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Achtes Kapitel

So kam der Morgen des siebzehnten Mai heran und entfaltete sich nach kurzem Nebelzögern in einen Frühlingstag der heitersten Schönheit. Die Hügel wogten wie ein buntes Meer in dem Schimmern ihrer jungen Felder um den Heiligenhof. Der sah aus wie ein riesiges, altersgraues Kauffahrteischiff, das, mit Gütern überladen, breit und sicher seinen Weg furchte, und die vielen kleinen Büsche, die da und dort auf den Kuppen standen, umschwärmten ihn leicht wie lachende Luftjachten unter wehenden Wimpeln. Als tausend klingende Fontänen stiegen die Lerchenlieder in den blauen Himmel und sprühten, sich leise verspielend, wieder ins Gras zurück. Jedes Blatt an den Bäumen hatte eine beglückte Stimme, jede Wendung des Windes einen tönenden Hauch, jeder Grashalm ein seliges Wispern, und als die kleine Glocke des Kirchturmes von Hemsterhus die Frühmesse einläutete, klang auch das ganz unheilig fröhlich, nicht wie ein Rufen zur Frömmigkeit, sondern wie das Wirbelpinken eines lustigen Zinkenisten.

Nicht lange nach dem Verklingen des Geläutes war der Sintlinger schon auf den Beinen. Im Festtagsgewande, nur statt des langen schwarzen Rockes noch in einem bequemen Hausjackett, ging der Heiligenbauer den ganzen Hof durch, um nachzusehen, welche Vorbereitungen für den Besuch des Landrats überall unter der Leitung seiner Frau getroffen worden seien. Denn er selbst hatte sich von den Zurichtungen auf den festlichen Tag fast ganz ferngehalten, höchstens hatte er durch spöttische Mienen oder höhnische Liebenswürdigkeiten da und dort Ausschreitungen in zu grelle übertriebene Putzsucht verhindert, zu der alles auf dem Hofe: Knecht, Magd, Wirtschafter, bis herab zum Öchsner hindrängte, so als bedeute dieser feierliche Tag den Anbruch einer neuen Heiligenhofzeit, den Beginn eines heiteren, leichteren Lebens für jeden auf dem Hofe.

Alles blitzte, alles war in einer fast beklemmenden Ordnung und Sauberkeit. Die Krippen in den Ställen waren weiß gescheuert, als seien das Futtertröge nicht fürs Vieh, sondern für Menschen. Die Schwanzquasten der Kühe durchgekämmt, ihre Hörner wie mit Seife gewaschen. Die Pferde standen mit gewichsten Hufen im frischen Stroh, die Wirtschaftswagen reckten die Deichseln wie eine wohlausgerichtete Kompanie unter dem Schuppen vor. Die Katzenköpfe des Pflasters waren mit Wasser fast weiß gespült, und selbst der riesige Düngerhaufen lag fast appetitlich da, nicht ein Strohbuschen stand über die säuberlich geschichteten Wulsten heraus.

Der Sintlinger schüttelte den Kopf über so viel unnötige Arbeit, und da der alte Zenker eben gebückt aus dem Pferdestall nach der Schirrkammer stöckelte, rief er ihm laut herauslachend zu: »Ihr seid wohl alle miteinander auf den Pips gekommen, Zenker! Das ist ja ein Konditorladen, kein Bauernhof.«

Der Alte schüttelte stumm den Kopf, hob seinen Stecken, wies nach dem Wohnhaus hinüber und verschwand brummelnd in der Kammer. Als der Bauer nach seinem Hause hinübersah, lehnte da seine Frau mit gerötetem, glücklichem Gesicht aus dem Fenster, hatte ihm wohl schon eine Weile zugeschaut, lächelte ihm zu, und er erkundigte sich bei ihr, ob denn auch die Sparren des Bodens gescheuert seien, und warum in aller Welt man nicht auch den sämtlichen Schornsteinen bunte Bänderhauben aufgesetzt habe. Johanna sagte etwas Komisches von einer grünen Spottnase und zog sich in neckischer Gekränktheit zurück. Der Heiligenbauer setzte seinen Umgang fort, voll lustigen Spottes, voll leisen Höhnens wegen all dieser übertriebenen Wichtigtuerei und machte sich doch selbst wegen seiner Bitterkeit lächerlich, deren Ernst er aber zu tief bohren fühlte, als das alles nur einfach dumm nennen zu können.

Das Hoftor war mit Kränzen umwunden, in denen bunte Papierfähnchen steckten, am Zufahrtswege hatte man einen großen grünen Triumphbogen errichtet.

Da wurde er ärgerlich und rief böse: »Das ist ja der reine Kirmestrubel, und so was soll man als Festjokel mitmachen? – Verflucht!«

Fast beneidete er den alten Brindeisener drüben, der sich in gekränktem Stolz von dem Trubel ausgeschlossen hatte. Dieser Hof war rundum wie zugenagelt, er schien seit Jahren menschenverlassen, kein Gespann auf dem Felde, nicht einmal eine Henne im Garten. Nur die Fensterscheiben blakten in schleimgrünem Lichte von den bitterlichen Gesichtern der Menschen dahinter, die voll hämischer Böswilligkeit das heitere Leben verborgen belauerten, das sich auf der Straße verbreitete.

»Wenn alles nicht so scheußlich wäre auf diesem Moderhofe«, sann der Sintlinger, »so möchte man sich's fast wünschen, heute wenigstens ungestört drüben sitzen zu dürfen.«

Als er sich umdrehte, sah er Helene durch das junge Laub der alten Lindenkronen in dem rosa Tüllkleide am Fenster stehen. Sie stand gereckt und unbeweglich wie in einer rötlichen Wolke. Ihr Gesicht trug den Ausdruck unirdischer, seliger Feierlichkeit, und das Blau ihrer Augen kam dem Heiligenbauer fast schwarz vor. Er sah eine Weile betroffen auf sie, riß sich aber dann auf und wollte sie mit spöttischem Gelächter aus dieser lächerlichen Verträumtheit rütteln; aber er brachte weder ein lautes Lachen noch einen Spott heraus, sondern hörte sich zu seinem Schrecken leise und furchtsam nur das eine sagen: »Mein liebes Lenlein.« Davon wurde er wider Willen so ergriffen, daß er sich ablehren und denken mußte, weshalb Helene ihn nicht bemerkt habe, und wie es zugehe, daß selbst sie »diesem ganzen Zinnober« solche Wichtigkeit beilege. Er trat an den Rand des Hügels, zog seine Taschenuhr, sah, daß es nicht weit vor acht Uhr, der Ankunftszeit des Landrats, sei, blickte die Straße entlang, horchte in den Wald hinüber, von woher der Wagen kommen mußte, und sagte, die abgebrochene Erwägung beendend: »Mein Gott, die ganze Gegend fährt eben heute Karussell. Da bleibt dem Heiligenbauer bloß das eine übrig, daß er wenigstens den Kopf kühl auf den Achseln trägt.«

Also schritt er starken Ganges in den Hof zurück, bestellte das Einspannen des Wagens auf neun Uhr, kleidete sich an und ging, belästigt durch den hohen Hut, langsam und zögernd wieder auf seinen Warteplatz vor dem Hof.

Das Lenlein war indessen in den Blumengarten gegangen und bückte sich dort hin und her. Das Meierlein stand hinter ihr und nahm die gepflückten Blüten in Empfang. Die Hände der Blinden langten in einer solchen Zartheit nach den Blumen, als griffe sie nach schwebenden Tönen und breche sie aus der Luft, und einmal gar breitete sie die Arme, als wolle sie die Pflanze umfangen, und drückte ihr Angesicht inbrünstig in den blühenden Strauch hinein. Da fiel dem Sintlinger der letzte Satz von der Musik ein, den er in seine Blätter geschrieben hatte, und er dachte, daß vielleicht eben in Helene Gott seine Musik spiele. Doch dies Anglänzen von seiner früheren Welt her war nur leise und schnell hinschwindend und vermochte an der Spur, in der aller Schicksal lief, nichts mehr zu ändern, zudem auch ließ sich in der morgenstillen Weite eben das Heranrollen eines Wagens vernehmen. Also hob der Sintlinger den Blick von dem schönen Bilde der zwei blumensuchenden Mädchen weg und kehrte ihn dem Walde zu, wo auch bald ein Landauer mit zurückgeschlagenem Verdeck auf der neuen Straße in gemächlicher Fahrt aus den Bäumen hervortrat und eine Weile hielt. Der Sintlinger konnte genau drei Männer und den Kutscher auf dem Bock unterscheiden, der gerade die Peitsche erhob und mit ihr nach dem Heiligenhof hinwies. Dann setzte sich das Gefährt wieder in schnelle Bewegung. Der Bauer rief nach dem Blumengarten hin: »Sie kommen!« und stieg dann sehr langsam, mit Lächeln seinen Hut zurechtrückend, den Hügel hinunter.

Er kam eben an der Einmündung des Zufahrtsweges an, als der Wagen vor dem grünen Triumphbogen hielt. Der eine im Fond sitzende hochgewachsene Herr mit dem bläßlichen Gesicht und dem kurz geschnittenen Schnurrbart, der wie ein schwarzer Klecks unter der großen Nase saß, war wohl der Landrat. Er winkte auf den Gruß des Sintlingers herüber, rief: »Pardon, einen Augenblick!« und sprach dann schnell in einer etwas stößigen Art zu den beiden Männern, die ihm gegenübersaßen, dem Kreisbaumeister Leipelt mit dem rot angeglühten Biergesicht und dem Kreissekretär Kölbling, einen unendlich langen, unendlich blonden, moderweichen Mann, der die Informationen des Freiherrn mit fortwährendem devoten Kopfnicken entgegennahm. Dann sah der Landrat in die Höhe nach dem Wetter, warf seinen leichten Mantel in den Wagen und trat unter den Worten: »Also um Punkt neun Uhr! Nicht wahr!« auf die Straße und berührte zum Abschied grüßend mit den Fingerspitzen die Krempe seines Hutes, während der Wagen langsam nach Hemsterhus davonfuhr. »Ich habe wohl die Ehre, Herrn Sintlinger vor mir zu sehen? Landrat von Zwinin«, sagte er, auf den Heiligenbauer zutretend.

Der erwiderte, daß in diesem Falle die Ehre ebensosehr auf seinem, des Sintlingers Wagen, fahre, und während der Landrat die bedeutsam gesprochene Höflichkeit des Bauern mit Versicherungen seiner Wertschätzung und den Informationen, weswegen er seinen Wagen mit den Herren nach Hemsterhus gesandt habe, überrannte, spielten seine braunen, beißenden Saugaugen über den geschlossenen, kleinen Mann, erstaunt, daß dies der berühmte Heiligenbauer sein sollte, nach dem die ganze Gegend tanzte, auch wenn er nicht pfiff. So stiegen sie langsam den Hügel hinan.

Nach der Art der Menschen, deren inneres Gefüge dem Verfall nahe ist, betrug sich Herr von Zwinin auch gegen den Sintlinger, während er mit ihm den Hügel hinaufstieg. Bald überstürzte er sich in Liebenswürdigkeiten, bald stutzte er schmerzhaft vor sich selber zurück und maß den neben ihm Schreitenden mit Lächeln. Er redete von dem sanften Hinausschwellen der Hügel, von der burgähnlichen Lage des Hofes, erkundigte sich nach dem alten Brindeisener, stand wieder still, sah sich um, nagte an den Lippen und schippte mit dem Fuß einen Stein aus dem Wege. Jedesmal aber raffte er sich wieder aus dem Wegzucken seines ungeordneten Wesens in die Situation, indem er dem Heiligenbauer herablassend die Hand auf die Achsel legte und versicherte, welche Freude es ihm bereite, endlich seine Bekanntschaft zu machen. So blieb dem Sintlinger nichts übrig als liebenswürdige Abwehr des Lobes und lächelndes Schweigen, dem man es nicht ansah, von welch spöttischer Lustigkeit es stammte. »Nicht der Rede wert, Herr Landrat« oder »Ist so was eingerichtet, so läuft es von selbst«, in solcher und ähnlicher Weise schob der Heiligenbauer die starken Ausdrücke der Wertschätzung von sich, mit denen ihn der Landrat immer und immer wieder anflackerte. So kam es, daß die beiden nur schrittweise vorrückten und zu dem kleinen Aufstieg fast eine Viertelstunde brauchten, den man sonst in anderthalb Minuten bewerkstelligte. Als sie endlich oben angekommen waren, trat Helene mit dem Blumenstrauß aus dem Tore, den sie eben mit Hilfe des Meierleins im Garten gesammelt hatte, und die Magd drückte sich verschämt zur Seite.

»Das ist meine Tochter Helene«, sagte der Sintlinger leise, bewegt von dem Zauber, der um sein kindhaftes Töchterlein schwebte. Der leise gleitende, sichernde Schritt der Blinden, die hohe Erregung ihres Gemütes trugen das zierliche, schöne Mädchen wie eine unwirkliche Erscheinung in der Luft heran, daß dem Landrat ein bewundernder Ausruf entfuhr. Aber dann blieb er schweigend stehen und genoß mit Wollust das zagende Herannahen dieses Wesens, das überall in der Umgegend im Geruch teils der Heiligkeit, teils engelhafter Hexenhaftigkeit stand. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst. Beim Herannahen wurde es schöner und schöner. Die gebundenen Augen, die sonst wohl von dem stumpfen Glanz eines Wassers überhaucht waren, das sich zum Gefrieren anschickt, flossen jetzt aus der Tiefe der Sterne von einem furchtvollen Feuer über, daß um die Ränder der Pupille das himmlische Blau von Schatten verdunkelt wurde, die den Glanz alter edler Bronze hatten. Das Hervorbrechen dieser leidenschaftlichen Flamme hob die Unwirklichkeit ihres Wesens etwas auf, und die kindhafte Zartheit ihres Leibes erschien wie eine kostbare Blume, die ahnungslos an einem Abgrunde blüht.

»Guten Morgen, Herr Landrat! Schön willkommen auf dem Hübel«, sagte sie in hoher Erregung, fast stammelnd, und reichte ihm den kleinen Strauß. Ihr feiner Busen wogte, als wolle er aus der Haft des durchsichtigen Tülls davonflattern, und ihre zarte, weiße Hand bebte.

»Tausend guten Morgen, Fräulein Sintlinger! Das ist ja kostbar, richtig kostbar. Sie machen mich unaussprechlich glücklich«, sagte der Landrat in der gewohnten Übertreibung seiner Kaste, aber zugleich in einer Leidenschaftlichkeit, die mit jedem Worte wuchs und ihn vollkommen veränderte. Das Blut wich aus seinem Gesicht, die Augen wurden ganz zu gierigen Saugnäpfen, seine Freude wurde keck. So, als sei er in einem der Häuser von Brüssel, wo er seine Studien machte, verschlang er die Gestalt des reizenden Mädchens mit seinen Blicken.

»Sie sind selbst die herrlichste Blüte«, sagte er fast ohne Beherrschung und bedeckte ihre Hand bis über das Gelenk mit Küssen. Dann nestelte er eine Blume aus dem empfangenen Strauß und steckte sie ihr mit den Worten an die Brust: »Gestatten Sie, Fräulein Helene, daß ich die Blume an den einzig würdigen Ort bringe.« Dabei drückte er, wie zufällig, seine Finger tief in ihren Busen.

Die Blinde stieß nach dieser schamlosen Berührung einen schreckhaften, leisen Schrei aus, taumelte zurück und wäre umgesunken, wenn nicht das Meierlein hinzugesprungen und sie aufgefangen hätte.

Alles ging so schnell, daß der Sintlinger den Vorgang nicht begriff. Mit einem Sprung war auch er bei seinem Kinde, die mit kreideweißem, schmerzvoll verzweifeltem Gesicht in den Armen der jungen Magd lehnte, und sprach begütigend auf sie ein, sich doch nicht so von ihrer Erregung übermannen zu lassen und auf ihrem Zimmer oder im Garten ein wenig auszuruhen. Aber als sich der Freiherr, aus seiner Erstarrung gerissen, nun auch an der Besänftigung beteiligen wollte, riß sich die Blinde wild in die Höh und stürzte, das Meierlein, das sie doch führen sollte, fast mit sich reißend, ins Haus.

Die Männer blieben bestürzt zurück, und der Landrat stand, das verfinsterte, zuckende Gesicht gesenkt, und murmelte sich etwas vor die Füße. Der Heiligenbauer tröstete ihn und schob den Anfall ganz auf die Zartheit und Überreiztheit seiner Tochter.

»Ja, ja, die Weiber!« sagte der Freiherr mit tiefem Atemzuge und lächelte matt und bitterlich. »Hoffentlich hat die Ärmste keinen Schaden genommen.« Dann begann der Sintlinger den Landrat durch seine Wirtschaft zu führen und wurde bei den notwendigen Erläuterungen, um die Schatten dieses Vorfalls zu verscheuchen, eindringlicher und interessierter, als er es für möglich gehalten hatte, und der Freiherr brauchte die stärksten Ausdrücke, um die zauberhafte Ordnung, vorbildliche Umsicht und den ganzen herrlichen Betrieb gebührend zu loben und so seiner geheimen Pein zu entlaufen. Im Hause zerstreute Johanna die Besorgnisse, indem sie meldete, Helene sitze still und vergnügt am Fenster, und es gehe ihr ganz wohl. Darum kam während des eiligen Imbisses eine heitere Laune auf, die allerdings von dem Freiherrn von Zwinin fast allein, und zwar immerhin etwas gewaltsam, bestritten wurde.

Als die drei das Prunkzimmer verließen und über den dämmerigen Flur und die gewundene Treppe dem Ausgang zustrebten, beteuerte der Landrat, daß diese Stunde zu den bedeutsamsten Begebnissen seines Lebens gehöre. Dann wollte er der Heiligenbäuerin zum Abschied auch die Hand küssen. Die Frau aber entzog sie ihm und meinte lächelnd, solche Münze sei, wie er gesehen habe, auf dem Lande nicht angebracht.

Darauf sah sich der Freiherr noch einmal im Hofe um und rief ziemlich hilflos aus: »Ein Wunder von Gut, wirklich ein Wunder!«

Dann trat er als erster vor das Tor.

Drunten wimmelte die neue Straße schwarz von Volk. Die Musikkapelle begann einen Tusch zu spielen, als er am Rande sichtbar wurde. Der Freiherr fand ganz seine Haltung wieder. Behördlich aufgerichtet, mit bedeutsamer Falte über seiner Nase und einem Wohlwollen um die Lippen, stieg er feierlich den Hügel hinab, indem er bei sich dachte: »Mich wird mein Blut auch noch einmal schmeißen. Ekelhaft, ekelhaft! Aber doch ein tolles Mädel, die Blinde, der Teufel auch!«

Dann begann er, unter dem Triumphbogen stehend, sofort seine Rede: »Verehrte Anwesende! Es gereicht mir zur Ehre und Freude, heute ein neues, wohl das bedeutsamste Stück unserer Kreiswege dem öffentlichen Verkehr zu übergeben...«

Die Blechinstrumente der Musikanten blitzten im Licht. Die Bauern standen regungslos. Da und dort in der langen Wagenreihe schnob ein Pferd. Die Worte des Landrats schallten laut im Schweigen der Menschen und der Sonne.

Niemand achtete darauf, daß beim Aufklingen der Stimme des Redners an einem Fenster des Sintlingerschen Wohnhauses eine weiße Gestalt jäh auffuhr und so entsetzt zurücktrat, als falle sie zu Boden.

Es war Helene, die der Mutter gegenüber tapfer den Zustand ihres Innern verheimlicht hatte und mit mühsamem Lächeln über Mattigkeit in den Gliedern und Kopfschmerzen geklagt und gebeten hatte, niemand sollte sich ihretwegen Sorge machen. Am liebsten wäre ihr, man ließe sie ganz allein. Dann hatte sie das Gesicht in den Händen vergraben, die Arme auf das Fensterbrett gestützt, und das Meierlein, die sich weigerte, auch nur einen Schritt von ihr zu weichen, konnte sie durch nichts bewegen, das Gesicht frei zu machen und sie wenigstens die Augen sehen zu lassen. Denn der Magd war der Vorgang mit dem Landrat unbegreiflich, vor allem aber dessen Folgen, und sie konnte sich Helenens plötzliche Verkehrung von strahlendster Heiterkeit in diese taube, dumpfe Zerstörtheit nicht anders erklären, als dieser vornehme Herr sei im geheimen ein böser Mensch und habe sie mit seinem Atem vergiftend angeblasen. Und als nun beim Erklingen der landrätlichen Stimme von der Straße her Helene, wie von einem Stich getroffen, jäh auffuhr und mit dem Rufe »Pfui« flüchtend vom Fenster wegstürzte, sah sich die Magd in ihrer Ansicht bestärkt, fing sie liebevoll in den Armen auf und bat, ihr doch zu, sagen, was denn der Landrat ihr getan habe, sie werde es niemand weitersagen, niemand und, wolle sie, auch Gott selber nicht. Aber da machte sich Helene mit einem leidenschaftlichen Ruck frei Und herrschte sie in Empörung an, was sie sich unterstehe. Sie schrie das letzte Wort gequält heraus und schaute dann lange ratlos geradeaus. Doch weil von der Straße herauf eben lautes Hurragetöse und Musikgeschmetter erklang, ging sie, drückte das Fenster zu, nahm das Gesicht wieder in die Hände und lauschte scheinbar gespannt auf das immer schwächer werdende Geräusch der davonfahrenden Wagen.

Als jeder Laut verklungen war, sagte sie leise zu sich: »Nun sind sie alle fort.« Dann saß sie fast wieder zusammengesunken, teilnahmslos, zum Umfallen müde da. Innerlich aber war ihr immerfort zum Schreien qualvoll, denn von dem scheußlichen Klang der Stimme des Landrats, von seiner Nähe fühlte sie es über ihren ganzen Leib wie ein Laufen ekelhafter Käfer, roch einen unerträglichen Gestank um sich und empfand den Griff der freiherrlichen Hand an ihrem Busen wie das Fressen eines glühenden Mundes.

Es war ihr kaum mehr möglich, die Maske der Ruhe aufrechtzuerhalten. Mit der letzten Kraft bat sie scheinbar todesmatt die Magd, sie doch jetzt allein zu lassen, denn sie müsse sich zu Bett legen. Das Meierlein ließ sich täuschen, bereitete das Bett und ging beruhigt, weil sie bemerkte, wie das hübelheilige Mädchen plötzlich wohlig auflebte.

Aufgerichtet, in der Mitte der Stube stehend, lauschte Helene dem Davongehen der Magd nach. Als die Küchentür unten eingeschnappt war, riegelte sie die Tür zu, und dann überließ sie sich einer förmlichen Raserei verletzter Scham. Sie bebte am ganzen Leibe, weinte, wand sich, spie aus, und weil von allem der Ekel und Gestank doch nicht von ihr wichen, verlor sie auch die letzte Beherrschung. Schon fast von Sinnen, riß sie sich die Kleider buchstäblich vom Leibe und, immer leiser und leiser ihr »Pfui!« keuchend, näherte sie sich dem Bett und warf sich, als die »Reinigung und Erlösung« beendet war, aufs Lager, raffte mit letzter Kraft nach dem Deckbett, es über sich zu ziehen, verlor aber darüber ganz die Besinnung und versank, nackt, auseinander geworfen, in tiefste Ohnmacht.

Während sich dies im Heiligenhofe ereignete, wand sich die lange Festschlange der Wagen die neue Straße hinauf durch den Wald, der Wagen des Landrats voran, der Sintlinger in seiner besten Kutsche hinter ihm. Da und dort stockte der Zug, fröhliches Geplauder und Gelächter rührte sich in den Gefährten, man rief sich Neckereien von Wagen zu Wagen zu, der Wald brauste unter dem Sonnenwind mit seinem jungen Laube auf, und die tausend Kronen stäubten hunderttausend Vogellieder über die lustige Festgesellschaft.

An der Waldmühle hielt endlich der Zug, und hier, an der Grenze der Hemsterhuser Gemeinde, verabschiedete Freiherr von Zwinin die Festteilnehmer in einer förmlichen Rede, dankte noch einmal allen für ihre treue Mitarbeit, die zu diesem Werke der Zivilisation geholfen, und feierte mit Worten fast überschwenglicher Auszeichnung den Geist des Heiligenbauers, »der alles für andere tue, nichts für sich wolle, der Kronen schmiede und glücklich sei, wenn sie andere trügen«. Heute aber müsse er es übernehmen, diesem hartnäckigen Ehrenfeind gründlich die Wahrheit zu sagen. Das Kind dürfe nicht gewaltsam von seinem Vater getrennt werden, und »die schöne Straße, auf der wir stehen, ist Ihr Werk, Herr Sintlinger!« So redete er ihn zum Schluß geradezu an. »Darum glaube ich im Sinne aller zu handeln, wenn ich Sie einlade, mit mir in den Ruf zu stimmen: »Herr Andreas Sintlinger zu Hemsterhus leb« hoch, hoch, hoch!«

Damit war die offizielle Feier beendet, und es begann sich in dem weitläufigen Garten der Waldmühle, diesem schönen Ausflugspunkt, wo schon längst, seit Jahrzehnten, das letzte Rad verfault war, ein fröhliches Treiben zu entwickeln.

Der Heiligenbauer kam, von allen angeräuchert, wider seinen Willen wohl auch etwas aus seiner heimlichen Bitterlichkeit in eine gewisse Heiterkeit, wenn auch alles Frohe einen spöttischen Unterton besaß und jedes Lächeln als eine Maske über sein starres Gesicht lief. Aus seinem Auge brach hin und wieder sogar ein starrer Funken, und als der Landrat sich auf eine Weile zu einer Gesellschaft städtischer Honoratioren an einen anderen Tisch entfernt hatte, stand auch er unauffällig auf, gab seinem Knecht die Anweisung, in einer halben Stunde ohne ihn geräuschlos davonzufahren, und ging dann wie zu kurzer Lust den gepflegten Weg hinunter, der in schönen Krümmungen nach dem Buchteich, dem Glanzpunkt jener Gegend, führte, einem metallisch finsteren, klaftertiefen Wasserbecken, das regungslos und drohend tief im Walde lag und von dem die Sage ging, daß es Menschen, die es einmal verschlucke, nie wieder hergebe, weil sein unerforschter Grund mit dem Jenseits in Verbindung stehe.

Kaum hatte er in gemächlichem Schritt die zweite Krümme hinter sich gebracht, so fiel ihn, wie von der Vorstellung des fernen Finsterwassers gelockt, seine unterdrückte Düsterheit gleich einem starken Räuber an. Er hörte deutlich die Stimme des Landrats neben sich: »Tausend guten Morgen, Fräulein Sintlinger!« und sah von dem Klang dieser Worte sein Kind erblassen, zittern und, die Hände vors Gesicht geschlagen, umsinken. Eigentlich war er ja überhaupt nur deswegen beiseitegegangen, um mit polnischem Urlaub, wie man sagt, sich aus der leeren Komödie davonzumachen, nun er aber von diesem Bilde angefallen wurde, nahm er seinen hohen Hut ab, klappte ihn ein und begann schneller und immer schneller quer durch den Wald ohne Weg und Steg nach Hause zu laufen. Von der Waldmühle her hörte er, bald hoch, bald tief, einmal sogar mit der Stimme des Freiherrn, seinen Namen rufen: »Sintlinger, Herr Sintlinger«, zuletzt gar in weinerlicher Kläglichkeit: »Heiligenbauer!«, dem allgemeines Gelächter folgte. Er achtete auf nichts, fühlte es fast wie Angst in sich wachsen und eilte über Wurzeln und Stöcke davon.

Abgetrieben und aufgeregt kam er endlich auf dem Heiligenhofe an und erstaunte über die heitere Unbesorgtheit, der sich alle Hingaben. Ein Teil des Gesindes war ins Dorf zu der Tanzlustbarkeit gegangen, mit der die kleinen Besitzer und Dienstleute nach ihrer Weise das Fest in der Hemsterhuser Schenke feierten, die anderen trödelten lachend und müßig umher. Keiner trug einen Zug im Gesicht, der dem Sintlinger das Recht gab, nach dem Ergehen Helenens zu fragen. Ja, als er seine Frau beiseitenahm und sie erblaßt bat, ihn doch mit solch angenommener Lustigkeit nicht zu täuschen, sondern um Gottes willen ihm alles zu entdecken, wie es um Helene stehe, lachte ihm Johanna erst ausgelassen ins Gesicht und machte ihm dann über dies sein Schattenplaudern am hellsten Tage richtige Vorwürfe. Es sei nichts anderes, als daß das Lenlein sich seit langem mit Erwartungen und kindischen Hoffnungen das Herz zum Platzen überladen habe und nun oben in ihrem Bett all die Aufregung ausschlafe. Sie habe sich die Tür verriegelt und sei nicht zu erwecken. Diese Beruhigung vermehrte natürlich die Sorge des Bauern, anstatt sie zu entkräften. Er tippte seiner Frau mit dem Zeigefinger bitter lächelnd an die Stirn, sprang leise die Treppe hinan, lauschte gespannt ins verschlossene Zimmer, klopfte zaghaft einigemal, rief liebevoll dringend ihren Namen, bekam aber keine Antwort und hörte keinen Laut. Deswegen war er geneigt, der Sorglosigkeit seiner Frau recht zu geben, zumal er bei abermaligem Lauschen einen langen behaglichen Laut erhorchte, wie ihn Tiefschlafende beim wohligen Dehnen auszustoßen pflegen. Nun es aber gegen den Abend hin ging und Helene immer noch nicht erschien, faßte ihn seine Sorge wieder stärker an. Alles war beim Melken und Füttern, aus den geöffneten Stalltüren erscholl der Gesang der Mägde. Er holte sich heimlich eine Leiter, stieg unter dem Schutze der Lindenkronen zu dem Fenster Helenens hinauf und schaute in das Zimmer hinein. Aber eben brach das Licht der untergehenden Sonne mit einer solchen Wucht durch das junge Lindenlaub, daß er vor lauter rotem Glänzen, Flimmern und Spielen nichts deutlich sehen konnte. Darum drückte er den nur eingelehnten Flügel ganz auf und war im nächsten Augenblick in der Stube.

Des hübelheiligen Mädchens tiefe Ohnmacht war indessen in Schlaf übergegangen. Von unruhigen Träumen erregt, von dem Widerschein des Abendrotes überhaucht, lag ihr schöner unbedeckter Leib, wie von Sinnenglut schimmernd, in einer solch leidenschaftlichen Haltung, daß dem Sintlinger erst von einem heißen Stoß und dann von einem eisigen Schlag das Hirn tanzte. Denn sein Kind blühte gramvoll und selig wie ein eben gefallener Engel. Mit zitternder Hand griff er in die über die ganze Diele zerstreuten Kleider, weil er schwimmend dachte, es sei besser, niemand, selbst das Lenlein nicht, sehe sie. Aber er rührte sie doch nicht an und richtete sich wieder auf. Dann deckte er sie so vorsichtig zu, daß sie nicht erwachte, ging ans Fenster, warf die Leiter um, entriegelte die Tür und verließ geräuschlos das Zimmer. Während alldem war er so ruhig geworden, daß er eine Kälte zum Erfrieren in sich fühlte und ein Würgen im Halse, daß ihm jeden Augenblick zum Schreien und Ersticken zugleich war.

Die Sintlingerin schrak beim ersten Anblick ihres Andreas auch zurück und fürchtete wirklich, dem Lenlein sei unwiderruflich Furchtbares passiert, weil der Heiligenbauer rein aussah, als käme er aus einem Totenraum. Als der sich aber so weit gefaßt hatte, daß er erzählen konnte, das Lenlein liege splitternackt, wie nach einer Überwältigung, und ihre Kleider seien in Fetzen gerissen über die ganze Stube zerstreut, also, daß nur zu denken sei, es habe eine plötzliche Verrückung des Geistes über sie Gewalt bekommen oder... nein, das andere bringe er nicht über die Lippen. Das wäre ja furchtbar.

Aber die Bäuerin knickte gar nicht ein. Nach einem jähen Ausstoß durch ihre volle Brust zuckte gar etwas wie ein spöttisches Spiel um ihre Lippen. So machte sie kehrt und stieg eilig die Treppe zu Helene hinauf.

Nach einer Viertelstunde trat sie wieder herein und traf ihren Mann, ratlos mit den Fingern auf der Fensterbank trommelnd, das Auge in die Baumkronen des Gartens gerückt. Beim Umwenden stand die ausrufende Frage in seinem Gesicht: »Na, ist es nicht furchtbar?!«

Freilich sei es furchtbar, antwortete Johanna auf dies sprechende Anschaun, und zwar furchtbar deswegen, weil das Lenlein ihres Mannes Tochter sei und einmal versucht habe, wie es früher auf dem Sintlingerhofe überhaupt gewesen sei, die Zwirnrolle kurz und klein zu hacken, um den Fadenanfang zu suchen. Das alles sagte sie mit fröhlicher Spottlust, wurde aber dann ernst. Sie habe sich von dem Zwininer Landrat vierzehn bunte Dörfer versprochen, und weil er sie nicht auf seiner Kalesche wie eine Prinzessin davongeführt, sei das enttäuschte Blut mit ihr durchgegangen, und sie habe mit all ihren vergeblichen Hoffnungen auch ihre Kleider in Fetzen gerissen. Das sei wohl alte Sintlingersche Manier, aber keine gut menschliche, vor allem keine weibliche, und sie habe ihr den Kopf richtig gewaschen, daß sie alles beschämt bekannt, und wenn er sich überzeugen wolle, sie komme gleich herunter, oder er könne auch zu ihr hinaufgehen, denn sie werde wohl bald mit dem Ankleiden fertig sein.

Trotz dieser klaren Schlichtung stand der Sintlinger mit großen Augen auf und legte seiner Frau beteuernd die Hand auf die Achsel, wie in der Vorbereitung einer bedeutsamen Einwendung, ward aber anderes Sinnes, schüttelte den Kopf und ging, ohne ein Wort gesprochen zu haben, hinaus durch den Flur, hinter den Hof, legte die Hände auf den Rücken und versank in den Anblick des abendlich verdunkelten Waldes.

Bis ins Finstere hinein stand er unbeweglich. Dann atmete er wie aus einem wunden Abgrund herauf und murmelte: »So, so! Also mein heiliges Lenlein ist ein Weib.« –

In verzweifelndem Spott vor sich hin lachend, tappte er sich nach dem Hofe zurück wie in ein fremdes Haus.


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