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Siebentes Kapitel

Die Darstellung des Streites, den der Heiligenbauer auf dem Felde während des Herbstnachmittags bis in den Abend hinein mit dem Hemsterhuser Pfarrer ausfocht, ist aus ziemlich ausführlichen Notizen wiederhergestellt, die sich in seinen Papieren über jenen Vorgang finden.

Am Schluß der Aufzeichnungen steht folgender Satz:

»Wer sich in den Rangstreit der Tugend verstrickt, ist ebenso ungerecht wie derjenige, der sich an die Stufenleiter des Lasters verliert.«

Wenn diese Worte des Heiligenbauers mit seiner sieghaften Streitlust jenes Nachmittags zusammengehalten und zugleich die Erzählungen aus seiner Umgebung betrachtet werden, so merkt man, daß der seltene Mann den Wortkampf nicht dem Pfarrer, sondern sich selber als eine Verfehlung gegen seine mühsam errungene Erkenntnis angerechnet hat.

Denn es wird berichtet, der Sintlinger sei danach lange, von den alten leidenschaftlichen Schatten eingehüllt, umhergegangen, habe auf Wegen und in Wäldern, in Ortschaften und auf einsamen Feldern Umschau gehalten, als müsse er den geheimen Schlupfwinkel eines Menschen auskundschaften, von dem er bedroht werde. Zu niemand sprach er über den Sinn seiner Unruhe oder die Person, von der er sich verfolgt glaubte, trotzdem er sein Geheimnis oft selbst fast ganz preisgab, indem er beim Nachhausekommen fragte, ob nicht jemand in seiner Abwesenheit dagewesen sei oder sich in der Nähe des Hofes habe blicken lassen, obwohl er mitten im Gespräch auffuhr, angespannt hinaushorchte und dann eilig das Haus verließ, um, vor dem Hofe stehend, in die Runde zu spähen.

So ist keine andere Deutung dieser seiner Seelenverfassung möglich als die, daß er sich noch immer von dem geheimnisvollen Franz Faber nicht losmachen konnte, mit dem er vor vielen, vielen Jahren in der Nacht der Sintlingersteinfeier eine Unterredung gehabt hatte. Und daß dem so ist, beweist der endliche Ausgang seines Lebens, aber auch eine Eintragung in seinen Papieren findet damit eine Erklärung, die sonst undeutbar bliebe. Unmittelbar hinter der letzterwähnten Aufzeichnung steht der Ausruf: »Er war wieder bei mir. Wann werde ich von ihm loskommen! Seine Augen sind auf mich gerichtet, und er redet Worte zu mir, die ich nicht verstehe.«

In dieser inneren Unruhe und Unsicherheit schloß er sich noch enger als je mit fast kranker Inbrunst an sein blindes Töchterchen. Kaum ließ er sie aus seiner Hand. Wohin er ging, sie mußte bei ihm sein, und noch oft in der Nacht merkte Helene, daß er lange neben ihrem Bette stehe und sich leidenschaftlich nach ihr hindränge.

Während so der Sintlinger wieder tiefer, ja fast wie auf der Flucht vor einer Macht, der er sich nicht gewachsen fühlte, in die namenlosen Glanzwasser untertauchte, die aus der Seele seines Kindes strömten, und noch mehr als je sich von dem Treiben der Welt absonderte, schwollen die Verwirrungen der Zeit und der Kampf in der nächsten Umgebung höher und höher um den Heiligenhübel.

Der Pfarrer Ardelt war als ein Gezüchtigter von dem Bauer gegangen, verletzt in seiner Würde als Gottesdiener, von einem stärkeren Geist überwunden, vor seiner eitlen Erwartung bloßgestellt, in sein versöhnliches Greisenherz hinein tief verwundet, so in einen unbeherrschbaren Wirbel gestoßen, daß er an jenem Abende beim Nachhausegehen den Weg verfehlt hatte und spät in der Nacht in dem Pfarrhof zu Hemsterhus eingetroffen war. Die Wirtin hörte ihn wohl endlich die Straße daherkommen, erkannte auch in dem Aufklinken des Zauntörleins seine Hand, erschrak jedoch, als sie gleich danach das Pförtchen zuschlagen hörte, daß es über den ganzen Hof schwirrte. Schnell hob sie das überwartete Essen von der heißen Stelle des Herdes und eilte der Tür zu, um mannhaft sich entgegenzustellen, wenn ja statt des geistlichen Herrn etwa irgendein Fremder in das Haus eingedrungen sein sollte. Aber sie kam mit dem offenen Lichte kaum in die Hälfte des Ganges, der von der Küche nach dem Hausflur führte, da flog auch schon die Tür auf, und sie sah den alten Herrn mit aufgeregten, langen Schritten, den Stock wie eine Stichwaffe in der Hand, den Hut im Nacken, über den Flur eilen und die Stiege hinaufstürmen, ohne auf ihren Ruf und nachfolgenden Schreckenslaut zu hören.

Droben aber in seiner Stube stellte der erregte Gottesmann den Stock mit übertriebener Vorsicht an die gewohnte Stelle, hing den Hut genau an den Nagel, ging dann mit vorsichtigen Schritten, ohne Licht anzuzünden, in die Mitte des finsteren Raumes, sann eine Weile gegen die Erde und sagte dann: »Gut, wenn ihr das Feuer wollt, so sollt ihr es haben. Liborius Pfeiffer hat recht, solche Brut verdient keine Schonung. – Herr, bin ich nicht dein Diener?«

Und nun begann in Hemsterhus erst leise, dann immer lauter und stürmischer der Kampf gegen Irrlehre, Sündhaftigkeit und Ruchlosigkeit des zuchtlosen Geistes.

Ardelt verfiel mehr und mehr der fanatischen Leidenschaftlichkeit seiner Kaplanszeit; denn wer nur durch die Jahre mechanisch von Verwirrungen der Jugend abgedrängt worden ist, verfällt, nur schutzloser und ungebärdiger, den Ausschreitungen seines alten Temperamentes, wenn der Schutzwall aus Staub und Lebensträgheit plötzlich weggeblasen wird. Der Pfarrer vermied es zwar, von dem Ausfall seines Bekehrungsganges auf dem Sintlingerhofe zu sprechen, steigerte sich aber sofort zu langen Verdammungs- und Zornreden, wenn irgend jemand den Namen des Heiligenhofbauers auch nur erwähnte. Doch richteten sich seine Maßnahmen nicht gegen diesen »Erzketzer«, wie er den Sintlinger nun nannte, sondern gegen das bunte, inbrünstige Heilwühlen der Querhovener. Er bezeichnete diesen Ort als den Körper des Sintlingerschen Unglaubens und schwor, Glied um Glied davon abzuhauen, dann werde die gotteslästerliche Seele auf dem Hübel von selbst zugrunde gehen.

Unverzüglich setzte er auch mit der »Ausrottung des teuflischen Schwelens« ein. Jede Beichte eines Querhoveners wurde zu einem peinlichen Inquisitionsgericht und endete gar oft nach tumultuösen Explosionen des Geistlichen mit der Verweigerung oder Hinausschiebung der Absolution. Kommunizierende wies er von der Abendmahlsbank weg. Die Querhovener Täuflinge unterwarf er vor der Erteilung des Sakramentes einer beschämenden Teufelsaustreibung. Die sonntäglichen Predigten handelten von nichts anderem als Glaubensverbrechen, dem Los der Sünder auf Erden und ihrer Höllenverdammnis. Die Fenster des Gotteshauses klirrten wieder, die Kanzel zitterte. Ardelt tobte wie in seinen wildesten Eiferjahren.

Dem Ketzerkantor Liborius Pfeiffer wurde dadurch erst recht auf das Pferd geholfen, für das er geschaffen war, und er machte seinem Spitznamen in dieser Zeit alle Ehre. Die Folterungen der Querhovener Kinder in der Schule begannen wieder. Seine öffentlichen Gebete kochten von Verfolgungsinbrunst. Wo er ging und stand, lag ein Schatten geheimer Düsterkeit um ihn. Er konnte nicht sprechen, ohne nach drei, vier Sätzen schon in den Wirbel seiner Glaubenssorge zu verfallen. Seine Lippen bebten beständig wie von stummen Verteidigungs- und Verdammungsreden, die ruhlosen Augen rieben ihre Lider noch wunder; durch die Säcke seines Gesichts lief oft und oft ein Zittern, wie es dem Ausbruch des Weinens vorhergeht.

Aber während der Pfarrer seine ganze Kraft gegen die Querhovener einsetzte, kehrte der Kantor seine Waffen auch gegen den Heiligenbauer. Sei es, daß er unbewußt von Erinnerungen der Lektüre seiner ekstatischen Bekenntnisschriften regiert wurde, sei es, daß er wirklich von dem Wahn ergriffen war, die Nöte der Zeit hätten der katholisch-römischen Kirche wieder die Macht der gewalttätigen Verfolgung Andersdenkender zurückgegeben, kurz, er traf Maßnahmen, als müßte die Folge der Ereignisse notwendig in einem peinlichen Glaubensprozeß ausmünden. Von seiner Hand ist ein »Verzeichnis aller lästerlichen Irrlehren und Lebenssünden des gefährlichen Häresiarchen Andreas Sintlinger, genannt der Heiligenbauer von Hemsterhus, und seines blinden Kindes Helene, genannt das Heiligenlenlein«, vorhanden.

In dem »Mandat« Pfeiffers finden sich unglaubliche Anklagen und absurde Erzählungen, wie die Geschichte von der Unterhaltung des Heiligenbauers mit dem Teufel in Gestalt eines schwarzen Huhns und sein Kegelspiel mit dem Gottseibeiuns im Buchengrunde; es sind die vielen Aussprüche des Sintlingers, zum Teil natürlich verdreht, enthalten, die unter dem Volk umliefen; daneben überliefert dieses moderne Ketzeraktenstück aber auch einige neue Sentenzen, die vollkommen das Gepräge des Sintlingerschen Geistes tragen, obwohl die Umstände nicht genannt werden, unter denen er sie verkündigt hat. Sie lauten:

»Schert euch doch nicht so viel um Gott, sonst werdet ihr gar bald wie Huren, die nur von Anständigkeit reden, damit sie ihrer überhoben sind.«

Weiter heißt es:

»Ist das nicht ein Narr, der Mücken zum Himmel aufwirft und Sand in ein klares Wasser streut, um dadurch zu erfahren, wie hoch der eine und wie tief das andere sei? – Die aber mit ihrer Rede und den Worten anderer das Geheimnis Gottes und ihrer eigenen Seele aufklären wollen, handeln wie ein solcher Narr.«

Die heftigste Empörung aber erregte der letzte Ausspruch:

»Was das Pferd war, ehe es ein Pferd wurde, ist dasselbe wie das, was der Mensch war, ehe er in die sichtbare Gestalt seines Leibes eintrat. Denn wären wir nicht in allem und strömte dieses All-Eine nicht auch in uns, wir könnten nichts erkennen.«

Die Anklageschrift kam nie aus der Seitentasche des kantorlichen Rockes. In jede Gesellschaft drang Pfeiffer ein und entfachte einen Schauer vor der Gefährlichkeit des Heiligenbauers, dessen Verirrung er von den Lastern seiner Vorfahren und den Ausschweifungen der eigenen Jugend herleitete; er erinnerte an die Gesichte des verschwundenen Niemand-Albes und schwor, daß alles aufs Haar eintreffen werde, was jeder in der Umgegend von seinem Vaterhaus her wüßte, und was dieser halbsinnige Mensch einstmals in vielen Gesichten erschaut habe, das nämlich, daß durch ein Kind die Vernichtung des Hofes seinen Anfang nehmen werde, und dieses Wesen sei niemand als Helene, die Gott schon vor ihrer Geburt mit Blindheit geschlagen habe. »Wißt ihr aber nicht«, pflegte er nach diesen wilden Prophezeiungen zu sagen, »wißt ihr nicht, in welchem Walde der Niemand-Alb ums Leben gekommen ist und wer ihn gefunden und begraben hat? Der arme Narr war keinem im Wege als dem einen, dessen schreckliches Ende er vorausgesehen hat. Ich muß mit Moses euch zurufen: ›Haltet euch fern von dem Zelte dieses Gottlosen, damit, wenn das Feuer aus der Erde fährt und ihn verschlingt, ihr nicht mit ergriffen werdet.‹«

So verbreitete er in der ganzen Gegend ein dumpfes Bangen, eine heimliche Furcht.

In diese geladene Luft fuhr ein kirchliches Ereignis, das nicht nur in der engen Welt von Hemsterhus wie ein Blitz wirkte, sondern den ganzen Erdkreis erregte, und das nicht allein, soweit er dem römisch-katholischen Glauben Untertan war.

Im selben Herbst erließ der damalige Papst Pius X. seine Enzyklika: »Pascendi Dominici Gregis.«

Dieses Sendschreiben wirkte als Verdammung aller freien Wissenschaft und als Versuch, den ganzen, auch den Weltklerus der römischen Christenheit klösterlich zu kasernieren, aufreizend, ja beunruhigend.

Der Pfarrer Ardelt empfing die Enzyklika und das beigeschlossene Schreiben des bischöflichen Amtes, als er sich eben nach dem Mittagsschläfchen in dem Lehnstuhl zurechtgesetzt hatte. Kaum daß er die Einleitungsabschnitte des päpstlichen Breves gelesen hatte, war der greise Priester so gerührt, daß sich ihm die Augen feuchteten.

»Endlich«, rief er erleichtert, als von der Art gesprochen wurde, wie der Modernismus bekämpft werden sollte. Dem Pfarrer war es, als habe der Heilige Vater seine schlimme Lage im Kampfe gegen kirchliche Neuerungssucht empfunden und sei ihm im rechten Augenblick mit seiner ganzen Macht zu Hilfe geeilt. Nun war Ardelt gesichert und gestärkt in allen Maßnahmen zur Vernichtung dieses Aberwitzes der ketzerischen Querhovener, aber auch gefeit gegen die schwächliche Güte des eigenen Herzens und die freiheitlichen Anwandlungen seines schlecht behüteten Verstandes.

»Jawohl, Vernichtung«, sagte der Pfarrer drohend zu sich. »Und habe ich diese Brut still gemacht, so hört der Hahn auf dem Heiligenhübel von selbst auf zu krähen.«

Dann stand er lange in tiefe Gedanken versunken am Fenster und sah auf den begrasten Vorplatz hinunter, in dessen Mitte ein ungewöhnlich schönkroniger hochstämmiger Ahornbaum dem Gartentürlein gegenüber Wache hielt. Ardelt geriet in seinem Grübeln in immer tiefere Leidenschaftlichkeit, so daß er endlich mit den Fingern der rechten Hand anfangen mußte, auf der Fensterscheibe taktmäßig zu trommeln. Plötzlich erzitterte das ganze Fenster unter seiner Hand wie unter einem gewaltigen Schlag. Dem Greise selbst gab es einen Ruck durch den ganzen Körper, so daß er erschrocken zurücktreten mußte und ein wenig mit seinem verschlagenen Atem zu tun bekam. Doch bald wanderte sein Herz geruhigen Schlages wieder den alten Weg, und der Gottesmann sah neugierig in den Hof hinab, als sei von dort die Störung gekommen, die er doch wohl unbewußt sich, selbst bereitet hatte. Die Sonne füllte den lautlosen Vorplatz, die braungelben Fallblätter rührten sich wie von selbst, wie in den letzten leisen Zuckungen des entfliehenden Lebens.

»Ja, was war denn das, dieses Gedonner vorhin?« sagte der Priester zu sich, der wie viele katholische Geistlichen abergläubisch war und fest an Vorahnungen und Anzeichen glaubte. »Ich weiß schon, daß es Mühe kosten und Lärm setzen wird. Aber deswegen werde ich meiner Pflicht nicht untreu werden.« Allein, er mußte aufhören zu sprechen. Denn da näherte sich der Schatten eines Menschen dem Pförtchen, lief selbsttätig den Weg her, richtete sich am Pförtchen vom Boden auf, schwankte einen Augenblick als langer dünner Schleier in der Luft und sank dann langsam in den Hof. Und dabei war nirgends ein Wesen zu sehen, dem er angehörte. »Ist denn auf einmal alle Welt mit Spuk geladen?« fragte er sich beklommen, schloß die Augen, ging auf seinen Lehnstuhl zu, packte mit seinen Händen krampfhaft die Armlehnen und murmelte inbrünstig: »Herr, bleibe bei mir! Joseph und Maria, verlaßt mich nicht!« Indem er so rang, klopfte es an seine Tür, lauter und lauter. Da kam der Hemsterhuser Pfarrer wieder ganz zu sich, hob das päpstliche Schreiben auf, rief mit starker Stimme »Herein!«, und als Liborius Pfeiffer auf der Schwelle erschien, schwenkte er den Bogen wie eine Fahne in der Hand, trat dem Kantor einen Schritt entgegen und rief: »Gott zum Gruß, Herr Kantor! Da halte ich unsern Sieg in den Händen.«

Die beiden Männer stellten zunächst den kirchlichen Arbeitsplan der Woche fest. Dann aber verloren sie sich in den Austausch neuer Nachrichten aus dem Ketzerwinkel, schwangen sich einander und getragen von dem kämpferischen Geiste der päpstlichen Worte immer brennender in den Entschluß eines rücksichtslosen Ringens gegen jede Bekenntnisverschlemmung und besprachen endlich neue Handhaben, durch die den Querhovenern die Bedenklichkeit ihres geistigen Irrtums auch leiblich fühlbar gemacht werden könnte. Der Pfarrer wehrte sich zwar noch gegen diese Art des Kampfes und war sicher, schon morgen durch die Form der feierlichen Verlesung, seine Predigt und den nachfolgenden Prozessions-, Buß- und Bittgang um die Kirche einen nachhaltigen Eindruck auf die irrenden Gemüter zu erzielen. Aber Liborius Pfeiffer blieb bei seiner Ansicht, daß, wenn es eben nicht anders ginge, die Seele durch den Leib gezüchtigt werden müsse. Und hier, der Kantor kenne sich doch auch in der Welt aus, hier werde es nicht anders gehen. Stoßen könne nur durch Stemmen geheilt werden, und einen Schlag mit der Faust auffangen, sei noch lange kein Widerschlag.

In diesem Lodern mit Worten begannen Pfeiffers Räder unter den Rockschößen wieder unvermutet zu arbeiten. Er sah den Abend immer mehr Schatten auf seine Hucke laden, sprang auf und wurde von den Beinen aus der Stube des Pfarrers gewirbelt, noch ehe er sich recht verabschieden konnte.

Nicht lange danach hörte Ardelt die ganze Familie Pfeiffers Kreuzweglieder singen. Dazwischen tönte langes Gebetsmurmeln, denn die Schule stand ganz in der Nähe des Pfarrhauses. Das Licht erlosch und flammte wieder auf, und jedesmal, nur immer entzündeter, erhob sich ein neues Büßerlied.

Allein, als am anderen Tage in der Messe nach dem Evangelium die Enzyklika verlesen worden war, als des Pfarrers Predigt wie ein Schloßenwetter von der Kanzel prasselte und danach der Bußgesang mit Musikgedröhn um die Kirche zog, konnten weder Ardelt noch Liborius Pfeiffer noch auch die anderen Mitglieder der Glaubensbruderschaft einen sonderlich tiefen Eindruck auf die Querhovener feststellen, die sie fortwährend auf ein Erbleichen, Erröten, Ellenbogenstoßen oder Kopfnicken wohl im Auge behalten hatten. Im Gegenteil mußten alle, die sich nach der Bußfeier in einem Klassenzimmer der Schule versammelt hatten, feststellen, daß die Querhovener wie immer sich hinter der Maske tiefer Andacht und demütigen Gebetes verborgen gehalten hatten, außer einigen Meixnerschen Christen, denen manchmal sogar etwas wie störrischer Hohn aus den Augen gefahren sei. Und weil man eine Wirkung brauchte, glaubte man die geheime Aufsässigkeit gern, obwohl der, welcher am meisten von diesem versteckten Glaubenshaß gesehen haben wollte, nur der Bäcker des Ortes war, ein Heulbeter, dem bei jeder andächtigen Rührung seines Gemütes die Augen naß wurden. Aber er behauptete standhaft, daß er deutlich gespürt habe, wie sich beim Anblick dieser ketzerischen Verstocktheit der Skapulierfleck auf seiner Brust rührte, so, als werde er von den entsetzten Händen eines Heiligen hin und her gerückt. Da faßten sich alle endlich wieder fest in dem frommen Abscheu vor solchen Glaubensabtrünnigen, die mit den Gebärden der Andacht nach der teuflischen Musik ihres böswilligen Herzens vor Gott und den Menschen einhergingen.

Freilich hatten die, welche keinen Eindruck der Papstworte auf die Querhovener gesehen hatten, so recht wie jene, die ein geheimes Widersetzlichkeitslauern an ihnen bemerkt haben wollten; denn in der Tat verhielten sich die meisten so, als rühre der Aufruhr der Entrüstung über Unglauben nicht ihre Schäden an. Sie gingen desselbigen Sonntags so geruhig, ganz unüberstürzt in ihr armes Dörflein zurück wie sonst, nicht zu beratenden Klumpen geballt, finster gebohrt, mit beißend bitteren Augen im Gesicht, sondern zu zweien und dreien, wie friedliche Neigung und der Zufall sie zusammengeführt hatten. Und doch trug jeder von ihnen, Mann oder Frau, ein Wissen um die Bedrängnis in sich, die nach diesem Tage noch schwerer auf ihnen lasten würde. Aber sie alle hatten in der Stille, noch während das Poltern der Anklage die Wölbungen der Kirche erfüllte, Gott die Sorge anheimgestellt, mit ihnen ganz nach seinem Willen zu walten und sie immer vor dem Unrecht zu bewahren, Haß mit Zorn, Verunglimpfung mit Schimpf und Verleumdung mit Ehrabschneidung zu beantworten: wußten sie doch, daß einzig ein reines Herz der Mittler zwischen Gott und Mensch sei, daß dieses Leben in all seinen Gestalten nur dann einen tiefen, köstlichen Sinn habe, wenn es im Lichte unserer ewigen Seele sich auswirke.

Und all ihr Kummer reichte nicht weiter, als ihr Antlitz auf einen Augenblick leidvoll anzuhauchen oder ein Weilchen den Blick auf die Seite über die Hügel hinaus fragend ins Pfadlose zu führen. Das geruhige Geplauder lag über den Kirchgängern wie das Flügelsummenlied geschäftiger Immen, bis ganz am Ende, dort, wo der Vanlyßender in Gesellschaft zweier anderer Grauköpfe ging, aus einem Häuflein Frauen erst zaghaft, dann immer herzlicher und freier, ein altevangelisches Lied aufklang. Und wie ein Funkensämlein, vom Winde aufgehoben und davongeführt, da und dort Flammen entzündet, bis der Weg, den es genommen hat, gleich einer einzigen Feuerstraße auflodert, so pflanzte sich die Melodie des heiligen Vertrauens von Gruppe zu Gruppe fort, daß nach kurzer Frist der Zug sich im Brausen des frommen Liedes bewegte. Da und da schied eine Gruppe aus dem Zug und wandelte singend ihrer Heimat zu, bis das Lied, nur noch von einigen Kehlen hochgehalten, hinter dem Waldriegel der Wuhle als Echo leiser und leiser aufklang und endlich in den Bäumen verstummte.

Und wenn man so sagen will, hatten diese einwärts gesunkenen Seelen das Glück, daß gerade in jenen aufgeregten Tagen unter verjährtem Gerümpel auf dem Boden des Vanlyßenderschen Hauses ein uraltes, halbzerlesenes »Geschriftlein« gefunden wurde, das sie in der felsenharten Gelassenheit gegenüber allen Bedrückungen ihrer Widersacher noch befestigte. Es war eine aus dem achtzehnten Jahrhundert stammende Neuausgabe des Büchleins »Von der wahren Liebe«, das der gelehrte Gottesfreund Hans Denk das erstemal 1527 hatte erscheinen lassen. Darin fand man fast Wort für Wort das Bekenntnis formuliert, zu dem die Querhovener allein auf den Anstoß halbvergessener Tradition durch ein versunkenes Ahnen geführt worden waren, und man fühlte in glückvollem Schauern über Jahrhunderte hin sich mit der Brüdergemeinde jener Zeit verbunden, »nicht mehr bloß eine ohnmächtige Stimme im Sturm, kein Zweiglein ohne Baum oder ein Lied, das noch nie ein Vogel auf dieser Erde gesungen hat«.

Dies waren die Worte, durch die der alte Vanlyßender nach einer Woche die stille Gemeinde mit diesem seligen Buche bekannt machte. Alle hatten sich an dem Abende in dem Rütschhause in der Wuhle versammelt, und der Greis erklärte da und dort aus eigenem Sinnen heraus die Meinung des längst verwehten Gottsuchers.

Die gesegnete Weihnachtswoche herrschte in der Welt, und während die Frommen den einfachen und klaren Worten ihres geliebten »Vaters« lauschten, hörte man durch die geschlossenen Fenster den Nachtwind leise in dem Schnee wühlen und dann und wann mit lauterem Aufblasen in die belasteten Kronen der Bäume fahren, daß eine Frau mitten in die Andacht mit dem Ausruf platzte: »Seid still, draußen gehen Leute ums Haus!«

Der Vanlyßender ließ das Büchlein mit der rechten Hand fallen, rückte die Brille über die Augenbrauen in die Stirn hinauf und lauschte gleich allen in das murmelnde Rumoren, mit dem das Wetter ums Haus wirtschaftete. Niemand hörte indes andere Laute als gedämpftes Windsausen und dann und wann den Fall von Schneelasten. Deswegen zog der Greis lächelnd die Brille wieder vor die Augen und fuhr, weil er gerade an einer Stelle angelangt war, die eine Ausdeutung verlangte, im Reden fort: »Der Glaube ist demnach weder eine Angelegenheit der Kirche noch auch des Staates. Die Religion geht allein von der reinen Seele des einzelnen Menschen zu Gott und wieder von Gott zurück. Wer es anders betreiben will, muß unweigerlich am Ende Gewalt anwenden und zur blutigen Hand kommen. Oder wie der Heiligenbauer gesagt hat: ›Der leibliche Bruder des Bekehrers ist der Totschläger.‹

Niemand überhebe sich also wegen seines Glaubens, denn wir können mit dem Finger unzählige Wege an dem Himmel weisen ...«

Bei diesen Worten schrie die vorige Frauenstimme wieder auf, aber diesmal angstvoll, und ehe der Vanlyßender sie zur Ruhe ermahnen konnte, stürzte sich ein großer Tumult auf das Rütschhaus zu, ein Fenster wurde eingestoßen und eingeschlagen, und viele verstellte Stimmen riefen herein:

»Ihr Träumer, hört auf zu leiern. Setzt euch zur Wehr, sonst jagt man euch von Haus und Hof.«

Dann stob es nach allen Seiten davon.

Als die Versammelten sich von dem Erschrecken erholt hatten und vor das Haus eilten, war alles schon wie ein Spuk in der Nacht verschwunden. Kein Ästeknacken lief durch den nahen Wald, kein Schritteknirschen in dem Felderschnee.

Alle wußten zwar, daß die wilde Störung von niemand als dem Meixnerschen Anhang verübt worden war, aber man hatte doch nicht einen erkannt, um ihn zur Rechenschaft ziehen zu können. Deswegen erhoben sich in der allgemeinen Aufregung, die nun entstand, Stimmen gerechter Empörung. Allein, Vanlyßender rief alle noch einmal in die Stube, schärfte ihnen Duldung und Wachsamkeit ein und entließ sie mit dem alten herzlichen Wunsche: »Gott blühe uns!«


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