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Neunundvierzigstes Capitel.

Vor Leo's Augen schwebte, als er aus dem Flur in die dunkle Nacht trat, noch das schöne, helle Bild. Aber bald verwischte es die Erinnerung der Scenen im Sonnenstein'schen Hause. Es war der Anfang des Endes seines guten Vernehmens mit der liberalen Partei gewesen. Zwar hatte sich Doctor Paulus diesmal wie stets mit aller Entschiedenheit gegen die Concessionen erklärt, die man der Partei des Prinzen zu machen gedenke, aber auch er hatte von einer weiteren Verbreitung des Briefes nichts wissen wollen, da er sich nicht zu dem Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, zu bekennen vermöge. In einer Zeit, wo Tyrannei und Willkür, Verrath und Meineid in den regierenden Kreisen fast unumschränkt herrschten, sei es sich die liberale Partei doppelt und dreifach schuldig, ihre Hände rein zu erhalten. Nur so könne sie ihren Einfluß auf das Volk, der, er gebe es zu, in beklagenswerther Weise abgenommen habe, wiedergewinnen. Daß der Prinz trotz alledem ein eingefleischter Reactionär sei, lasse sich dem Volke auch ohne aufgefangene und unterschlagene Briefe klar machen.

Und mit diesen Phrasen, knirschte Leo in sich hinein, suchen sie ihr schlechtes Gewissen zu salviren. Sie scheuen vor jedem entscheidenden Schritt zurück. Sie wollen nicht ehrlich mit dem Volke gehen, so müssen wir über sie hinweg. Sie müssen in ihrer Selbstsucht, in ihrer geschwätzigen Ohnmacht an den Pranger gestellt werden. Schlimmer, als es jetzt ist, kann es nicht werden, denn was ist schlimmer als der hohle Schein, der sich trügerisch über die nackte Wahrheit deckt? Und die Wahrheit ist, daß das Volk verhungert, daß ungeheure Reformen nothwendig sind, um die furchtbaren socialen Uebel zu beseitigen, und daß jene Geldsäcke und Tugendschwätzer nicht helfen wollen und nicht helfen können.

In solchen Gedanken verloren, bemerkte Leo nicht, daß die verhüllte Gestalt, welche vorhin an ihnen vorüberstrich, ihm wiederum gefolgt war, bis er an einer der nächsten Straßenecken das Rascheln eines Gewandes dicht hinter sich hörte. Er wendete sich um. Die Gestalt blieb ebenfalls stehen und schlug den Schleier zurück. Es war Eve.

Verzeihen Sie, Herr Doctor, sagte sie mit einer Stimme, die vor Eile oder Aufregung zitterte, ich war an Ihrer Wohnung, um Sie zu meiner Tante, die plötzlich heftig erkrankt ist, zu rufen. Ich hörte, daß Sie bei Sonnensteins seien. Ich begab mich dorthin und traf Sie gerade, als Sie mit einer Dame das Haus verließen; ich wagte nicht, Sie zu stören, und so bin ich Ihnen bis hierher gefolgt.

Eine Nachtdroschke kam vorüber. Leo rief den Kutscher an, nöthigte Eve einzusteigen und setzte sich zu ihr. Als er ihre Hand berührte, fiel ihm die Kälte derselben auf, und er dachte flüchtig an die warme Hand, die er noch soeben in der seinigen gehalten. Er fragte Eve, was der Tante fehle. Ob es die Kopfschmerzen seien, an denen sie, wie er wüßte, häufig litt? Eve erwiederte, sie glaube ja, aber der Anfall sei diesmal so sehr heftig, sie habe sich in ihrer Angst nicht zu helfen gewußt.

Sie selbst scheinen krank, liebe Eve, sagte Leo; Ihre Hand ist kalt, und Ihr Puls geht fieberhaft. Eve antwortete nicht, aber sie ließ ihm ihre Hand, und Leo glaubte einen leisen Druck zu verspüren. Bald darauf langten sie an dem Palais an. Eve schloß die Hausthüre auf und führte Leo durch das Wohnzimmer, in welchem eine Lampe brannte, in das Gemach nebenan, wo die Kranke stöhnend und wimmernd im Bette lag.

Leo überzeugte sich bald, daß sich der Zustand der Frau Lippert in der That nicht wesentlich von den früheren Anfällen der Art unterschied. Er verordnete einen kühlenden Trank, den Eve selbst in der nahe gelegenen Apotheke holen wollte. Leo blieb unterdessen am Bette sitzen.

In dem weiten Zimmer herrschte eine trübe Dämmerung, so daß die entfernten Gegenstände in dem Dunkel verschwammen. Eine Stutzuhr, die irgendwo aufgestellt war, tickte unheimlich laut durch die tiefe Stille; von Zeit zu Zeit ächzte die Kranke. Dann fing sie in gebrochenen Worten an zu phantasiren von kühlen Wiesengründen, durch die sich klare Bäche unter Erlen und Weiden schlängelten, von schattigen Wäldern, durch deren Wipfel erfrischende Winde rauschten. Dann weinte sie heftig und immer heftiger: sie habe ja nichts verbrochen; das Kind sei todt gewesen; weshalb man sie so schlecht behandle? weshalb sie ganz verlassen sterben solle? weshalb denn Niemand Mitleid mit ihr habe?

Leo drückte der Fiebernden die naßkalten Tücher, die er ihr bereitet hatte, fester auf die Stirn; das schien ihr wohl zu thun; sie weinte leiser und leiser; es gebe doch noch Engel, die sich ihrer erbarmten; ganz gewiß müßten es Engel sein, denn bei den Menschen sei kein Erbarmen.

Wovon sprach die Frau? Was war das für ein Kind, das gestorben war und für das sie ihr Leben lang büßen mußte? Ferdinand war nicht Herrn Lippert's Sohn; Leo hielt das, nachdem er die Personen und Verhältnisse im Lippert'schen Hause genau kennen gelernt hatte, für sehr wahrscheinlich; aber, wenn er auch der Sohn des verstorbenen Ministers war – er lebte ja doch! Hatte die Aermste der Kinder mehrere gehabt? Es gab ein Geheimniß in dieser Familie, das aus der dumpfen Stille der Wohnung, aus dem gekniffenen Lächeln des Herrn Lippert, aus dem scheuen Blick der Frau, aus des Sohnes wüstem Leben hervorschaute. Das Gespenst irgend einer bösen Erinnerung, das am hellen Tage fast sichtbar durch die großen, niedrigen Zimmer schwebte, mußte jetzt in der stillen, dunklen Nacht um das Lager der Kranken kauern, denn plötzlich fing sie wieder an zu jammern und zu rufen, man solle ihr das Kind nicht nehmen, es sei ja doch ihr eigenes Kind, sie wolle es auch gewiß nicht tödten, sie wolle es so gut pflegen und keinem Menschen damit lästig fallen.

Eve kam mit der Medizin zurück; Leo flößte der Patientin davon ein; sie wurde ruhiger und neigte den Kopf auf die Seite, als ob sie nun schlafen könne. Leo blieb noch eine Zeit lang am Bette sitzen, dann stand er auf und sagte zu Eve, die ihm in die Wohnstube gefolgt war, er könne für den Augenblick nichts weiter thun, überdies sei der Anfall im Abnehmen, die Nacht würde voraussichtlich ruhig vergehen, er wolle morgen wiederkommen.

Sie standen sich am Tische gegenüber. Eve blickte starr in sein Gesicht; sie mußte nicht wohl gehört haben, was er gesagt, denn sie antwortete ganz verworren. Leo trat an sie heran und sagte, ihre Hand nehmend: Und auch Sie, liebe Eve, legen sich zu Bett, sonst habe ich morgen hier zwei Patienten statt eines.

Eve behielt seine Hand in der ihrigen und sagte:

Bleiben Sie doch noch ein wenig; es ist noch nicht so spät, und es ist schauerlich einsam hier.

Leo legte den Hut wieder hin und setzte sich neben Eve an den Tisch, auf dem ihre Näharbeit lag. Eve nähte jetzt sehr viel, seitdem Leo einmal geäußert, er möge die Frauen nicht, die nur immer Bücher in der Hand hätten, aus denen sie schließlich doch nichts Ordentliches lernten.

Sie sehen, sagte sie, auf die Näharbeit deutend, ich befolge Ihren Wunsch, aber nun müssen Sie mich auch die Kunst lehren, meine Lage so vollständig beim Nähen vergessen zu können, wie ich es beim Lesen vermag.

Müssen Sie sich so selbst vergessen? fragte Leo zerstreut.

Und das fragen Sie? erwiederte Eve in vorwurfsvollem Tone; Sie?

Ich meine, wird Ihnen das so schwer? – Aber mein Gott, Eve, was ist Ihnen denn? fuhr Leo fort, als Eve zu weinen anfing und ihr Tuch gegen die Augen drückte. Was haben Sie? Sie sind nervös aufgeregt! Sie sollten zu Bett gehen, liebe Eve.

Lassen Sie mich! rief das Mädchen, indem sie seine Hände zurückwies; Sie sind gerade so gefühllos wie die Anderen! Sie! Sie können mich fragen, ob ich mich selbst zu vergessen habe, ob es mir schwer wird, mich selbst zu vergessen! Und ich glaubte an Ihre Freundschaft!

Leo suchte die Aufgeregte zu beruhigen, und es gelang ihm nach einiger Zeit. Das leise Weinen des schönen Mädchens, dessen volles Haar er mit leiser Hand streichelte, die lauschige Stille des Zimmers, die nächtliche Stunde – Leo sprach milder und weicher, als es wohl sonst seine Gewohnheit war. Eve trocknete sich die Thränen und sagte: Ich glaube, daß Sie es gut mit mir meinen, ich muß es glauben, ich weiß nicht, was aus mir werden würde, wenn ich es nicht glauben könnte: aber wie wenig wissen Sie, was mich drückt, was ich leide! Sie selbst finden, daß die Kräfte der Tante in der letzten Zeit sehr abgenommen haben – und wenn sie stirbt, was soll aus mir werden? Sie ist die Einzige, zu der ich Vertrauen habe, wenn ich sie auch nicht liebe. Zu dem Onkel habe ich kein Vertrauen, kann ich kein Vertrauen haben. Ich kann selbst Ihnen nicht Alles erzählen, aber der Onkel ist nicht gut – er ist nur vor den Augen der Leute so heilig, aber wenn wir allein sind, ist er ein anderer Mann. Und dann geht er alle Abend in's Wirthshaus und kommt manchmal sehr spät nach Haus, und wenn er nach Haus kommt, führt er so schlimme Reden und mißhandelt die Tante; o, er ist nicht gut, der Onkel! zu wem soll ich also meine Zuflucht nehmen? zu meinem Bruder? Wo ist mein Bruder? Ja, ich möchte fragen, wer ist mein Bruder? Ich weiß es heute so wenig, wie damals, als wir uns zuerst trafen – wissen Sie noch, Leo? in der kleinen Stube in Tannenstädt? Wissen Sie wohl noch? Ist es doch fast heute so, wie in jener Nacht! Meine Mutter lag krank im Bette, wie jetzt meine Tante, und wir saßen nebeneinander an dem Tische, gerade wie jetzt. Ach! Leo, und Sie waren so schön mit Ihren dunklen Augen und den wirren Locken und dem blassen Gesicht! Ich hatte so etwas Schönes noch gar nicht gesehen, und ich glaube, ich sagte es Ihnen auch, denn ich war damals ein wildes, unbändiges Ding und machte aus meinen Empfindungen kein Geheimniß, wie ich es seitdem gelernt habe. Sie aber, Sie waren damals schon so kalt und klug wie jetzt, gelt, Leo?

Ein bezauberndes Lachen schwebte um Eve's üppige Lippen, während sie sich näher zu Leo beugte und ihm mit den grauen, feuchtglänzenden Augen tief in die seinen sah.

Sie irren sich, liebe Eve, erwiederte Leo, ich war damals ein heißblütiger, leidenschaftlicher Knabe, und Ihr Bild hat mich lange verfolgt. Es war nicht meine Schuld, daß ein rauhes Geschick mir die frischen Blüthen meiner Jugend so bald und so grausam zerstört hat; es ist nicht meine Schuld, wenn ich im Laufe der Jahre kalt und klug geworden bin, wie der wohl sein muß, der sich in einen Kampf mit dieser Welt einläßt. Aber wir wollen nicht von mir sprechen, Eve. Es handelt sich um Ihr Schicksal, und verzeihen Sie mir, ich glaubte in letzterer Zeit, es würde sich mit dem Ferdinand's auf immer verknüpfen.

Eve zuckte zurück, als Leo diese Worte sprach. Sie glaubten, glaubten das wirklich? murmelte sie. O, wie schlecht, wie schlecht kennen Sie mich doch!

Sie stützte ihre Stirn in die Hand. Leo konnte den Ausdruck ihres Gesichts nicht erkennen, aber er sah, wie ihr Busen heftig wogte, und er dachte an das Entzücken, mit dem Ferdinand von Eve's Schönheit in einer ähnlichen Situation gesprochen hatte.

Ich habe Sie nicht kränken wollen, liebe Eve, sagte er sanft.

Eve verharrte noch in derselben Stellung, nur daß die Hand, auf die sie ihr Haupt stützte, jetzt ebenfalls zu zittern begann. Leo wiederholte seine letzten Worte, indem er dabei Eve's andere Hand, die in ihrem Schoße lag, zu erfassen suchte. Eve zog dieselbe hastig zurück.

Sie haben mich nicht kränken wollen, murmelte sie, aber Sie haben mich gekränkt, und doch, ich kann es Ihnen nicht übel nehmen, Sie kennen mich ja nicht. Sie sollen mich kennen lernen, Sie müssen mich kennen lernen, ich bin verloren, wenn ich Sie nicht in mein innerstes Herz sehen lasse. Hören Sie: Ferdinand wird nie mein Gatte werden. Wenn ich heirathe, einen Mann heirathe, der mir für die Freiheit, die ich ihm opfere, nicht Reichthum und Stellung bieten kann, so muß ich ihn grenzenlos lieben. Ich liebe Ferdinand nicht; ja er ist, trotz seiner Schönheit, nicht einmal meinen Sinnen gefährlich. Wenn ich in solche Schlingen fallen könnte, müßte ich schon längst gefallen sein. Es werden mir viele Schlingen gestellt, Schlingen, Leo, denen andere Menschen in meiner Lage und mit meinen Leidenschaften vielleicht nicht entgangen wären. Ich habe Leidenschaften, Leo, und ich liebe den Glanz und die Macht. Der Gedanke, mich weit zu erheben über die Anderen meines Geschlechts, das Elend meiner Jugend in schwelgerischem Ueberfluß zu vergessen – dieser Gedanke, Leo, hat etwas Berückendes für mich. Und die Versuchung ist an mich herangetreten, Leo; eine ungeheure Versuchung, der ich unterliege, wenn Sie mich nicht retten.

Eve hatte sich bei den letzten Worten von ihrem Stuhl herab zu Leo's Füßen gleiten lassen. Ihr Haupt lag auf seinen Knieen. Leo versuchte sie aufzurichten. Nein, nein, murmelte sie, laß mich, laß mich so! Das ist der Platz, an den ich hingehöre.

Leo befand sich in der seltsamsten Stimmung. Er hatte Eve zu genau beobachtet, er hatte aus Ferdinand's Munde zu viel über sie gehört, als daß er sie noch eines echten Gefühls hätte für fähig halten sollen. Und jetzt war ihm, gewohnt wie er es war, in einer Unterhaltung den logischen Faden genau zu verfolgen, keiner der feinen Uebergänge entgangen, deren sich Eve, um auf diesen Schluß zu kommen, bedient hatte. Der Verdacht, daß Eve in diesem Augenblick, gleichviel mit einer wie großen oder kleinen Beimischung von Empfindung, einen wohlberechneten Plan gegen ihn ausführe; die Ueberlegung, daß sie ihn in diese Situation hineingezwungen, ihm gewissermaßen die Freiheit der Entschließung genommen habe – es regte die Herrschsucht seiner Natur auf, und jene vielerprobte Kraft, Alles, was sich ungerufen an ihn drängte und ihm den Weg zu kreuzen versuchte, mitleidslos von sich zu weisen.

Stehen Sie auf, Eve, sagte er; ich dachte, wir wollten uns einander gegenseitig aufklären, nicht, wie wir es jetzt thun, in unauflösliche Räthsel stürzen.

Eve erhob sich und trat rasch ein paar Schritte zurück. Der Ausdruck ihres Gesichtes war gänzlich verändert; ihre Züge waren starr, nur um ihren Mund zuckte es, und ihre Augen glänzten in einem unheimlich kalten Licht.

Also doch! rief sie heftig, also doch das hoffärtige, eitle Geschöpf, die naseweise Försterdirn, die ist es, die Sie lieben! Nun, ich gratulire! Ich gratulire von ganzem Herzen! – und Eve brach in das kurze, rauhe Lachen aus, das Leo seit jenen Jugendtagen nicht wieder von ihr gehört hatte.

Die Kranke nebenan stöhnte.

Nehmen Sie wenigstens Rücksicht auf Ihre Tante, sagte Leo rauh; dann setzte er freundlicher hinzu: Sie sind sehr erregt; Eve, in solcher nächtlichen Stunde treiben die Dämonen ihr Spiel mit uns. Wir werden morgen Beide ruhiger sein. Leben Sie wohl, Eve.

Eve starrte ihn noch immer an; ihre zitternden Lippen murmelten etwas, das Leo nicht verstand, dann wendete sie sich von ihm und eilte in das Nebengemach, wo die Tante lag.

Und ich hätte ihr beinahe geglaubt, sagte Leo zu sich selbst, als er auf der Straße stand und noch einen Blick nach dem Palais warf, dessen plumpe Masse wie ein finsteres Geheimniß in die Nacht emporwuchs.


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