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Sechsundfünfzigstes Capitel.

Der Freiherr hatte nur zu Recht gehabt, wenn er sagte, daß es in letzter Zeit sehr dunkel gewesen sei in seinem Hause.

Und doch hatte er, der so selten sein Zimmer verließ, und selbst wenn er einmal in der Familie erschien, eingesponnen war in seine eigene trübe, oft verzweifelte Stimmung, wohl nur das Wenigste von dem bemerkt, was um ihn her vorging. Er hatte nicht gesehen und nicht gehört, wie die Dienerschaft die Köpfe zusammensteckte und sich lange, unheimliche Geschichten erzählte; er hatte nicht die zahllosen Thränen gesehen, die Charlotte in ihrem einsamen Zimmer vergoß; er hatte nicht das heimliche Schluchzen gehört, mit dem die arme Amélie sich nur zu oft in den Schlaf weinte.

Charlotte hatte keinen Versuch gemacht, den Bruder in Bezug auf Walter umstimmen zu wollen. Sie hatte nur einmal über Walter mit ihm gesprochen, und das war schon am nächsten Tage nach der Katastrophe gewesen, als Walter an sie schrieb: er halte es für seine Pflicht, das Haus, das ihm heilig, zu meiden, nun, seitdem es auch dem Freiherrn kein Geheimniß mehr sei, daß er Amélie liebe und der Freiherr diese seine Liebe so streng verurtheilt habe; und daß er sie bitte, diesen seinen Entschluß dem Freiherrn mitzutheilen, an den er nicht selbst schreibe, weil er in der That dazu außer Stande, und doch nicht wünsche, daß dem Freiherrn auch nur einen Augenblick länger eine Erklärung vorenthalten werde, die er selbst vielleicht schon vor Jahren hätte machen müssen.

Charlotte hatte diesen Brief dem Bruder gegeben; er hatte denselben mit augenscheinlicher Erregung gelesen und ihn dann schweigend zurückgegeben.

Du billigst Walter's Entschluß? hatte Charlotte dann mit leiser Stimme gesagt.

Ich wüßte nicht, wie er jetzt nach dem, was geschehen ist, anders handeln könnte, hatte der Freiherr geantwortet.

Weiter war nichts zwischen den Geschwistern geredet worden; und was hätten sie sich auch sagen können, sie, die seit so langen, langen Jahren gelernt hatten, Eines in des Andern Seele zu lesen! Der Freiherr wußte, daß die Schwester in Amélie's und Walter's Vereinigung nun und immerdar die Erfüllung ihres höchsten Wunsches sehen würde; Charlotte wußte, daß es für den Augenblick vollkommen nutzlos sei, den Bruder mit einem Gedanken befreunden zu wollen, der seine aristokratischen Vorurtheile so grausam verletzte.

Und doch war Charlotte nicht ganz ohne Hoffnung für ihre geliebten Kinder. Der Bruder war schon so oft von Entschlüssen zurückgekommen, die er mit großer Heftigkeit für unerschütterlich ausgegeben hatte, und diesmal baute sie nicht blos auf den Wankelmuth seines Charakters, der ihr schon so viel Sorge und Kummer im Leben bereitet und ihr dafür auch wohl einmal etwas Gutes bringen konnte; sie baute noch viel mehr auf den Edelmuth seines Sinnes und die Güte seines Herzens, die noch jedesmal, wenn auch oft erst nach langem schwerem Kampfe, den Sieg über seine Launen und Vorurtheile davongetragen hatten. Und dann, er liebte ja Walter! Er wußte gewiß nicht, wie sehr er ihn liebte; es bedurfte vielleicht eines solchen Conflicts, damit er einsähe, was er an Walter gehabt, was er mit Walter verlieren würde. Wie oft hatte er es Charlotten gegenüber mit dankbarer Rührung ausgesprochen, daß ihm das Licht in Walter's treuen, blauen Augen wie ein Widerschein jener seligen Jugendzeit sei, als er im Ueberschwang von Lebenskraft und Lebensmuth mit Fritz Gutmann die Wälder von Tuchheim durchstreifte. Wie oft hatte er auf Walter hingewiesen, als auf das Muster eines jungen Mannes nach seinem Sinn! Wie oft hatte er vertraulich seine Hand auf Walter's Arm gelegt und war mit ihm, harmlos plaudernd, wie er es sonst mit Niemand that, in den Zimmern, in dem Garten auf und ab gegangen. Das Alles sollte er vergessen haben, sollte er auf immer vergessen können? Charlotte wollte, Charlotte konnte es nicht glauben.

So suchte sie sich selbst zu trösten, zu beruhigen, um ihre geliebte Amélie trösten und beruhigen zu können; und Amélie ihrerseits gab sich die größte Mühe, der geliebten Tante nur immer ein heiteres Gesicht zu zeigen.

Du sollst mich Deiner nicht unwürdig finden, sagte Amélie oft; Du bist im Leben so unglücklich gewesen, und bist so edel und gut – was hätte denn ich für ein Recht, zu murren und zu klagen!

Und Walter's Proceß, mein süßes Kind? Ich muß Dich darauf gefaßt machen, daß Walter verurtheilt wird, er selbst, Doctor Paulus, seine anderen Freunde geben seine Sache verloren; man will eben ein Opfer haben. Wirst Du auch das so geduldig hinnehmen?

Wie lange kann seine Haft dauern? fragte Amélie mit bebender Stimme.

Vielleicht nur ein paar Wochen, vielleicht auch ebenso viel Monate.

Und was sagt Walter?

Walter sagt, daß ein Sieg ohne Kampf kein Sieg sei, und ist überhaupt, wie immer, voll frohen Muthes und voll freudiger Hoffnung einer besseren Zukunft.

So will ich es auch sein, so bin ich es auch! rief Amélie, in ihrer Aufregung der Tante Hände leidenschaftlich küssend und mit Thränen benetzend.

Still, still, mein Kind, ich höre Silvia kommen. Du weißt, sie liebt es nicht, uns sentimental zu finden.

Charlotte sagte das wohl lächelnd, aber doch mit einer gewissen Hast, die keineswegs ganz unbefangen war.

Und dann, wenn Silvia wirklich in das Zimmer trat und ihren Platz am Fenster eingenommen hatte, erhielt das Gespräch eine andere Wendung, wenn es nicht ganz ins Stocken gerieth.

Das war früher nie geschehen; aber seltsamerweise schien Silvia diese Veränderung, die für die beiden anderen Frauen so schmerzlich war, kaum zu bemerken.

Was ist mit Silvia vorgegangen? Was geht mit Silvia vor?

So fragten die Blicke, mit denen Charlotte und Amélie an der schönen, stummen Gestalt im Fenster hingen; so fragten Charlotte und Amélie oft einander, und Keine wußte etwas, was die Andere über Silvia's Wesen hätte beruhigen oder aufklären können.

Wohin war Silvia's Munterkeit entschwunden? ihre sonnige Heiterkeit? ihr herzliches Lachen? wohin die Schlagfertigkeit ihres Witzes? wohin die kampffrohe Lust, die sie früher am Disputiren hatte? die schöne Freude an holder Wechselrede, die Niemand besser zu führen wußte, als sie? Einsilbig, ernst, schwermüthig wandelte sie jetzt durch den Tag, ohne eine Spur von Interesse für das, was sonst ihr Leben auszufüllen schien: an der Gesellschaft, an der Lectüre, an der Musik. Sie mied die Gesellschaft, selbst die Charlotten's und Amélie's, wo es irgend ging; sie, die oft stundenlang musicirte, hatte seit Wochen, seit Monaten keine Taste berührt, keines ihrer Lieder, die sie so bezaubernd zu singen wußte, angestimmt; sie las, las sogar sehr viel, aber es waren Bücher, Broschüren, die sie sich aus der Bibliothek des Freiherrn geholt, oder die ihr Leo dagelassen oder geschickt hatte, und niemals las sie dieselben in Gegenwart der beiden anderen Damen.

Und verändert wie ihre Beschäftigungen und ihr Wesen war auch ihr Aussehen. Um die herb geschlossenen Lippen spielte nie mehr das reizende Lächeln von ehemals; die großen, sonst so strahlenden, blauen Augen waren tiefer in die Höhlen gesunken und blickten wie durch einen Schleier von Melancholie, wenn sie nicht, was jetzt bei dem leisesten Widerspruch geschehen konnte, in Zorn oder Leidenschaft aufflammten; selbst ihr sonst so elastischer Gang war schleppend geworden, als sei sie des ewigen Kommens und Gehens müde, das doch nur immer in der Irre umher und nie zu einem Ziele führe.

Nicht, daß sie es an rücksichtsvoller Aufmerksamkeit gegen Fräulein Charlotte, an gefälliger Freundlichkeit gegen Amélie hätte fehlen lassen; aber allzu oft waren es nur die alten gewohnten Formen ohne den Geist der Liebe, der dieselben früher beseelt hatte. Was war aus dem Liebereichthum dieses Herzens geworden? Wie war es möglich, daß sie Charlotten's Sorge nicht zu ahnen, daß sie Amélie's Kummer nicht zu kennen, daß sie Walter's Fortbleiben kaum zu bemerken schien? Und auch an ihren alten Vater dachte sie kaum; sie sprach wenigstens jetzt sehr selten von ihm, und nie war sie auch nur mit einem Worte auf den Wunsch, nach Tuchheim zurückzukehren, den sie im Anfang des Winters wiederholt und mit Lebhaftigkeit geäußert hatte, je wieder zurückgekommen.

Charlotte und Amélie liebten Silvia viel zu innig, als daß das veränderte Wesen derselben irgend eine andere Empfindung, als tiefste Sorge und das herzlichste Mitleid hätte erwecken können, und auch hier war es wieder Charlotte, die, selbst des Trostes bedürftig, trösten mußte.

Ich habe es immer geahnt, daß eine solche Zeit in Silvia's Leben kommen würde, sagte sie; Silvia mußte einmal den Versuch machen, sich eine Existenz nach ihrem Bilde zu schaffen: eine Existenz, die ihr Raum giebt, die ungemessene Kraft ihres Kopfes und ihres Herzens frei zu entfalten. Ich habe diesen Moment kommen sehen, schon seit Jahren, und jetzt ist er da. Es ist eine Krisis in ihrem Leben, aber ich vertraue der Tüchtigkeit und Bravheit ihrer Natur. Sie wird einsehen, daß ihr Loos eben nur allgemeines Menschenloos; daß Keinem von uns vergönnt ist, sich nach allen Seiten auszuleben; daß uns in sehr vielen Fällen schlechterdings nichts Anderes übrig bleibt, als stumm zu resigniren.

Ich habe immer gedacht, wenn Silvia lieben könnte, ich meine, wenn sie Jemanden fände, den sie lieben könnte, so wäre Alles gut, sagte Amélie mit Lebhaftigkeit.

Charlotte lächelte.

Du, liebes Kind, denkst, daß Alle sich aus derselben Quelle Erquickung und neuen Muth des Lebens trinken müssen. Wenn uns das Schicksal nun nicht so gnädig ist. Wir müßten doch auch so unsern Weg durch's Leben finden. Und ich weiß nicht einmal, ob Silvia eine individuelle Liebe genügen könnte. Ideale Naturen, wie sie, streben immer in's Große und Ganze; und wenn ich hoffe und wünsche, daß sie lernen wird, zu resigniren, so will ich damit nicht sagen, daß sie nicht berechtigt ist, sich einen Wirkungskreis zu suchen, wo sie mehr arbeiten und schaffen kann, als sie es hier bei uns vermag. Ich habe oft schon gedacht, sie sollte sich als Schriftstellerin, als Künstlerin versuchen. Hat sie dann Erfolg, so kann sie in ihrer Weise glücklich, ja, ich möchte sagen, in ihrer Weise unglücklich sein; hat sie keinen Erfolg, so ist es immer noch besser, gekämpft zu haben und nicht zu siegen, als sich fortwährend sagen zu müssen: du würdest Großes leisten können, wenn dir nicht jede Gelegenheit, es zu beweisen, genommen wäre. Aber sieh' nur, wie der Kirschbaum dort in vollen Blüthen prangt! Ach, mein Kind, ich habe auch eine Sehnsucht im Herzen, und die ist: Dich, den Vater, uns Alle aus der Stadt zu bringen, zurück nach unserem Tuchheim, daß wir genesen von so Manchem, was uns hier drückt. Der Vater muß fort, er verkommt hier in einem Leben, das seiner Natur wie seinen Gewohnheiten widerspricht.

So unterhielten sich Charlotte und Amélie, während sie in dem langen, breiten Gange an der sonnigen Gartenwand unter den knospenden Bäumen wandelten und der Freiherr, Gram und Verzweiflung im Herzen, sich hinter den Gardinen seines Fensters verbarg, um nicht von ihnen gesehen zu werden. Sie waren kaum in's Haus getreten, als er herabkam, ihnen zu sagen, daß er nothwendig auf einige Tage, vielleicht auf einige Wochen, verreisen müsse. Eine Stunde später war er wirklich abgereist.

Und jetzt hatte Charlotte vollauf Gelegenheit, ihren Muth, ihre Seelenstärke zu beweisen. Es war nicht, daß der Bruder so plötzlich, so ohne alle Vorbereitung verreiste. Wenn er auch seit sieben Jahren keine größere Reise gemacht, ja kaum noch ausgefahren war, weshalb sollte er nicht einmal plötzlich genöthigt sein, zu verreisen? Auch war seine Miene beim Abschied viel heiterer gewesen, als in der ganzen letzten Zeit, und er hatte, wie er davonfuhr, freundlich mit Kopf und Hand genickt und gegrüßt – aber was war das für eine Geschäftsangelegenheit, die seine Gegenwart so gebieterisch in Anspruch nahm, in dem Augenblick, nachdem er mit Henri eine so heftige Unterredung gehabt, daß der alte Christian noch zitterte, als er dem gnädigen Fräulein davon in aller Eile erzählte? Und vor Henri war der Herr Leo dagewesen, und auch er hatte eine lange Unterredung mit dem gnädigen Herrn gehabt, und der junge Herr und Herr Leo hatten sich im Vorzimmer getroffen und sich mit so zornigen Blicken gemessen – ich sage Ihnen, gnädiges Fräulein, noch viel schlimmer, als sonst bei uns zu Hause, obgleich sie auch dazumal schon oft aneinander vorüberstrichen, wie zwei Hunde, die sich am liebsten zerreißen möchten.

Der alte Christian hatte das Alles so verwirrt berichtet, während er die Sachen des Herrn in die Koffer packte, und hatte dabei so recht angstvoll aufgeblickt und mit leiser, heiserer Stimme gefragt: Was giebt es denn eigentlich, gnädiges Fräulein? daß sich Charlotten's Herz in namenloser Angst zusammen krampfte.

Der Bruder war abgereist; die Nacht brach herein – eine lange, bange Nacht für Charlotte. In ihre Augen kam kein Schlaf. Sie sann und sann, und hoffte, wünschte, fürchtete; sie begleitete den Bruder auf seiner nächtlichen Fahrt, sie wußte kaum, wohin – an den Rhein – zu welchem Zwecke? Oder war es nur ein Vorwand? Wollte er – heiliger Gott, nein, das war nicht möglich! Er hatte ja freundlich gelächelt, als der Wagen davon rollte! Er konnte mit der Tochter, der Schwester nicht so gräßlich spielen, sie nicht so fürchterlich täuschen wollen. Er hatte sie ja nie getäuscht! Nie? und diese ganze letzte Zeit? wo offenbar so viel in seinem Kopfe, in seinem Herzen vorging, das er sorgfältig verbarg? War diese plötzliche Reise nicht blos das Ende all' der Heimlichkeit, in die er sich nun schon monatelang gehüllt hatte?

So kauerte die Schattengestalt der Sorge an Charlotten's Lager; so huschte die Sorge immer hinter der Aermsten her, während sie trostlos durch die großen, leeren Zimmer irrte. Endlich kam der Morgen und mit dem Morgen neue Hoffnung und neuer Muth. Was war denn so Bedenkliches geschehen?

Ich freue mich, daß der Vater so prächtiges Wetter zu seiner Reise hat; der Aufenthalt in der frischen Luft, der Wechsel der Umgebung, der Verkehr mit neuen Menschen, die Beschäftigung mit anderen Dingen – das Alles wird ihm gewiß wohlthun. Und wie lange hat er nun schon an den Rhein gewollt, den er Achtzehnhundertfünfzehn, als er aus Frankreich zurückkam, zum letztenmale gesehen hat. Es wird ihm die schöne Zeit seiner Jugend wieder in Erinnerung bringen; er wird wieder Freude am Leben gewinnen, er, der wie selten Jemand befähigt ist, die Schönheit der Welt zu empfinden.

Amélie stimmte der Tante mit Ueberzeugung zu. In der That sah sie, die von des Vaters Angelegenheiten so wenig wußte, diese Reise nur in dem allerbesten Licht, ja sie knüpfte daran die schönsten Hoffnungen für die Zukunft. Wenn der Vater nur erst so weit wieder kam, wie sonst zu lächeln und zu scherzen und mit den schönen, braunen Augen freudig in das Leben zu blicken, wie sollte er seine kleine Amélie ansehen können, und dabei wissen, daß sie unglücklich war – unglücklich durch ihn! Das konnte ja gar nicht sein.

Der Morgen verging; die warme Luft, der helle Sonnenschein, der blaue Himmel lockten in's Freie. Charlotte ließ anspannen und machte mit ihrer Nichte eine lange Spazierfahrt. Es war bereits ziemlich spät am Vormittage, als sie zurückkehrten. Charlotte hörte, daß Doctor Paulus dagewesen sei. Der Herr Doctor habe ein Billet für das gnädige Fräulein dagelassen.

Die frohe Zuversicht, die Charlotte von ihrer Spazierfahrt zurückgebracht hatte, war sofort wieder verschwunden. Sie öffnete mit zitternder Hand das Billet. Es lautete:

 

»Verehrte Freundin! Ich höre, daß Ihr Herr Bruder seit gestern Abend verreist ist, aber an den Rhein, nicht nach Tuchheim, wie man nach seiner heutigen Erklärung in den Zeitungen vermuthen sollte. Sie können sich denken, wie sehr es mich verlangt, Sie zu sprechen. Ich werde heute Nachmittag vier Uhr wiederkommen.«

 

Charlotte stand erstarrt. Also auch der kluge, umsichtige, immer muthige Mann war voller Unruhe, voller Sorge. Das konnte man nur zu gut den hastig mit Bleistift hingeworfenen Zeilen ansehen. Und was war das für eine Erklärung, die der Bruder in die Zeitungen hatte rücken lassen?

Sie griff nach den Morgenblättern, die auf dem Tische lagen. Sie suchte und konnte es nicht finden, und doch mußte es darin stehen. Und hier war es!

Charlotte war so verwirrt, daß sie kaum verstand, was sie las. Sie mußte mehr als einmal absetzen; endlich begriff sie, daß ihr Bruder in der Arbeiterangelegenheit, die jetzt so viel von sich sprechen machte, eine in den schärfsten Ausdrücken abgefaßte Erklärung erlassen hatte, in der er sich ganz auf die Seite der Arbeiter stellte und sich von dem »Aussaugungs- und Bedrückungssystem der Fabrikherrn« feierlich lossagte.

Das also war es! Die gespenstische Sorge, von der sie heute Nacht verfolgt worden war, hatte Form und Gestalt angenommen. Der Bruder hatte mit dem Schwager unwiderruflich gebrochen. Der Kampf, der schon lange hereindrohende Kampf, hatte begonnen – für den Bruder, der mit für seine Verhältnisse ungeheuren Summen engagirt war, ein Kampf auf Tod und Leben.

Charlotten fiel das Blatt aus der Hand. Eine kleine Weile blieb sie gesenkten Hauptes stehen; sie konnte nichts fühlen, nichts denken; dann stieg die Lebenswelle wieder auf aus dem tiefsten Grund der Seele, und Charlotte erhob das Haupt, nahm das Blatt abermals und las die Erklärung ruhig, aufmerksam, genau. Sie wußte nun, was sie zu thun hatte.

Sie hieß den Wagen wieder vorfahren und unterrichtete Amélie, die, eben ein Sträußchen Frühlingsblumen in der Hand und die Wangen noch von der Spazierfahrt geröthet, in's Zimmer trat, von dem, was geschehen war. Du mußt es doch einmal erfahren, so ist es besser jetzt als später.

Die erbleichende Amélie wollte die Tante nicht allein lassen, aber Charlotte lehnte ihre Begleitung entschieden ab. Ich habe manche Besuche zu machen, auf denen Du mich nicht wohl begleiten kannst.

Amélie mußte sich darein finden; Charlotte stieg in den Wagen, der vor dem Hause hielt, und befahl, zu Herrn von Sonnenstein zu fahren.


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