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Dreiundvierzigstes Capitel.

Aber weshalb waren Sie gestern nicht im Handwerkerverein? fragte Herr Rehbein von seinem Zuschneidetische aus, als Walter an einem der nächsten Morgen, bevor er zur Schule ging, einen Augenblick in seines Wirthes Werkstatt vorsprach.

Ich mußte die letzten Correcturbogen machen, erwiederte Walter, indem er sich in Herrn Rehbein's Nähe auf den Tisch setzte.

Keine Entschuldigung, keine Entschuldigung! rief Rehbein, eifrig messend und schneidend; Gottesdienst – siebenundzwanzigdreiviertel – geht vor Herrendienst – achtzehneinhalb – die Aermellöcher müssen ausgeschnitten werden, Leuthold, und die Knöpfe sind näher aneinander zu rücken, Leuthold! der Kerl kommt ja sonst nicht hinein – ich meine, Doctor, man muß das Eine thun und das Andere nicht lassen! Ich hätte Ihnen nachher bei der Correctur geholfen, und Sie könnten mir dafür jetzt helfen, mir die verdammte Rede auf den Leib zu passen, die mir nirgends so recht sitzen will.

Was für eine Rede? fragte Walter.

Was für eine Rede? wiederholte der Meister, indem er die Scheere für einen Moment sinken ließ; fallen Sie denn aus dem Monde, Walter? Haben Sie nicht von der Rede gehört, die Ihr Vetter vorgestern im Arbeiterverein gehalten hat? und von der heute alle Blätter Referate bringen? Ich sage Ihnen, Walterchen, er hat geredet, daß Moses auf dem Sinai ein Lehrjunge dagegen ist; zwei Stunden lang, meisterhaft – aber die Sache, Walterchen, die Sache, der Gehalt, meine ich, die Idee, die paßt mir nicht, Walterchen, paßt mir nicht; 's ist Flickwerk – er mag sagen, was er will, und hält nicht! bloßer Kettelstich – ritsch! da saß die Naht – die ist auch nicht viel besser, Klapproth; die haben Sie mit Staatssubvention genäht – nähen Sie nur auf eigene Rechnung und Gefahr noch einmal!

Walter wünschte zu wissen, was denn diese Rede Leo's eigentlich behandelt habe; aber Rehbein behauptete, das in solcher Eile nicht auseinandersetzen zu können. Kommen Sie, wenn wir Feierabend gemacht haben, zu mir, sagte er; oder ich komme zu Ihnen, da können wir uns in Ruhe darüber aussprechen; so viel kann ich Ihnen schon sagen, das kommt davon, wenn Einer sich nicht praktisch um die Sache bekümmert, sich mit dem Handwerk und dem Handwerker nicht vertraut macht; und hat er wohl in den drei Monaten, die er bei uns wohnt, je die Nase in meine Werkstatt gesteckt? oder sich von mir über die hiesigen Handwerkerverhältnisse unterrichten lassen? Hut ab vor dem Genie, und allen Respect vor den Büchern! aber Genie und Bücher sind nur Kopf und Hand, und Nadel und Scheere – aber das Zeug, Walterchen, das Zeug, das zugeschnitten werden soll, das ist das praktische Leben, Walterchen, das praktische Leben!

Walter mußte zur Schule, und es wurde ihm heute nicht leicht, seine Stunden mit der gewohnten Gründlichkeit zu geben; das Schicksal seines Romans, der nun im Druck vollendet war und in wenigen Tagen mit seinem vollen Namen auf dem Titelblatte ausgegeben werden sollte, bewegte ihn: die Seele und ließ ihm die pomphaften Phrasen, mit denen der gute Cicero den bösen Catilina überschüttet, ziemlich interesselos erscheinen. Dann dachte er wieder an Leo's Rede, die er versäumt und über die er noch auf dem Wege in die Schule ein Referat in einer liberalen Zeitung gelesen hatte, das Rehbein's Urtheil vollkommen bestätigte. Ein ganz außergewöhnliches Talent – staunenswerthe Gelehrsamkeit – aber Verkennung der praktischen Verhältnisse, Experimentiren mit socialistischen Systemen, deren Gemeinschädlichkeit nun schon des Oefteren erprobt sei.

Dergleichen Urtheile über seinen Vetter hörte Walter heute nicht zum erstenmale, und, was das Schlimmste war, er konnte nicht anders, als im Guten und Bösen dies Urtheil zu dem seinen machen. Er zweifelte keinen Augenblick an Leo's Redlichkeit; aber die Verschiedenheit ihrer Anschauungen in Beziehung der Mittel, durch welche man zu den Zielen gelangen könne und müsse, trat doch immer offener zu Tage. Das that ihm herzlich leid, denn er liebte Leo und wünschte innig, daß der, welchen er so hoch hielt, mit dem ihn die Bande des Blutes und tausend liebliche Erinnerungen der Kindheit verknüpften, ihn auch ein wenig wieder liebe; aber die Erfüllung dieses Wunsches hatte jeder Tag ihres Zusammenseins in weitere und weitere Ferne gerückt. Leo schien der Freundschaft, der traulichen Mittheilung, des gemütlichen Verkehrs, der Liebe nicht zu bedürfen.

Frau Rehbein hatte es erfahren; sie war durch die kalte Höflichkeit, mit welcher Leo ihr unausgesetzt begegnete, halb zu Tode geängstigt. Sie meinte es doch gewiß gut, und wenn sie auch, Walter zu Liebe, sich aus dem gestickten Paradiese ihrer Putzstube und der beseligenden Nähe der Bilder ihres angestammten Herrscherhauses mit Freudigkeit verbannt hatte – ein Opfer war es immer, und es stritt in ihrer Meinung gegen alles menschliche Gefühl, der Anerkennung eines solchen Opfers keinen Ausdruck zu geben. Das hatte Leo nie gethan – ja, was vielleicht noch schrecklicher war, er schien nicht einmal für Vergeßlichkeiten, wie sie auch der sorgsamsten Wirthin je zuweilen passiren können, eine Empfindung zu haben. So war es vorgekommen, daß sie ihm einmal Abends keine Lichter hingestellt, an einem anderen Abend nicht eingeheizt hatte – er war das einemal im Dunkeln zu Bett gegangen und hatte das anderemal in der eiskalten Stube, wie ihr Walter nachher mittheilte, die halbe Nacht hindurch gearbeitet. Frau Rehbein überkam ein Grausen vor diesem seltsamen Menschen; ja sie fing an darüber zu grübeln, ob Leo überhaupt ein Mensch, oder nicht vielmehr einer jener Abgesandten des Bösen sei, von denen ihr Schwager, der Consistorialrath Urban, in seinen berühmten Predigten so viel zu berichten wußte.

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Eines Tages wurde ihr durch Walter die Mittheilung gemacht, daß Leo ausziehen werde – freiwillig, muthwillig, frevelhaft aus ihrem gestickten Paradiese ausziehen werde. Ja, dies war – wenn es nicht ein Scherz sein sollte – ein Frevel! Sie kannte in der Nachbarschaft bereits fünf Handwerkerfamilien, die gar keinen Arzt hatten, und eine Straße, in welcher Scharlach und Bräune so grassirten, wie in ihrer Straße, gab es in der ganzen Stadt nicht. Wo in aller Welt hatte ein junger Doctor so viel Aussicht zu lohnender Praxis? Walter und auch Herr Rehbein, der dazu kam, waren ebenfalls der Ansicht, daß Leo in der That in ihrem Quartier die vortrefflichsten Chancen habe; aber trotz Walter's Abmahnung, Herrn Rehbein's verständigen Vorstellungen und Frau Rehbein's schweigender Indignation stand Leo's Entschluß fest. Noch bevor der frühe Winterabend hereinbrach, war das gestickte Paradies von seinem undankbaren Bewohner verlassen.


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