Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzigstes Capitel.

Einige Wochen später – der Winter ging bereits zur Rüste, und der Frühling schaute durch die jagenden Wolken manchmal schon ganz dreist mit blauen Augen hernieder auf die Erde – saß Frau Rehbein eines Abends in ihrem behaglichen, mitten zwischen der Werkstatt und der Putzstube gelegenen Wohnzimmer. Es ging auf neun Uhr, die Stunde, in welcher Herr Rehbein, wenn er nicht abgesagt hatte, aus seiner bescheidenen Bierstube oder aus einem seiner zahlreichen Vereine nach Hause kam, mit seiner Frau den Thee zu trinken. Die Minuten des Wartens an dem wohlversorgten Theetisch pflegte Frau Rehbein der Lectüre zu widmen; es sei dies ihre einzige freie Zeit, behauptete sie.

Ob seine Frau wirklich lese, oder ob sie es sich nur einbilde, darüber konnte der würdige Meister niemals recht mit sich in's Klare kommen. Es war ihm kein einziger Fall bekannt, aus dem mit Sicherheit der Einfluß irgend welcher Lectüre auf ihre Denkart hätte nachgewiesen werden können, und so viel stand fest, daß er sie noch jedesmal, so oft er hereintrat, über ihrem Buche in ihrem Lehnstuhl eingenickt gefunden hatte. – Es, geht mir eigen, pflegte Frau Rehbein entschuldigend zu sagen, wenn ich ein Buch recht liebgewinnen soll, muß ich erst ein paarmal darüber eingeschlafen sein.

Aber heute schlief sie nicht; sie las, las sehr eifrig; die runden, gutmüthigen Augen starr durch die große Hornbrille auf das Buch gerichtet, das sie dicht neben der Flamme der Lampe etwas von sich entfernt hielt, unter fortwährender, langsamer Bewegung der dicken Lippen. Rehbein würde erstaunt, ja erschrocken gewesen sein, hätte er seine Gattin so gesehen; aber freilich war das Buch, das im Stande war, so die Gewohnheit eines langen Lebens umzustoßen, ein Buch ganz besonderer Art.

Frau Rehbein hatte einen speciellen Theil an diesem Buche; einen specielleren als alle anderen Menschen, behauptete sie. Sie hatte es entstehen sehen, Seite um Seite, wenn sie des Morgens, nachdem Walter zur Schule gegangen war, jedes der auf dem Tisch herumgestreuten Blätter mit irgend einem Gegenstand beschwerte, damit Walter beim Nachhausekommen Alles so wiederfand, wie er es verlassen hatte. Sie hatte Walter hundertmal über diese Blätter gebeugt sitzen sehen, wenn sie ihm am Abend den Thee brachte; sie hatte oft genug, wenn sie in der Nacht aufwachte und Alles im Hause still war, dumpfe Schritte gehört und gewußt, daß es Walter war, den sein Buch einmal wieder nicht schlafen ließ. Daß dieses Buch, sozusagen, das Buch der Bücher und so groß wie die größte Bibel oder die dicken Lexika, die zu ihrem Jammer immer auf den Stühlen herumlagen, werden müsse – das hatte die gute Frau sich nach und nach fest eingeredet, und sie war deshalb nicht wenig enttäuscht gewesen, als ihr Walter vor einiger Zeit ein paar mäßig große, zierlich gebundene Bände in die Hände legte.

Indessen: es war doch das Buch, das erwartete Buch! da stand es mit ordentlich schauerlich großen Lettern auf dem Titelblatte, und, wenn ja noch ein Zweifel übrig blieb, so war auf dem Schmutzblatte in Walter's eigener Hand zu lesen, daß der Verfasser dieses Exemplar in dankbarer Gesinnung seiner lieben Frau Rehbein gewidmet habe. Das gute Geschöpf weinte helle Freudenthränen, als sie das las, und jedesmal, wenn sie am Abend das Buch aufschlug, weilten ihre Augen einige Minuten lang mit zärtlichem Ausdruck auf den paar einfachen Zeilen.

Es ging nicht eben schnell mit der Lectüre. Frau Rehbein's Gewohnheit war es niemals gewesen, sich beim Lesen zu übereilen, und bei diesem Buche wäre es nun gar Frevel gewesen. Und dann war es zum Theil doch auch schwer verständlich, so daß man Manches zwei-, dreimal und auch öfter lesen mußte, und darüber hatte man wieder vergessen, wie die Heldin mit ihrer Mutter in Streit gerathen war, und man entschloß sich, lieber beim Capitel zwanzig noch einmal anzufangen. Indessen das that nichts. Frau Rehbein hatte Zeit; sie hatte um diese Stunde nichts zu versäumen.

So saß sie denn heute Abend und las und las; die Brille glitt immer tiefer auf die kleine, stumpfe Nase, die dicken Lippen bewegten sich immer eifriger, das Theewasser kochte über – sie achtete nicht darauf, sie hörte nicht, daß draußen auf dem halbdunklen Flur Jemand an allen Thüren herumhuschte und endlich auch auf den Drücker der Thür faßte, die zu ihrer Stube führte. Sie hörte und sah nichts, bis die Eingetretene dicht vor ihr stand und einige Laute ausstieß, die halb ein verlegenes Husten, halb ein unterdrücktes Weinen waren, durch das man das Wort »Lieschen« nur eben hindurchhören konnte.

Frau Rehbein fuhr erschrocken in die Höhe, warf einen ängstlichen Blick über die Hornbrille auf den Eindringling, stieß dann einen Schrei der Ueberraschung aus, der ungefähr wie »Jettchen!« klang, und breitete die Arme aus, in die sich die Andere mit ängstlicher Hast stürzte.

Es dauerte eine geraume Zeit, bevor sich Frau Rehbein von der großen Aufregung, in die sie das plötzliche Erscheinen der Schwester versetzt hatte, nur einigermaßen erholen und die Worte hervorstammeln konnte: Um Gottes willen, Jettchen, wie kommst Du hierher? Ist Dein Mann gestorben?

Frau Urban schüttelte den Kopf und lächelte. Der Gedanke, daß ihr Gatte, der ihr in jeder Beziehung ein Herkules erschien, vor ihr sterben könne, kam ihr wunderlich vor. Aber das Lächeln auf ihrem bleichen, abgehärmten Gesicht war wie ein flüchtiger Sonnenblick an einem melancholischen Herbsttage; alsbald traten ihr die Thränen wieder in die schüchternen, verweinten Augen. Sie drückte ihrer Schwester die Hände, die sie noch immer gefaßt hielt, und sagte:

Du meinst, weil ich während der vielen Jahre, die wir hier sind, nicht ein einziges Mal gewagt habe, zu Dir zu kommen, Lieschen; aber, wenn Du wüßtest –

Ach, ich weiß Alles, mein armes, armes Jettchen, rief Frau Rehbein; aber setze Dich doch, Jettchen, Du zitterst ja an allen Gliedern, und Deine armen Hände sind ganz kalt, und Dein Tuch ist ganz naß, Du armes Kind! Regnet es denn? Und nicht einmal einen Schirm erlaubt er Dir, der Barbar!

Ach schilt nur nicht auf ihn, schluchzte Frau Urban; er hat ja auch so viel in seinen Kopf zu nehmen; er hat gar nicht Zeit, sich um mich zu bekümmern. Ich darf schon einen Schirm nehmen, wenn ich einmal ausgehe; aber heute Abend bin ich in solcher Eile und Hast vom Hause fortgestürzt; ich weiß noch gar nicht, wo mir der Kopf steht.

Und die arme Frau faßte sich mit beiden Händen nach den Schläfen und blickte so verwirrt umher, daß Frau Rehbein der entsetzliche Gedanke kam, die Schwester könne in Folge der Mißhandlungen des Mannes den Verstand verloren haben.

Ach, wenn doch nur Rehbein nach Hause kommen wollte! seufzte sie aus der Tiefe ihres Herzens.

Als ob der wackere Schneidermeister gewußt hätte, wie nöthig seine Gegenwart sei, öffnete er in diesem Augenblicke die Thür und blieb, als er die weinenden Frauen erblickte, wie vom Blitz getroffen auf der Schwelle stehen. Frau Geheimerath Urban – die Geliebte seiner Jugend, das Weib des Mannes, der ihn um das Glück seines Lebens betrogen, hier in seiner Wohnstube – auch er hatte nur Eine Erklärung für ein so wunderbares Ereigniß.

Ist er todt? flüsterte er, indem er hastig an seine Frau herantrat.

Ach, das habe ich sie schon gefragt, erwiederte Frau Rehbein, aber sie sagt nein; ich weiß nicht, was es ist.

Dann gieb ihr eine Tasse Thee, und gieb mir auch eine, sagte Rehbein entschlossen, indem er seinen Hut mit Heftigkeit auf die Commode stellte. Gleichmuth der Seele, sagt Doctor Paulus, Gleichmuth der Seele! das ist die Hauptsache; dann findet sich das Andere schon.

Der kleine Mann lief mit ungleichen Schritten in dem kleinen Gemach auf und nieder, indem er sich dabei fortwährend sagte, daß es, angesichts dieser seltsamen Situation, seine Pflicht sei, ruhig zu sein. Endlich ging er auf Frau Urban zu, faßte ihre beiden zitternden Hände und sagte: Seien Sie mir herzlich gegrüßt, liebe Frau – liebes Jettchen – und wenn Sie wieder sprechen können, so sagen Sie mir, was Sie hierher geführt hat, und seien Sie überzeugt, daß von meiner Seite Alles, was in meinen Kräften steht, geschehen soll.

Dann zog er mit dem Fuße einen Stuhl heran, setzte sich der Frau Urban, ihre Hände in den seinen haltend, gegenüber, schaute sie mit ruhig-mitleidigen Augen an, wie ein humaner Arzt einen schwer Kranken, und fuhr fort:

Was in meinen Kräften steht. Sprechen Sie, als ob – als ob die letzten fünfundzwanzig Jahre nicht gewesen wären. Ich habe mich wohl ein wenig verändert – Sie auch, Jettchen – aber im Grunde bin ich doch der Alte geblieben.

Frau Urban lächelte – diesmal aber ein beinahe glückliches Lächeln. Sie hatte eine so gütige Stimme seit langen Jahren, seit Walter aus ihrem Hause war, nicht wieder gehört. Und jetzt wußte sie auch, weshalb sie gekommen war.

Er ist wohl nicht hier? sagte sie.

Wer?

Walter.

Walter? nein, erwiederte Rehbein; er wird heute erst spät nach Hause kommen. Sie hätten ihn gern gesehen, nicht wahr?

Ach ja, ich hätte ihn sehr, sehr gern gesehen. Ich habe ihm so wichtige Dinge zu sagen. Aber ich darf nicht lange vom Hause bleiben.

So sagen Sie's mir! rief Rehbein eifrig; ich bin Walter's Freund, er soll Alles von mir erfahren. Nun, fassen Sie sich ein Herz! Mit einem warmen Eisen bügelt es sich am besten.

Und Frau Urban faßte sich ein Herz und erzählte.

Sie hatte heute Abend – vor einer Stunde etwa – in dem Wohnzimmer, das an ihres Mannes Arbeitscabinet stieß, im Dunklen gesessen, als ihr Mann nach Hause kam, in Begleitung eines anderen Herrn, den Frau Urban sogleich an der Stimme als den Gymnasialdirector Moritz, Walter's Vorgesetzten, der mit ihrem Manne sehr befreundet war, erkannte. Die Thür des Zimmers hatte halb aufgestanden; die Herren hatten Niemand in dem dunklen Zimmer vermuthet und in Folge dessen eine Unterhaltung, die sie schon auf der Straße angefangen haben mochten, fortgesetzt. Frau Urban hätte sich gern zurückgezogen, aber sie wagte es nun nicht mehr, und dann hörte sie wiederholt Walter's Namen nennen – da war es ihr gewesen, als ob eine geheime Gewalt sie festhalte; sie regte sich nicht, sie athmete kaum; nichtsdestoweniger hörte oder verstand sie nicht Alles von dem, was nebenan gesprochen wurde; aber was sie hörte und verstand, war genug, um ihr Herz mit einem tödtlichen Schrecken zu erfüllen. Sie hörte den Director sagen: Der Mensch ist mir schon lange fatal gewesen, aber es war ihm nicht beizukommen; nun bin ich froh, daß er endlich einmal vor aller Welt bekannt hat, weß Geistes Kind er ist. Dann las er, wie es ihr schien, Stellen aus einem Buche vor, und dazwischen hörte sie die Herren rufen: Er ist ein Gottesleugner, das ist klar! und andere Anschuldigungen der schrecklichsten Art. Endlich sagte der Director: Ich darf also ruhig gegen ihn vorgehen und Ihres Schutzes sicher sein? Und ihr Mann antwortete: Das dürfen Sie. Ich kenne den Burschen länger als Sie, und meine Aversion ist womöglich noch größer als die Ihre. Was ich thun kann, ihm den Hals zu brechen, soll mit Freuden geschehen. – Das war das Letzte, was die vor Angst und Schrecken Halbtodte hörte. Gleich darauf verließen die beiden Herren wieder das Zimmer, und sie hatte sich, kaum wissend, was sie that, aufgemacht, ihren lieben Walter vor der schrecklichen Gefahr, die ihn bedrohe, zu warnen.

Ach Gott, schluchzte sie, ich weiß ja nicht, was er gethan hat; aber es ist gewiß lange nicht so schlimm, wie sie es machen; er ist früher stets so gut gegen mich gewesen, und ich habe immer den lieben Gott gebeten, daß er ihn in seinen gnädigen Schutz nehme; es ist unmöglich, daß er so ganz vom lieben Gott verlassen ist und so etwas grausam Schlechtes begangen hat.

Frau Urban faltete die Hände und schaute mit thränenden Augen bald ihre Schwester, bald ihren Schwager an. Frau Rehbein saß in ihrem Lehnstuhl – ein Bild geistiger Hilflosigkeit. Es fiel ihr ein, daß sie so Vieles in Walter's Buche nicht verstanden, und daß doch möglicherweise gerade darin die Schlechtigkeiten, von denen die gelehrten Herren gesprochen, verborgen sein könnten. Ueberdies war ja ein Roman, wenn man die Sache ernsthaft nahm, doch immer ein mehr oder weniger gottloses Buch. Und sie hatte zu der Entstehung des Buches noch beigetragen! Am Ende wurde sie gar in den Fall verwickelt!

Ihr armes Gehirn konnte eine solche Fülle entsetzlicher Vorstellungen nicht fassen; sie brach in Weinen aus und rief:

Ach, Rehbein, hilf uns doch nur, daß sie uns nicht auch einstecken, wie Dich damals bei dem Communistenprozeß!

Rehbein wollte auffahren, aber er besann sich und sagte:

Ihr seid ein paar – nun, es ist ganz gleich; aber Ihr versteht nichts von diesen Dingen; Walter wird zu verantworten wissen, was er gethan hat; er arbeitet stets auf eigene Rechnung, und die Hal – nun, es ist ganz gleich – wenn sie ihm den Hals brechen wollen, werden sie sehen, mit wem sie es zu thun haben. Ja, ja, mein braver Höllenrachen, das wäre so ein Bissen für Dich! Aber Du sollst vergeblich Deine Zähne schlecken!

Die beiden Frauen sahen den Aufgeregten erstaunt an; Rehbein rieb sich die Stirn; die Sache ging ihm viel näher, als er es sich merken lassen wollte und durfte. Er wäre am liebsten gleich fortgerannt, um Walter aufzusuchen; aber vorerst mußte er doch Frau Urban nach Hause bringen, die sich jetzt erhoben und sich wieder in ihr nasses Umschlagetuch gewickelt hatte. Frau Urban wollte seine Begleitung nicht annehmen, aber Rehbein bestand auf seinen Willen; so verließen sie denn zusammen das Haus, nicht ohne eine gewisse eifersüchtige Regung in dem Busen der braven Schneidersfrau erweckt zu haben.

Frau Rehbein hätte ganz ruhig sein können. Es war ihrem Gatten allerdings ein wenig wunderlich zu Muthe, während er an der Seite seiner schüchternen, stummen Begleiterin lautlos dahinschritt. Er dachte der Zeit vor fünfundzwanzig Jahren, als er mit seinem Jugendfreunde, dem armen Studenten der Theologie Urban, dasselbe Mansardenzimmer bewohnte. Ach, damals waren sie so innige Freunde gewesen: der arme Schneidergeselle und der arme Student! und sie hatten so viel über die Liebe im Allgemeinen und über die hoffnungslose Liebe des schüchternen Gesellen zu Jettchen, der ältesten der zwei Töchter des wohlhabenden Hofschneidermeisters, seines Brodherren, disputirt! so viel, daß Urban sich ganz in die Lage des Freundes versetzen zu können behauptete, ihm bei dem gestrengen Herrn Hofschneidermeister, dessen Kindern er Privatstunden gab, das Wort zu reden versprach und sein Versprechen so gut hielt, daß der Gesell mit Schimpf und Schande zum Hause hinausgeworfen wurde, während der Student als Hahn im Korbe zurückblieb und Jettchen's Bräutigam und, als er bald darauf eine Pfarrstelle bekam, Jettchen's Gatte wurde, ein paar Tage, bevor das Vermögen des Herrn Hofschneidermeisters in Folge einer mißlungenen Speculation zum Rauchfang hinausging. Da war denn der schlaue Fuchs gefangen gewesen, aber die arme blöde Taube nicht minder; und der weggejagte Gesell und verrathene Liebhaber hatte Lieschen, die zweite Tochter, die gänzlich hilflos zurückgeblieben war, geheirathet aus purem Mitleid.

Das Alles zog in bunter Reihenfolge durch das geschäftige Gehirn des braven Rehbein; er dachte auch jenes Frühlingsabends, als er Jettchen von einer ihrer Freundinnen abgeholt und ihr unterwegs seine Liebe gestanden hatte. Das waren dieselben Straßen sogar, durch die sie gegangen waren; an dieser Brücke, im Schatten der Reiterstatue, hatten sie sich den ersten Kuß gegeben, und gerade so wie heute hatte damals der Mond durch leichtes Gewölk vom Himmel geschaut, hatten seine Strahlen in dem dunklen Wasser des Flusses geglitzert. Rehbein wußte das Alles noch sehr gut; er konnte sich der Worte erinnern, die er, die sie gesprochen; er dachte der Seligkeit, die ihn damals erfüllt, des Jammers, der ihn erfaßte, als sein Jettchen ihm untreu wurde und ihm den Absagebrief schrieb, den ihr der verrätherische Freund dictirt; aber dann war ihm doch wieder, als ob das Alles einem Andern passirt wäre. Und es war auch ein Anderer gewesen, – ein junger leidenschaftlicher Mensch, der in einem Paar geliebter Augen den Himmel auf Erden sah. Du lieber Gott! Wie hatten sich diese Augen verändert! Was war aus dem schlanken, blassen, hübschen Mädchen geworden! Rehbein war durch seine Frau, die mit der Schwester ein paarmal beim Herausgehen aus der Kirche ein heimliches Rendezvous gehabt hatte, auf diese Veränderung vorbereitet gewesen; aber so groß hatte er sie sich doch nicht gedacht. Nein, Frau Rehbein konnte ruhig sein! Es war nicht Liebe, was ihres Gatten Herz jetzt erfüllte, sondern Mitleid, Mitleid mit dem armen schwachen Weibe, das dem brutalen Egoismus ihres Gatten so hilflos zum Opfer gefallen war, wie eine Taube dem Habicht; und nicht blos Mitleid mit ihr, Mitleid mit dem schwachen Geschlecht überhaupt, auf dessen zarten Schultern, wie Rehbein meinte, der schwerere Theil des über das Menschengeschlecht verhängten Elends laste.

Ja, ja, murmelte er, nachdem er sich von Frau Urban noch in einiger Entfernung von ihrer Wohnung mit freundlichen Worten verabschiedet hatte und nun eiligen Schrittes durch die fast leeren Gassen der Wohnung des Doctor Paulus zustrebte, wo er Walter zu finden hoffte; sie sind die wahren Sclaven der modernen Zeit, besonders in den unteren Ständen; aber auch überall sonst, wo Rohheit, und wäre es auch unter den feinsten Formen, herrscht. Wer hätte so viel Interesse daran, daß Bildung und Aufklärung, die Liebe und das Verständniß der Freiheit sich überallhin verbreiten, als gerade die Frauen? Und doch sind sie es, die sich am willigsten unter das Joch der Tyrannei beugen, am eifrigsten unter die Fahne des Obscurantismus schaaren. Sie suchen Schutz und Trost da, von wo all' ihr Unheil kommt, und sind glücklich, wenn sie ihre Söhne in das Lager ihrer schlimmsten Feinde treiben und so die Roth verewigen helfen. Und dennoch! Welche edle Regungen leben in diesen zerknickten, mißhandelten Seelen! Dieses arme Geschöpf wagt es um ihrer Liebe willen zu einem jungen Manne, von dem sie nicht einmal weiß, ob er ihrer noch gedenkt, der möglicherweise nach ihren Begriffen sich aller der Verbrechen schuldig gemacht hat, deren man ihn zeiht – sie wagt es, ihn zu warnen, wagt es auf die Gefahr hin, von ihrem Gatten über dieser Frevelthat, die er furchtbar an ihr rächen würde, ertappt zu werden. Wunderbare Mischung von Klugheit und Beschränktheit, von Muth und Zaghaftigkeit, von Energie und Schlaffheit! – Da ist Lieschen, die gute, gedankenlose Frau! Sie war nahe daran, Walter zu verleugnen, und würde doch für ihn, wenn es sein müßte, durch Feuer und Wasser gehen. – Aber die Sache mit Walter ist allerdings von größter Wichtigkeit. Er hat ihnen den Kampf angeboten, sie haben ihn angenommen, und nun geht es los, Hurrah!

Ein Nachtwächter, der vorüberstrich, herrschte dem enthusiastischen kleinen Manne zu, er solle, wenn er nicht arretirt zu werden wünsche, sich ruhig verhalten. Man kenne seine Leute. In Rehbein's Herzen kochte es; er war schon unzählige Mal mit der Polizei in Conflict gerathen; es war Grundsatz bei ihm, daß man der Gewaltherrschaft, sie trete in einer Form auf, in welcher sie wolle, jedesmal und unter allen Umständen Widerstand leisten müsse, aber heute Abend machte er eine Ausnahme. Es drängte ihn, Walter zu sprechen. Er sah im Geiste Walter, wie er sich mit Flammenworten vor der obersten Schulbehörde verantwortete und die souveräne Freiheit der Bildung und Poesie vertheidigte. Das war doch ein anderes Ding, als der Schneidermeister Rehbein im Verhör vor dem Revierlieutenant auf dem Polizeibüreau.


 << zurück weiter >>