der Wohnstube und merkte, daß alles umher plötzlich anders geworden war. Er ging zu der Toten und sah sie sich an, um an ihrem Aussehen zu erkennen, wie sie die Verwandlung hervorgebracht hatte, und was es denn eigentlich mit dem Totsein für eine Bewandtnis habe. Aber ihr Gesicht hatte den Ausdruck seliger Zufriedenheit, und auch sonst war nichts Merkwürdiges an ihr, nur etwa, daß die Lippen blau waren und auch auf den Lidern der Augen ein Hauch dieser Farbe lag. Peter dachte, wie seltsam es sein müßte, wenn ihm beim Blaubeernaschen einmal auch außer dem Munde die Haut um die Augen blau würde. Doch als hätte er seiner Schwester mit diesem Einfall wehe getan, stahl er sich, noch ehe irgendwer auf dem Hofe etwas davon merken konnte, davon, hinten über das Feld, die Querhovener Lehne hinauf und ging und ging, bis er hinter der Wühle im Walde plötzlich das Hornwasser unter sich rauschen hörte. Dort setzte er sich an das Ufer des Baches und, nachdem er lange dem Vorübergleiten der kleinen Wellen zugesehen hatte, warf er Blätter, Grashalme und Holzspänchen auf das Wasser und merkte darauf, wie alles vorübergetragen wurde. Endlich warf er einen kleinen Stein in eine stillere Tiefe. Als der im Wasser verschwand, ohne wieder zu erscheinen, dafür aber vom Grunde her geheimnisvolle Kreise heraufquollen und über das Wasser liefen, so als atme ein Unsichtbares vom Grunde aus gegen den Spiegel, ergriff es den Knaben wie ein schmerzhafter Schnitt durch die Brust, und es war ihm, er habe jetzt gesehen, was Tod sei.

Flüchtend verließ er das Ufer des Waldbaches, und als er von der Querhovener Höhe her den väterlichen Hof liegen sah, brach er in schreiendes Weinen aus.

Zu Hause traf er Vater und Mutter schon in den ersten Vorbereitungen zur Beerdigung der Toten und half in kindlicher Art mit, immerfort benommen von einem fernen Taumel, daß er dann und wann wegwarf, was er in den Händen hielt, und hinaus vor das Tor lief, um zu sehen, ob Hemsterhus, die Berge und Wege noch an der gewohnten Stelle standen oder in diesem grauen Wogen, das er um sich fühlte, davongeglitten seien.

Brindeisener und die Bäuerin gingen eher noch finsterer und verschlossener umher. Nicht anders benahmen sie sich, besonders der Großbauer, als habe Amalie durch diesen elenden Tod, dies lange unrühmliche Ende nach einer richtigen Armeleutekrankheit unauslöschliche Schande über die Familie gebracht. Was die Träger bloß für Gesichter machen würden bei dem leichten Sarge, zu dieser kümmerlichen, ausgehungerten Leiche, die sich wohl für ein Schneiderhaus, nicht aber für den Brindeisenerhof passe. Solche und ähnliche Gedanken schickte der Bauer hinter dem Schatten seines Mädchens her und brachte es sogar dahin, dies erbärmliche Sterben Amalie als eine Böswilligkeit anzurechnen, zum höhnischen Dank für all die Scherereien, die er mit ihr gehabt hatte.

In solch verbohrter Finsternis gingen die Tage bis zum Begräbnis hin, und es änderte sich auch dann nichts, obwohl die Beerdigung in aller Feierlichkeit verlief, die dem Großbauerntum Brindeiseners angemessen war. Umsonst dröhnte fast immerwährendes Glockengeläut; umsonst ließ Liborius Pfeiffer das berühmte Lied »Ewige Gnade, dieses Lebens« mit dem Zwiegesang zwischen der Sopran- und Altstimme beim Versenken des Sarges über den Kirchhof wehen, das Bombardon brauste, der Pfarrer tat mit der Leichenrede sein Bestes. Anton Brindeisener aber sah mit zusammengezogenen Brauen und niedergeschlagenen Augen nur immer auf seine gefalteten Hände, weil er glaubte, das Grabgeleit verberge hinter der Maske der Trauer nichts als Spott und Schadenfreude.

Auch auf dem Heimwege von dem Begräbnis blieb er bitter versunken und brachte es kaum zu einem Nicken auf den Trost und das Bedauern der wenigen, die ihn auf den Hof begleiteten, um sich dort bewirten zu lassen. »Ich kenn' euch schon, ihr Freundchen«, sann er hinter jeder Mitleidsbeteuerung her und spuckte zornig aus. Dann wieder schwang er unversehens seine riesigen Beine in einem Gange, als wolle er davonlaufen. Am Grenzwege, dort, wo man zu seinem Hofe abbog, fiel ihn das Verwundern an, ob der Sintlinger und sein Weib etwa auch mit in sein Haus kämen. Schon über das Brücklein, den anderen vorausgeeilt, drehte er sich um und sah den Heiligenbauer eben im Gespräch mit zwei anderen in seinen Zufahrtsweg einbiegen. »So is recht, Nachbar!« rief er ihm mit beißendem Lachen zu. »Immer kommt, immer kommt!« und weiter stapfend vollendete er in einem Anfall sinnloser Feindseligkeit für sich: »Ich werd' dir schon den Hanf klopfen!« Es war nur ein kleines Häuflein, das sich auf dem Hofe zusammenfand: der Dinslakener Schwager Kirchner, der Bruder der Frau, ein dürrer, äußerst zurückhaltender Würdebauer, der mehr durch Gebärden und mit der Unruhe seiner großen, braunen Augen, als dem Munde redete. Der Bruderssohn Brindeiseners, von der armen, anderen Seite des Geschlechts einer, quecksilbrig, rund, hurtig in allen Gedanken und Bewegungen und erfüllt von einer fröhlichen, hinterhältigen Ironie. Der blondbärtige Holzhändler Riedel aus Dingden mit einem beschädigten linken Auge, das dem gutmütigen Gesicht fast etwas wie wildes Fletschen verlieh. Der Sägemüller Wiehr aus dem Hornwassergrunde, ein langbärtiger gefühlvoller Trinker, der jedem recht gab und für sich an keinem etwas gerade ließ. Dann waren noch einige Brederoder und Hemsterhuser Bauern, Jugendfreunde Brindeiseners, die ihm durchs Leben lange entfremdet waren und fast alle schon aus den Giebelstuben ihres Lebens herauslehnten, grauköpfig, von den erwachsenen Söhnen halb oder ganz verdrängt. Sie hingen durch die Liebe zu ihrer eigenen Jugend mit dem grämlich gewordenen Hübelbauer zusammen und nannten diese Verflechtung Freundschaft.

An diese Männer war ein recht ansehnlicher Schwarm von Weibern gekoppelt, die meisten ihre Frauen, nur wenige Einlitzige, Witwen oder alte Jungfern. Junge Mädchen fehlten ganz, weil Amalie, verscheucht und scheu, wohl von einer brennenden Sehnsucht nach Hingabe erfüllt, aber freundlos durchs Leben gegangen war. Die Gesellschaft saß an der langen Tafel einer großen Stube des oberen Stockwerkes, eigentlich mehr ein Saal, niedrig, gedrückt durch die Balkendecke, unruhig durch die Fenster an allen Seiten und doch halb eingeschattet von dem weit überhängenden Dach.

Die Männer nahmen den oberen Teil des langen Tisches ein, die Seite nach dem Giebel, die Frauen saßen gegen die Tür hin. Über der ganzen Gesellschaft hing eine klamme Luft, die Behinderung und Ungelenkheit einsamer Menschen und ungewohnter Feierlichkeit, die Scheu vor dem Gefühlsüberschwang und das heimliche Drängen nach pflichtgemäßer Äußerung erlaubter Empfindung. Das mäßige, recht knappe Essen bedrückte alle eigentlich mehr als der Tod des Mädchens. Wie ein Krähenschwarm sich ungefüge, polternden Flugs von Feld zu Feld wirft, so stieg das Gespräch auf, verstummte bei jeder neuen Enttäuschung durch ein halb verfehltes Gericht und fiel dann mit um so größerem Geräusch über eine Sache her, die eigentlich jedem furchtbar gleichgültig war. Man aß mit vorsichtigen Gabeln, achtsam geführten Messern und balancierte halbgefüllte Löffel sparsam hin und her. Die Frauen saßen mit geschürzten Nasen da, die Männer brachen oft rein aus dem Grünen in Spottgelächter aus.

Dem Brindeisener glommen die Augen nur so vor verborgenem Grimm. Seine herausfordernde Eßlust sah fast aus wie Fraß.

Er saß dem Sintlinger schräg gegenüber, und wenn er sich, erhitzt von der Kauarbeit und verheimlichtem Ärger, rot bis in die zerfurchte Stirn, aufrichtete und mit wohligem Geschnauf die Weste herunterzog, traf sein Blick auf den zierlichen, stählern-milden Heiligenbauer, wie er fremd und gütig sich in den Stuhl lehnte und bei aller Zurückhaltung schon bald der natürliche Mittelpunkt der Männer geworden war. Dann stürzte er sich jedesmal um so wilder wie eine Vernichtung auf die Fleischschüssel oder wütete in dem Kraut, und das Knurren während des Essens, das wie Behagen klingen sollte, war doch nichts wie gehässige Brocken: »Geschwollener Hund ... Laberhengst ...« und anderes. Mit solchen auf den Sintlinger gemünzten Ausrufen würzte sich der alte Brindeisener heimlich seine Mahlzeit.

Aber doch, nach beendetem Essen, schloß sich die Gesellschaft ungezwungener zusammen. Die Frauen tauschten die Freuden und Enttäuschungen von Haus und Wirtschaft, von Kind und Gesinde aus. Die eine plätscherte durch die Untiefen des Klatsches, die andere rührte gar an den Kummer ihrer Ehe, alle aber gaben der Natur ihres Geschlechtes nach, die Geschicke des Lebens als Fügungen anzusehen und die Verantwortung abzulehnen, indem man die Begegnisse in das Zwielicht wundersamer Kräfte rückt. Die alte Brindeisenerin erzählte immer und immer wieder aufs neue von dem Todesahnen Amaliens am Morgen des Sterbetages, und daß alles draußen gewesen sei gruselig wie auf einem Kirchhofe. So hätte eben nichts, rein nichts geholfen, und wenn »flugs ein Münsterscher Doktor in der Stube gestanden hätte«, »er« hätte es doch durchgesetzt und dem Mädchen an der Stuhllehne das Herz abgedrückt. Damit meinte sie den Tod. Wahrhaftig, Amalie sei von jeher wie ein Bild gewesen, das an dünner Schnur zwischen Himmel und Erde aufgehängt war. Und immer beschwerte sie sich am Ende über das Schicksal, daß so viel Geld, Kummer und Sorge nutzlos wie Asche über den Hübel in alle Winde geschüttet sei. Dann wässerten ihre Augen über, und sie mußte der Nase zu Hilfe kommen, was ein Geräusch verursachte, als schmatze sich der Pfropf von einem übervollen Fläschchen los.

Immer, wenn dieses Zischen auf der Seite der Weiber erklang, fuhr der alte Brindeisener aus seinem dämmernden Zuhören, konnte ein verächtliches Zucken in seinem Gesicht nicht unterdrücken und legte die geballte Rechte wie einen gewaltigen Pürdel vor sich auf den Tisch.

Jakob holperte ungefüge ab und zu, um die Männer mit Getränk zu versehen.

Peter tauchte dann und wann unter der Tür auf, betrachtete mit klugen, verwunderten Augen die Gesellschaft und verschwand, wenn er alle durchgezählt hatte, als fehle jemand, dem er mit überstürztem Lauf vor das Hoftor entgegeneilen müsse. Dann stellte er sich allemal auf das Schleppdächlein des fließenden Brunnens rechts vom Zufahrtswege und tat mit seinen Blicken so, als könne auf jedem der vielen Wege, die zu sehen waren, irgendwer noch kommen.

In Wahrheit aber verheimlichte er sich damit nur eine traumhaft brennende andere Erwartung. Denn wenn der Junge so mit den Augen zehn gleichgültige Steige, Straßen und Raine in der Umgegend abgelaufen war, gerieten seine Blicke an den Zufahrtsweg nach dem Sintlingerhofe, trabten ihn hinauf und bebten dann so lange vor dem geschlossenen Tore des Heiligenhofes, bis ein zauberhaftes Licht unter den Linden zu spielen begann, ein solches Blühen, bis in seine Seele hinein, daß er anfangen mußte, sich tanzend auf dem Dächlein zu drehen. Dazu sang er inbrünstig das Weidelied der Hirten, ein melancholisches, kurzes Strophlein, so lange, bis die ganze Welt wie ein tönendes Karussell um ihn kreiste.

Darauf trieb es den Knaben immer wieder an die Tür der Feststube hinauf. Er zählte die Menschen gespannten Blickes durch, doch war nicht da, wonach er sich sehnte, so lehnte er eine Weile enttäuscht an der Türfüllung und stürzte dann wieder in großen Sprüngen zu seinem Lockspiel vor dem Hoftore.

Indessen spazierten auch die Männer in gemächlichem Geplauder durch vielerlei Gegenden ihres bäuerlichen Lebens. Man sprach über die Aussicht der Wintersaat nach der Mäuseplage des trockenen Sommers und beklagte den geringen Ertrag der Rübenernte.

Der Brindeisener blieb noch immer allem fern, fuhr sich manchmal über sein langes, mager-faltiges Gesicht, nickte der Ansicht für sich zu, schüttelte jene mit heftiger Gebärde ab, war also auch hier im eigenen Hause, wofür er draußen bekannt war: ein langer, trockener Wiesebaum, der versunken in der Ecke lehnte.

Unvermutet, scheinbar aus leerem Brüten heraus, legte er plötzlich den Kopf horchend auf die Hand und fragte über den Tisch hin den Sintlinger, wie es denn eigentlich mit seinem Straßengebaue sei. Er fragte so, als packte er den Heiligenbauer räuberisch an der Gurgel. Sofort ließen die anderen von ihrem Gespräch ab und horchten auf die beiden. Der Sintlinger spürte sehr wohl den Hohn aus den Worten des Nachbars, aber weil er ja über das Wohlfahrtstreiben hinausgeführt worden war, selber also nicht mehr auf seiner eigenen Seite stand, konnte er dem alten Anton lächelnd eine schalkhafte Antwort geben, die ihn selber und den Frager dazu liebenswürdig verspottete. Aber der alte Gramscheffel von Hübelbauer hatte nicht vorgehabt, bloß das Gespräch auf eine heitere Weise in ein neues Gleis zu schieben, ihm war es darum zu tun, dem Sintlinger einen tüchtigen Kübel von Bitterkeit unvermutet über den Kopf zu gießen. Deswegen hörte er nicht auf, an diesem »zerfahrenen Geplänel« herumzumäkeln, und weil der Heiligenbauer ihn freundlich beruhigte, es sei wohl mit dem Chausseebau noch nicht an der Zeit, und wenn die Sache reif wäre, würde sie eines schönen Tages von selber fix und fertig sein, weil so durch des Sintlingers Beherrschtheit der Brindeisener sich immer unterlegener fühlte, ging er dazu über, den Heiligenbauer geradeswegs zu hänseln als puren »Rauchmacher« und »Fabulisten«. Jetzt werde er, der alte Brindeisener, der Sache auf den Zahn fühlen, denn mit »bloßem Waldstraßengelauf« mache man wohl die Spundhobler von Querhoven kopftoll, aber ein klarer, weltschichtiger Mann wie er lache nur darüber.

Der Heiligenbauer hörte mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. Bei diesen Worten des alten Bauern fuhr ein flackerndes Geleucht über des Sintlingers Gesicht, wie ein Aufstoß seiner tollen Jahre, und er erinnerte sich seines Planes, den ererbten Widerspruchsgeist der Bauern so zu bearbeiten, daß sie sich in das Gegenteil ihrer Absicht festbeißen mußten. Und er beschloß auf der Stelle, mit dem Hauptstößer den Anfang zu machen. Es war ein reiner Spaß für den Sintlinger, denn für ihn hatte sich ja der ganze Straßenhandel ausgeläutet.

Da der Heiligenbauer so ein Weilchen im Erwägen war, wie er dem Brindeisener diesen versteckten Strick um die Beine schlinge, meinte der alte Fremdbauer, sein Nachbar sei schon in tiefe Verlegenheit gescheucht, und dachte ihn vollends zu überrennen. Also schlug er auf den Tisch und verlangte, »daß die Kuh ausgemolken«, das heißt, daß entschieden werde, welcher von den beiden Wegen nach dem Rhein denn nun gebaut werden solle, der über Brederode oder der über die Waldstraße.

Darauf erwiderte der Heiligenbauer leicht lächelnd, natürlich der über Brederode, das gerade Gegenteil von dem, was er wünschte, und begann klar und dringend alle Vorteile für die Wahl dieser Verbindung auseinander zu legen. Er brachte alle günstigen Gründe in ein solch helles Licht, daß die Mehrzahl der Trauergefolgschaft immer lebendiger sich diesem einzigen Projekt hinneigte. Nur der Dinslakener Würdekirchner und der Hornwassermüller taten nicht mit. Der eine ließ mißbilligend die Augen im Kopfe umgehen, der andere schnob widerborstig durch die Nase und flickte dem Heiligenbauer mit geschickt eingestreuten »wie man's nimmt« und »wenn's nicht anders ist« da und dort am Geschirr. Der Brindeisener aber saß muckstill, wuchs immer gerader an der Wand hinauf und schwoll sichtlich in die Freude eines vernichtenden Hohnes hinein. Kaum hatte der Sintlinger »seine Kälber herausgelassen«, so drückte sich der Brindeisener aus, als ihm auch schon gründlich heimgeleuchtet wurde. Es kam alles so, wie der Heiligenbauer es sich gedacht hatte, und während sein Gegner dem Brederoder Planwagen mit Getöse alle Speichen aus den Rädern trat, konnte der Sintlinger sich nicht mehr halten und lachte so herzlich mitten in alle Verunglimpfung seines Scharfsinns hinein, daß der alte Anton zurückfuhr und mit bösem Aufwulsten der Stirn plötzlich laut schrie: »Nie, niemals, solange ich lebe, werde ich diesen Brederoder Unsinn mitmachen!« Da wurde es staubstill in der Stube.

Und mitten in das Schweigen sagte der Heiligenbauer mit belegter Zunge und offenbar unsicher: »Ja, das nützt doch alles nichts. Wir werden's doch machen müssen. Denk' an mich, Brindeisener!«

»Wir! Wer wir? Was gibt's da für ein Wir?« fragte Brindeisener höhnisch.

Darauf stieß ihn der Sintlinger unter dem Tisch mit dem Fuße und machte ihm mit den Augen unauffällig ein Zeichen. Laut sagte er: »Jeja, so ist's! Aber ich muß einmal hinaus«, stand auf und wollte der Tür zu. Der alte Fremdbauer glaubte, der Sintlinger sei schachmatt und wollte sich auf die Art dem verdienten Spott entziehen. Deswegen griff er schnell über den Tisch den Davondrängenden beim Arme und rief: »Hiergeblieben, sag' ich! Was du mir etwa leise draußen zu sagen hast, das kannst du ganz bequem laut in der Stube sagen. Ich halt's aus, das steht fest.«

»Nein«, erwiderte der Sintlinger, »es ist auch wegen mir. Aber das wäre ja Nebensache, du tust mir leid. Also komm schon!« Nun brach ein allgemeines Frohlocken über den eingeklemmten Heiligenbauer los.

Als es sich gelegt hatte, beugte sich der Sintlinger über den Tisch und sagte dem Brindeisener leise ins Ohr, er solle doch von dieser törichten Waldstraße ablassen. Denn wenn auch die anderen allen Nutzen hätten, sie beide wären die einzigen Leidtragenden und müßten wahrscheinlich mit den schönsten Feldern bluten. Der alte Bauer aber war so geblendet von dem nahen Triumph über den Sintlinger und empfand in der sicheren Voraussicht auf dessen Nachteil seinen eigenen Schaden so wenig, daß er der ganzen Runde die Sintlingerschen Bedenken laut kundmachte und feierlich versicherte, und wenn es auch das halbe Gut koste, er wolle doch nicht eher ruhen, bis die weißen Chausseesteine durch seinen Wald glänzten.

Nun, wenn es so bestellt sei, äußerte der Heiligenbauer, so trete er gern auf Brindeiseners Seite, und zum Zeichen der Einigkeit wollten sie sich vor allen die Hand geben, daß sie den Bau auf alle Weise fördern wollten. Wohl oder übel, der alte Anton mußte einschlagen.

Der Sintlinger aber ertrug seine Niederlage mit solch befriedigter Heiterkeit, daß alle stutzig wurden und insgeheim nachsannen, inwiefern es etwa möglich sei, daß der Heiligenbauer alle durch die Bank, vorweg aber den Brindeisener, vielleicht doch auf einen verborgenen Pfropf gesetzt habe.

Das gab denn einen Rückschlag in verdutzte Bedenklichkeit, von der keiner so wie der Trauervater selbst betroffen wurde. Indes erholte er sich auch zuerst, und zwar in ein lautes Redegepolter, das von geheimen Zweifeln immer heftiger angepeitscht wurde.

So überhörten alle, außer dem Sintlinger und seiner Johanna, in dem eines Sterbehauses unwürdigen Gelärm das Singen des kleinen Blondkopfes Peter drunten auf dem Brunnendache vor dem Hoftore. Es war in den Stunden immer brünstiger geworden und steigerte sich manchmal zu einem richtigen, hohen Schrei. Denn wie der Junge so die Stimme hinüberschickte an den Sintlingerhof, damit sie herauslocke, was er nicht zu hoffen wagte und doch zum Brustsprengen ersehnte, mußte er an die Nacht denken, da er als kleiner Knirps vom Bodenfenster aus auch sein Singen auf diesen Zauberhof hinübergeschickt hatte, und dies Erinnern weckte den Schimmer, das Schweben, das Grenzenlose und Abenteuerliche, das seit jeher von dort auf ihn eingedrungen war und dessen er mit so mancher mißlungenen Unternehmung hatte habhaft werden wollen. Es packte ihn wie ein In-die-Luft-Springen, und so sang er zum hundertsten Male: »Holla – hoooo, holla – hoooo! Ich bin doooo!« laut und schmetternd in den verschiedensten Verzierungen des einfachen Tonganges, und ganz für sich setzte er jedesmal mit leisem Summen hinzu: »Lenlein! Sintlingerlenlein!«, so geheimnisvoll, wie er einst im Walde des Dürrenberges aus dem Hornwassergrunde ein Vogelrufen gehört hatte; solch ein Klingen ahmte Peter nach, als würde es mit einem silbernen Hämmerchen aus der Schimmerglocke des klarsten Himmels geschlagen. Der Zehnjährling sang in sich hinein, daß ihm vor lauter Hoch- und Feinmachen der Stimme der Hals weh tat. Aber das Wasser in dem Brunnen unter dem Dächlein rumpelte gelassen fort, und wen Peter auch dachte, das wäre ja schön und geradeso wie damal im Hornwassergrunde, so meinte er auch, dem Wasser geschah ganz recht, wenn er ginge und ihm das Holzrohr zuhielte, daß es vor Angst dann nach allen Seiten bloß so sprudeln müßte Aber dann dachte er an seinen neuen Sonntagsanzug, an der Mutter Gesicht und des Vaters große Hände und nahm sich vor, wenn das Wasser durchaus ihm immerfort sein leises Singen zerrumpele, nachher werde er ihm doch das Holzmaul stopfen, und das nicht zu wenig. Einstweilen jagte er wie ein Wilder davon, ein-, zweimal um den ganzen Hof, stürzte über die Stiege hinauf und musterte unter der Tür stehend wieder die Gesellschaft, besonders den Sintlinger, von dem er seinen Bruder Jakob einst zu dem Knechte hatte sagen hören, daß er mehr als Brot essen könne, und dann Johanna, die Heiligenhofbäuerin, merkte aber bald an einem Schwerwerden seines Gemütes, daß es unrecht sei, hier zu stehen und zu gaffen, solange noch »wer« fehle. Peter mochte hier vor allen den Namen »Lenlein« nicht denken, um Gottes willen nicht vor so viel Leuten! Jeder hätte es ihm sofort vom Gesicht abgesehen. Deswegen eilte er schnell wieder auf sein Brunnendächlein und rief seinen Schmettersang in die Sintlingerschen Torlinden. Zu dem leisen Nachsatz aber ging er diesmal vom Brunnen weg über den Zufahrtsweg unter einen alten Apfelbaum, in dessen Krone noch ein paar einzige goldgelbe Blätter hingen. Und der Brindeisenerjunge dachte, wenn ihm jetzt sein hornwasserliches Vogellocken so fein gelinge, wie die Apfelblätter über ihm in der Sonne zitterten, könne das Sintlingerlenlein nicht mehr anders, als sie müßte herüberkommen.

Er bog also den Kopf zurück und sang so herzheimlich fein, daß ihm ordentlich schwindlig wurde. Als er den Kopf wieder gerade auf die Achseln hob, zappelte und zuckte die ganze Welt noch eine Weile hinter einem funkigen, roten Schleier. Darum dachte Peter, noch ein wenig taumelnd, jetzt würde es gewiß geholfen haben, und richtig! Kaum daß sich der Wirbel vor seinen Augen gelegt hatte, sah er, noch unsicher zwar, mehr wie durch die Luft fahrend, das Sintlingerlenlein aus dem Tor treten und den Hübel hinunter nach dem Grenzweg zu heranschweben. Dort blieb sie mitten auf dem Wege stehen und wendete ratlos das Gesicht hin und her. Peter rannte sofort wie gerufen hinunter, stellte sich dem Lenlein gegenüber auf die andere Seite der Straße, starrte sie mit verschlagenem Atem an, sagte jedoch keinen Laut. Das Mädchen aber, das ihn am Laufen erkannt hatte, wartete ein bißchen und sagte dann ein wenig ärgerlich: »Du, Brindeisenerjunge, warum stehst du denn und sagst nichts? Du! Ich kann ja sonst nicht den Weg zu Vater und Mutter finden, die auf eurem Hofe sind!«

Da faßte sich der Junge ein Herz, ging, nahm das Lenlein vorsichtig an der Hand und führte es den Weg. Aber reden konnte er nicht. In seiner Brust schlug es laut, kaum zum Ertragen, und ihm war ganz schwach, weil er doch, wie alle Leute sagten, ein »lebendiges Englein« an der Hand hatte.

Doch das Sintlingerlenlein ließ sein Silberstimmchen an langem Faden laufen, und während die beiden Kinder bloß diese paar Schritte hinaufgingen, brachte sie es fertig, wie es unter den Bauern heißt, über des Herrgotts Nase und der Großmutter Schürzenband zu sprechen. Dem Peter aber lag vor Staunen die Zunge quer im Munde, Er brachte kein Wort hervor, weil er sich nur immer und immer über die zauberhaften Augen des Mädchens verwundern mußte.

Unvermutet unterbrach das Lenlein jetzt ihr Geplauder, ließ seine Hand fahren, kehrte sich zu ihm und fragte, ob es wahr sei, daß er Peter heiße, und als der Junge das leider nicht leugnen konnte, mußte sie furchtbar über einen solch komischen Namen lachen. Dann verlangte sie sein Gesicht zu sehen. Peter begriff nicht gleich, wozu sie dabei die Hände ihm entgegenstreckte. Endlich verstand er es, neigte seinen Kopf und duldete, daß ihre Hände sein Gesicht abtasteten. Noch nie vorher in seinem Leben hatte ihn heiße Sonne so berührt, noch nie war eine Blüte so weich an ihm hingestrichen. Es ging ihm kalt und heiß über den Rücken, als er so dastehen mußte, sein Gesicht atemnahe an ihrem. Ihre Hände hauchten förmlich über seine Haut. »Du bist ganz hübsch, weißt du, Peter«, sagte sie endlich, mit der Musterung fertig. »Dein Mund ist ganz lustig, deine Wangen auch, bloß die Stirne. Sieh mal, meine hat doch auch nicht solche Knoten.«

Peter mußte fühlen, und dann sagte sie: »Nicht? Ja, aber du gehst auch ganz anders wie ich. Und singen tust du auch gröber – singe mal wieder wie vorhin: Holla hoooo! Nein, magst du nicht?«

Peter schämte sich, dem Lenlein alles, was er für sich bei den Worten empfunden hatte, in ihre Augen hineinzusingen und sagte, er wisse etwas viel Besseres. Sie solle einmal sehen, wie er laufen könne. Und er begann zu sausen wie ein Hase, galoppierte wie ein Pferd, sprang wie ein Hirsch, wieherte, schnaufte, prustete; flog um sie herum und stürmte davon. Das Lenlein wurde von diesem wilden Tanzspringen angesteckt, und ehe sie sich's versah, war sie auch im Laufen. Peter, der eben um die Ecke der Scheune geprescht kam, sah sie schon mit ausgestreckten Armen unter hohem Lachen den Hügel hinuntereilen, gerade auf einen großen Stein zu, über den sie fallen mußte. »Lenlein!« schrie er aus Leibeskräften. Aber schon lag sie mit dem Gesicht im Grase, und als er hinzugeeilt war, sie aufzuheben, sah er, daß ihr Gesicht blutüberströmt sei. Er war im Augenblick vor Gram, Liebe, Schreck und Sorge wie sinnlos, hob das Mädchen auf, und weil er nichts hatte, womit er das Weinen Lenleins stillen konnte, preßte er seinen Mund auf den ihren, sog so, ohne es zu wollen, beim Atmen ihr Blut ein und lief, stumm in sich hineinschluchzend, dem Hofe zu, die Treppe hinauf. Dabei biß er die Zähne zusammen und dachte, es wäre ganz recht, wenn man ihn auf der Stelle totschlüge.

So erschien er auf der Schwelle der Trauerstube: das Gesicht weiß, die Augen verzweifelt weit, der Mund bluttriefend, so, als habe er ihr Blut getrunken. Er sah furchtbar aus, und als die Heiligenhofbäuerin seiner ansichtig wurde, schrie sie so gell auf, daß Peter das Mädchen auf die Schwelle legte und die Stiege hinunter zum Hofe hinaus die Flucht ergriff.

Es stellte sich ja bald heraus, daß dem Lenlein weiter nichts geschehen war, als daß sie sich eine unbedeutende Stirnwunde geschlagen hatte, aber die Heiligenhofbäuerin konnte nicht verhindern, sich all der spukhaften Berückungen während ihrer Geisterzeit zu erinnern, da sie richtig Furcht und Abscheu vor dem Brindeisenerjungen, seinem Umherlauern und Spionieren empfunden und ihn sogar für einen Abgesandten des wilden Jakob Sintlinger gehalten hatte.

Das sann sie, als sie, das Lenlein auf dem Arme tragend, dem Sintlingerhofe wieder zuschritt. Der Heiligenhofbauer ging hinter ihr und summte leise vor sich hin.

»Ich weiß nicht, wie du singen kannst, Andreas?« fragte sie.

»Warum soll ich das nicht?« erwiderte er und summte weiter.

»Ja, aber denk' doch, was hätte geschehen können?«

»Dem Lenlein? – Unserm Lenlein?« fragte er ungläubig.

»Nun ja, sie hätte sich doch ganz leicht an dem Steine den Kopf aufschlagen können!« antwortete sie, auf ihrer Furcht beharrend.

Der Heiligenbauer entgegnete ihr darauf nichts. Sie hörte ihn bald darauf nur um so glückhafter vor sich hinsummen, und als sie sich umdrehte, ging er, das Gesicht der sinkenden Sonne zugekehrt, hinter ihr her, fing dann mit Lächeln ihren Blick auf und sagte endlich mit gütigem Verweisen: »Johanna! Unserm Lenlein kann nichts Schlimmes widerfahren, das merk' dir.«

Der Heiligenhofbäuerin wäre es in diesem Augenblick bald aus dem Munde gefahren, daß Peter, als er mit Lenchen im Arm auf der Schwelle erschienen sei, akkurat wie ein Mörder ausgesehen habe. Aber sie fürchtete das Gelächter des Sintlingers und behielt es für sich.

*

Am selben Tage mußte man auf dem Brindeisenerhofe lange suchen, bis man den Peter im Stroh des Bansens einer Scheuer fand. Er war noch immer leichenfahl im Gesichte, und von Zeit zu Zeit ging ein Schauern durch seinen Körper, denn er glaubte, das Sintlingerlenlein habe durch ihn einen Todesschaden genommen. Noch erschüttert von dem Tode seiner Schwester, hatte er sich in der Finsternis seines Versteckes inbrünstig gewünscht, auch zu sterben.

Als er deshalb vor seinen Vater zur Aburteilung geführt wurde, bettelte er förmlich mit seinen Augen um recht viel Schmerz und Schande. Der alte Bauer war denn auch noch von verborgenem Kochen über den Streit mit dem Sintlinger erfüllt und saß mitten in der Stube, hatte seine Riesenhände auf den Knien liegen, rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und räusperte sich dazu, ein aufs höchste gereiztes Menschentier. Kaum, daß der weiße Schopf des armen Sünderleins vor ihm auftauchte, so sprang das lauernde Wetter seiner Wut auf, und er hieb den Jungen mit einem furchtbaren Schlage quer über das Zimmer. Dann aber begann erst die eigentliche Züchtigung, und weil Peter alle Peinigung ohne einen Laut über sich ergehen ließ, steigerte sich der Zorn des grauhaarigen Wildrians nur immer. Und wenn sein Weib nicht endlich dazwischengetreten wäre, ihm den halb bewußtlosen Peter entreißend, wer weiß, der fessellose Bauer hätte den Jungen erschlagen.

Nach kurzer Zeit waren die Schrunden, Beulen und blauen Flecken an seinem Leibe verschwunden. Er ging umher wie immer.

Und doch – im tiefsten muß etwas durch diesen Vorgang an dem Brindeisenerjungen für immer aus den Angeln gehoben worden sein. Denn eigentlich von jenem Erlebnis mit dem hübelheiligen Mädchen und dessen schmerzvollen Folgen trat nicht nur seine noch entschiedenere Abneigung gegen alle bäuerliche Beschäftigung, sondern sogar gegen alle bäuerliche Art hervor. Er wurde noch schweifender, abenteuerlicher, aber auch einsamer und hing eigentlich nur durch den Zwang der Schule und einen ungezügelten Ehrgeiz in seinem ungemein befähigten Geiste zusammen.

Das ging so weit, daß er im Alter von dreizehn Jahren kurz und kühn seinen Vater vor die Wahl stellte, entweder er lasse ihn auf das Gymnasium oder, wie er sich ausdrückte, »die hohe Schule« gehen, oder er laufe davon. Liborius Pfeiffer, der Hemsterhuser Kantor, unterstützte durch überschwengliches Lob »dieses Ausbundes von Kopf« das Bestreben Peters so nachdrücklich und wußte vor allem der Eitelkeit des Fremdbauern so das Fell zu streichen, daß der Wunsch des Knaben in Erfüllung ging. Daß der Schulmeister seinem Ehrgeiz und seinem frömmelnden Fanatismus auch einen Brocken gönnte, versteht sich von selbst. Der Lehrer trieb den Peter vor dem Bauer durch alle Evangelien und Weissagungen der Heiligen Schrift, schnurrte die Leiter der Geschichtszahlen auf und nieder, rechnete, daß den Alten vor halsbrecherischen Zahlen ein richtiges Grauen befiel und er sich endlich wehrte, »noch mehr von solchen Teufeleien zu hören«. Als er aber wieder mit dem Kantor allein in der Stube war, schlug er ihn auf die Achsel und lachte sich mit ingrimmiger Lustigkeit aus, daß er eigentlich selber seinen Jungen vom Hofe zwischen die »Bücherschwarten« geprügelt und dem Brindeisenerhübel den letzten Bauer genommen habe. Denn der Jakob sei alles andere eher, sogar ein richtiger Erzschlüffel, nur kein Bauer.

Später kroch hinter diesem ganz richtigen Urteil des greisenden Hübelbauern noch der Gedanke, daß eigentlich der Sintlinger mit seinem blinden »Emerling« von Mädchen an der Verkehrung des alten Brindeisenerblutes in seinem Jungen schuld sei. Freilich fand sich dieser Gedanke erst später ein, leise, beiläufig, scheinbar schon unschädlich, als er auftrat. Denn der Bauernjunge vom Hemsterhuser Fremdhofe jagte wie ein Renner, spielend und glanzvoll, durch die Klassen.


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