Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einunddreißigstes Capitel.

Die Zeitungen waren in der letztvergangenen Zeit voll von düstern Prophezeiungen gewesen; aber die, welche an diesem Abend der Postbote brachte, enthielten wirklich Bedenkliches. In der Residenz hatten ernste Unruhen stattgefunden. Die erste Veranlassung schien eine geringfügige gewesen zu sein – ein Krawall auf einem Gemüsemarkte – aber die Aufregung hatte bald größere Dimensionen und einen gefährlicheren Charakter angenommen. Beim Schluß der Zeitung hoffte man indessen, daß das energische Einschreiten der in großer Menge aufgebotenen Polizeimannschaften weiterem Unglück vorbeugen werde.

Wir wollen es auch hoffen, sagte der Freiherr; aber es ist so schon schlimm genug, einmal als Zeichen der Zeit und Beweis der Noth, die jetzt schon gar nicht mehr sporadisch auftritt, und dann als böses Beispiel, das unsere Schreier und Murrer gehörig auszubeuten wissen werden.

Aber am nächsten Tage lauteten die Nachrichten noch um Vieles bedenklicher. Die Polizei hatte der Tumultuanten nicht Herr werden können, es war Militär requirirt worden, man hatte an einzelnen Stellen auf das Volk geschossen, Blut war geflossen. Darüber war die Nacht herangebrochen. Man fürchtete, daß das Einschreiten der bewaffneten Macht die Sache eher verschlimmert, als verbessert habe, und daß man sich auf noch Schlimmeres gefaßt machen müsse.

Der Freiherr schüttelte den Kopf. Das sieht bös aus, sagte er; der König ist stumpf, und seine Minister sind Dummköpfe; sie haben bei ruhigem Wetter und glattem Meere kaum zu steuern verstanden; was soll das geben, wenn es wirklich stürmt?

Ein mit zwei tüchtigen Pferden bespannter Schlitten kam, während der Freiherr so sprach, sehr schnell auf den Hof gefahren. Der Herr, welcher darin saß, hatte den Kragen seines Pelzes in die Höhe geschlagen und seine Pelzmütze so tief in die Stirn gezogen, daß die Brille, die er trug, nur eben aus der dichten Hülle hervorblickte.

Es ist Hey, rief der Freiherr mit einiger Bestürzung; der Mann hat mir noch selten etwas Gutes gebracht, was wird er heute bringen?

Ich weiß Alles! rief er dem Eintretenden entgegen.

Nichts wissen Sie, sagte der Landrath, indem er sich vor Charlotte verbeugte und dem Freiherrn eine eiskalte Hand reichte. Die Sache steht viel schlimmer, als die Zeitungen melden. Die Truppen in der Residenz sind unzuverlässig, ja sie haben zum Theil offen mit dem Pöbel fraternisirt. Man hat auf telegraphischem Wege die Neunundneunziger aus unserer Festung requirirt. Denken Sie diesen Wahnsinn! Unsere geringe Macht, die wir vielleicht selbst so nöthig brauchen werden, um die Hälfte zu verringern! Ich beschwor den Präsidenten; ich beschwor den General von Schnabelsdorf, gegen diese Maßregel zu remonstriren. Es geschah; Bitte um Zurücknahme des Befehls, um Aufschub – nichts half. Unverzüglich kommen! Gefahr im Verzuge! – so lautete die letzte Depesche; vor einer halben Stunde ist denn das Regiment mit Extrazug abgegangen.

Herr von Hey warf sich vor dem Kamin ganz erschöpft in einen Polsterstuhl.

Ich kann diese Maßregel nicht mißbilligen, sagte der Freiherr; ein Aufstand in der Residenz, wenn er nicht bald niedergeschlagen wird, kann für das ganze Land, ja für die Welt von unberechenbaren Folgen sein.

Aber wir, wir! was soll aus uns werden? rief der Landrath.

Wir wollen uns schon selbst helfen, wenn es zum Schlimmsten kommt, erwiederte der Freiherr.

Das ist leichter gesagt, als gethan, meinte der Landrath; Sie haben es nicht Wort haben wollen, aber Sie werden, fürchte ich, nur zu bald erkennen, daß wir auf einem Vulkane stehen. Ich denke mit Entsetzen an die Wirkung, welche die Nachricht von den Ereignissen in der Residenz auf unsere Taglöhner und Zehentner haben wird.

Ich glaube, Sie sehen die Dinge ein wenig zu schwarz, lieber Hey, sagte der Freiherr; ich gebe zu, wir haben Schreier genug, aber vom Schreien bis zum Handeln ist ein großer Schritt, den die Leute nur wagen, wenn sie einen sehr entschlossenen und energischen Führer haben. Wo sollten sie den herbekommen? Die paar intelligenten tüchtigen Köpfe, die wir allenfalls in der Gemeinde zählen, sind entschieden für uns. Nein, nein, wir haben nichts zu fürchten.

Charlotte war der Unterredung der beiden Männer mit einer Spannung gefolgt, die sich deutlich genug auf ihrem feinen, blassen Gesichte ausprägte. Ein wichtiges, entscheidendes Wort schien auf ihren Lippen zu schweben; sie machte eine lebhafte Bewegung, als ob sie zu sprechen wünsche; aber in diesem Augenblicke ließ sich auf dem Vorsaal eine Stimme vernehmen, die eifrig nach dem Freiherrn verlangte. Gleich darauf trat, dem Bedienten auf dem Fuße folgend, Doctor Urban in das Gemach.

Ein Blick genügte, um zu erkennen, daß sich der geistliche Herr in einer Aufregung befand, vor welcher die kühle Ruhe, deren er sich sonst befleißigte, nicht Stand gehalten hatte.

Ich bringe seltsame Nachrichten, sagte er, nachdem er sich kaum Zeit zu einer Begrüßung der Anwesenden genommen – Man brachte mir vor ungefähr einer Stunde die Botschaft, daß die Bauern in dem Kruge eine Versammlung abhielten, bei der es ziemlich wild hergehe; ich hielt es für meine Pflicht, die Leute zur Ruhe und Ordnung zu ermahnen, und begab mich sofort nach der bezeichneten Stelle. Welches Bild hatte ich da, meine Herren! Ich habe diese Brutalität, diese Frechheit nie für möglich gehalten. Vergebens, daß ich zu Worte zu kommen suchte! Wüster Lärm, ein satanisches Pfeifen und Heulen – das waren die Begrüßungen, mit denen man mich empfing. Und wer, wer glauben Sie, Herr Baron, mein gnädigstes Fräulein, Herr von Hey – wer, glauben Sie, an der Spitze dieser Bösewichter steht? Wer nach dem, was ich habe sehen, habe hören müssen, ganz unzweifelhaft die Seele dieser Empörung ist?

Der Schullehrer Tusky! rief Charlotte; ich habe es längst gewußt.

Sie hatte sich von ihrem Platz am Kamin erhoben und stand den Männern, die verwundert zu ihr aufschauten, gegenüber.

Ich habe es längst gewußt, wiederholte sie, aber ich habe geschwiegen, aus einer falschen Großmuth, wie ich jetzt wohl sehe, und weil ich keine Beweise in Händen hatte und anders Euren sicheren Glauben zu erschüttern nicht hoffen durfte.

Ja, ja, sagte der Freiherr, Du hast es schon damals gesagt; erinnern Sie sich, Herr Doctor? Ich fragte Sie nach dem Menschen, Sie stellten ihm ein günstiges Zeugniß aus.

Er hat mich getäuscht, wie er mit Ausnahme des gnädigen Fräuleins uns Alle getäuscht hat, murmelte Doctor Urban.

Nun, und was will er denn, was wollen denn die Leute? fragte der Freiherr.

Ich weiß es nicht, erwiederte Doctor Urban; es war mir unmöglich, aus den zwanzig oder dreißig Stimmen, die zu gleicher Zeit auf mich einschrieen, klug zu werden; überdies habe ich mich natürlich entfernt, als ich sah, daß meine Anwesenheit den Tumult offenbar nur vermehrte. Ich bin heraufgeeilt, Ihnen die Nachricht zu bringen, bevor die Bösewichter kommen.

Das werden sie nicht wagen! rief der Freiherr.

Doctor Urban zuckte die Achseln.

Da sind sie schon! rief Charlotte.

Auf dem Hausflur ließen sich laute, heisere Stimmen vernehmen, die in drohendem Tone nach dem Freiherrn fragten und riefen, dazwischen die ärgerliche, hohe Stimme Christian's, des alten Kammerdieners, der sich vergeblich Gehör verschaffen zu wollen schien.

Der Landrath und Doctor Urban sahen sich mit blassen, erschrockenen Mienen an; Charlotten's Blicke hingen an dem Gesichte des Bruders, auf dessen hoher Stirn eine rothe Zorneswolke lag. Seine braunen Augen blitzten, er wendete sich hastig nach der Thür.

Was willst Du thun? rief Charlotte, sich ihm in den Weg werfend.

Mein Hausrecht wahren! erwiederte der Freiherr, indem er die Schwester von sich weg zu drängen versuchte.

Da erscholl neuer Lärm: Er muß zu Hause sein! Er soll zu Hause sein!

Laß sie herein und sprich ruhig mit ihnen! flehte Charlotte.

Um Deinetwillen, erwiederte der Freiherr.

Er ging und öffnete die Thür und rief, auf der Schwelle stehen bleibend:

Was will man von mir?

Wir sind hier im Namen der Gemeinde, antwortete eine Stimme, und wünschen eine Unterredung mit Herrn von Tuchheim.

So kommen Sie herein! sagte der Freiherr.

Von ein paar Männern gefolgt, trat Tusky in das Zimmer. Die Männer drängten sich, Verlegenheit in Haltung und Mienen, um die Thür; Tusky aber kam festen Schrittes näher und blieb vor der am Kamin versammelten Gesellschaft, welche die Unruhe schon längst von ihren Sitzen aufgetrieben hatte, stehen, herausfordernden Trotz in den strengen Zügen.

Was wünschen Sie von mir? fragte der Freiherr.

Ich wünsche Ihnen die Forderungen vortragen zu dürfen, welche soeben von der versammelten Gemeinde einstimmig beschlossen worden sind.

Ich gehöre auch zur Gemeinde, sagte der Freiherr mit Ironie; ist meine Stimme schon mitgezählt?

Wir kommen eben, uns Ihre Zustimmung zu erbitten, antwortete Tusky sehr ruhig. Wir verlangen nichts, als was Sie nicht verweigern können!

Warum nicht verweigern können?

Aus zwei Gründen. Einmal, weil wir, wie ich glaube, die Macht in Händen haben; sodann, weil Ihr Gerechtigkeitssinn Ihnen nicht erlauben wird, uns vorzuenthalten, was Ihnen nicht gebührt.

Und worin bestände das?

In Folgendem: Wir verlangen zuerst unentgeltliche Befreiung von allen Spann- und Hofdiensten, welcher Art sie auch immer seien; zweitens den sofortigen Wegfall des Zehents an den Pfarrer und aller Naturalienlieferungen an den Hof, auf welchen scheinbaren Rechtstitel sie sich auch gründen; drittens das Aufhören aller und jeder Privilegien, die sonst noch auf diesem Gute und auf Ihren anderen Gütern haften, insonderheit das Freigeben der Gemeindewiesen zur Vertheilung an die Dürftigen in der Gemeinde; viertens die Ausstellung eines Reverses, daß Sie dies Alles aus voller Ueberzeugung von dem guten Rechte der Gemeinde und somit ganz aus freien Stücken für sich und Ihre Nachkommen auf ewige Zeiten abgetreten haben.

Und wenn ich, mich zu nichts von dem Allen verstehe, was dann?

Dann würden wir, wie gesagt, was man uns ehemals mit Gewalt genommen, uns mit Gewalt zurückholen.

Nun denn, sagte der Freiherr, indem er sich strack in den Hüften aufrichtete, so sagen Sie denen, die Sie aufgehetzt haben und als deren Sprecher Sie sich hier geriren, daß, von einem Privaten zu verlangen, was nur der Staat aus dem Wege der Gesetzgebung gewähren kann, einfach ein Unsinn ist; und zweitens sagen Sie ihnen, daß ich an der Abschaffung so ziemlich alles dessen, was sie verlangen, seit ungefähr dreißig Jahren arbeite und also mehr dafür gethan habe, als Ihr Alle zusammengenommen; und drittens sagen Sie ihnen, daß ich nichtsdestoweniger jeden, der mir, was ich freiwillig freudig hingeben würde, mit Drohungen abfordert, als einen Räuber, der bei nächtlicher Weile in mein Haus dringt, ansehen und demgemäß behandeln werde. Das sagen Sie den armen Leuten, und – damit wären wir ja wohl für heute fertig.

Für heute, ja, – ob auch für die Zukunft, hängt ganz von Ihnen ab.

Das heißt?

Das heißt, daß ich demnächst wieder anfragen werde, ob Sie noch derselben Meinung sind, und daß, wenn dies der Fall sein sollte, ich Sie allerdings für die Folgen verantwortlich machen müßte.

Man wird Mittel finden, Ihnen zu begegnen, rief hier Herr von Hey, dem die Festigkeit des Freiherrn Muth gemacht hatte.

Tusky wendete sein finsteres Gesicht nach dem Manne mit der Brille und sagte mit herbem Spott:

Ich rathe Ihnen, Herr Landrath, Ihre Anwesenheit hier so wenig wie möglich bemerklich zu machen. Ich kenne Leute, die Sie gern der Mühe, sich von hier nach Hause zu begeben, überheben würden.

Sie haben von Anfang an ein falsches Spiel mit uns getrieben, junger Mann, rief Doctor Urban, und Sie werden es verlieren!

Möglich, erwiederte Tusky, aber ich hoffe es noch lange genug fortzusetzen, um Sie zu zwingen, Ihre Karten aufzudecken, Herr Pastor.

Genug! rief der Freiherr; ich bin des Geredes satt! Gehen Sie, Herr Tusky, und nehmen Sie die Ueberzeugung mit, daß Sie sich in Ihrer Hoffnung, mich einzuschüchtern, schmählich betrogen haben.

Ich habe weder die Hoffnung, noch den Wunsch gehabt, Sie einzuschüchtern: ganz im Gegentheil! Ich wünsche Ihnen einen guten Abend. – Kommt, Leute!

Tusky ging nach der Thür. Er mußte dabei an Charlotten vorüber, die sich während der Unterredung, wie es schien absichtlich, an diese Stelle begeben hatte. Als Tusky in ihrer unmittelbaren Nähe war, sagte sie mit so leiser Stimme, daß nur er es hören konnte:

Denken Sie an Ihre alte Mutter!

Meine Mutter starb heute Morgen, erwiederte Tusky in demselben Tone; mögen die Todten die Todten begraben!

Es mußten vor dem Schlosse noch mehr Leute versammelt gewesen sein, denn gleich nachdem Tusky das Zimmer verlassen hatte, hörte man draußen mißtönendes Geschrei, das sich aber bald entfernte.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis die im Zimmer Versammelten ihren Zorn, ihre Entrüstung, ihren Schrecken so weit bewältigt hatten, um mit der nöthigen Ruhe die Frage, was man unter diesen Umständen zu thun habe, erörtern zu können. Der Landrath war entschieden dafür, sofort Militär zu requiriren, die Rädelsführer, Tusky an der Spitze, zu verhaften und so den Aufstand im Keime zu ersticken. Der Freiherr wollte davon nichts wissen. Diese Menschen, rief er, sind nur fürchterlich, wenn wir Furcht zeigen. Haben wir uns ein einzigesmal so weit einschüchtern lassen, daß wir offen gestehen, wir können ohne fremde Hilfe nicht mit ihnen fertig werden, so ist unser moralisches Ansehen für immer untergraben.

Der Pastor hatte die Ansicht des Landraths auf das Lebhafteste unterstützt. Von dem Freiherrn gedrängt, gab er zu, daß er, nach den Erfahrungen von vorhin, sich persönlich nicht mehr sicher fühle.

Der Freiherr maß ihn mit einem halb verwunderten, halb verächtlichen Blicke.

Das wäre freilich schlimm, sagte er; wenn Sie, Herr Doctor, der Sie von berufswegen nur Wohlthaten zu spenden haben, sich die Liebe der Leute nicht erwerben konnten, was soll dann aus uns werden, den Herren, auf denen sichtbar und unsichtbar der Fluch unserer Herrlichkeit ruht?

Die Gäste hatten sich verabschiedet. Der Landrath saß bereits in seinem Schlitten, als Doctor Urban noch einmal herantrat.

Ist es nicht reine Tollheit? murmelte er, mit einer bezeichnenden Kopfbewegung nach dem Schlosse.

Die reine Tollheit, erwiederte von Hey, aber ich werde nicht so toll sein, mich daran zu kehren. Wir dürfen ihn die Suppe, die er sich selber eingebrockt hat, nicht aufessen lassen – um unsertwillen nicht. Ich fahre so schnell die Pferde laufen können in die Stadt. In drei Stunden spätestens kann eine Compagnie hier sein.

Ich darf mich darauf verlassen?

Ganz sicher.

Der Landrath hatte seinem Kutscher die Zügel abgenommen und begann jetzt den Schloßberg mit einer Eile herunter zu fahren, als ob auf dem glitzernden Schnee Schaaren hungriger Wölfe hinter ihm her galoppirten; der Pastor schlug den Weg nach dem Dorfe ein. In seiner gebückten Stellung, seinen scheuen Mienen war keine Spur seines sonstigen Hochmuths zu entdecken.

Warum wiesest Du die militärische Hilfe zurück? sagte Charlotte, indem sie sich, nachdem jene kaum das Zimmer verlassen hatten, mit Lebhaftigkeit zum Bruder wendete. Du hast den wahren Grund nicht genannt.

Nein, erwiederte der Freiherr, weil ich zu stolz war, einzugestehen, daß ich mich – nicht fürchte, wie jene Memmen, aber mich grenzenlos unglücklich fühle, und daß ich entschlossen bin, dies Unglück, komme was da komme, allein zu tragen. So lange ich lebe und denke, hat es an meinem Herzen genagt, das Bewußtsein des Unrechts unserer exceptionellen Stellung, und doch ist sie so mit meinem Leben verwachsen, daß ich sie nicht aufgeben kann, ohne mein Leben zugleich aufzugeben. Wehe dem, der zuerst die Hand ausstreckte nach ungerechtem Gut! Er hat damit zugleich den ersten verhängnißvollen Schritt auf der schiefen Ebene gethan, die allmälig, aber unaufhaltsam abwärts führt. Ich weiß, daß ich auf Kosten Anderer bin, was ich bin, und doch und doch – entsetzlicher Widerspruch, grausige Sphinx, deren Geheimniß wir lösen sollen, ja lösen müssen und nicht lösen können! Charlotte, Charlotte, wenn wir feiner fühlen, edler denken, als jene Unglücklichen, könnten wir es, wenn wir uns plagen müßten, wie sie? Und, liegt nicht unsere Selbstachtung, unsere Selbstschätzung, liegt nicht Alles, was uns das Leben lebenswerth macht, in einem Vorzug, der in seinem tiefsten Grunde ein Raub ist?

So gieb ihnen, was sie fordern, sagte Charlotte; Du mußt es, wenn Du überzeugt bist, daß sie Recht haben.

Gewiß haben sie Recht, rief der Freiherr; zehnmal haben sie Recht; heute, wie sie vor Jahrhunderten Recht hatten. Aber was hilft es, daß ich davon überzeugt bin, wenn die Anderen diese Ueberzeugung nicht theilen? Ist heute ein vierter August? Ist dies Zimmer hier der Sitzungssaal einer National-Versammlung? Charlotte, Du, und Du allein weißt, daß ich mich keinen Augenblick besinnen würde, die fadenscheinige Freiherrlichkeit auf den Scheiterhaufen zu den übrigen Fetzen des Mittelalters zu werfen. Aber hier ist keine welthistorische That zu thun. Entwickelt sich aus diesem Treiben und Drängen eine Revolution, so wird meine kleine Rechnung mit der großen Rechnung, die das Volk aufstellen wird, zugleich geregelt werden; verläuft sich aber Alles wieder im Sande, so sind die Zugeständnisse, die der Einzelne gemacht hat, gar nichts nütze, ja, der Einzelne ladet, indem er in einer politischen Zeit den gutmüthigen Patriarchen spielt, den Fluch der Lächerlichkeit und – was wohl noch schlimmer ist – den Verdacht der Feigheit auf sich. Wer wird mir glauben, daß ich nur aus freien Stücken nachgab? Er that es, werden Sie sagen, weil er sich fürchtete, weil er seine Kornschober, seine Scheunen, seine Häuser, weil er sein Leben retten wollte. Nein, nein, Charlotte, das soll von keinem Tuchheim gesagt werden! Sie wissen, daß ich es gut mit ihnen meine, daß ich mehr für sie gethan habe, mehr zu thun bereit bin, als irgend ein Edelmann im Lande. Sie wissen es, sie müssen es wissen, und wenn sie es nicht wissen zu wollen scheinen, so sind sie Schurken, und mit Schurken verhandle ich nicht. Schlimm genug, daß ich mich so weit mit ihnen eingelassen habe. Eine Kugel dem Ersten vor den Kopf, der es wagt, gewaltsam in mein Haus zu dringen – das wäre in diesem Falle die einzig richtige Antwort gewesen. Wenn ich sie nicht gegeben, wenn ich die Beleidigungen dieses frechen Menschen erduldet habe –

Der Freiherr beendete den Satz, der in einen Vorwurf für Charlotten ausgelaufen wäre, nicht. Er ging mit heftigen Schritten in dem großen Gemache auf und ab, augenscheinlich bemüht, seiner Bewegung Herr zu werden. Charlotte beobachtete ihn mit tiefbekümmerter Miene; sie sah, wie der Widerspruch zwischen Ueberzeugung und Neigung, zwischen Kopf und Herz, an dem er sein Leben lang gekrankt hatte, in dieser wichtigen, entscheidungsvollen Stunde in ihm so ungelöst war wie nur je; sie mußte fürchten, daß der Moment der Entscheidung ihn unvorbereitet, unentschlossen finden würde, und dieser Gedanke war ihr der entsetzlichste von allen.

Karl, sagte sie, und ihre sanfte Stimme war sehr fest und ruhig; Du mußt an das Aeußerste denken, denn sei versichert, er wird es auf das Aeußerste ankommen lassen.

Das wird er nicht thun, sagte der Freiherr.

Er wird es auf's Aeußerste ankommen lassen, wiederholte Charlotte. Ich habe es immer geahnt, wenn ich mir ihn in solchen oder ähnlichen Lagen dachte; seit heute Abend weiß ich es. Dieser Mann ist wie eine Naturgewalt, consequent, mitleidslos; nur von einer Kraft auszuhalten, die stärker ist, als er. Konnte man ihm ansehen, konnte man ihm anhören, daß heute Morgen seine Mutter gestorben ist?

In der That! sagte der Freiherr zerstreut.

Und doch hat er sie geliebt, fuhr Charlotte wie mit sich selbst redend fort; ich glaube es beschwören zu können. Gestern erst hatte ich die Frau zum erstenmale gesehen dort oben in Tannenstädt, – eine alte, vom Schlage gelähmte Frau, die seit zehn Jahren nicht aus dem Bett gekommen war. Er hat sie stets mit aller Sorge umgeben; er hat weit über seine Kräfte an ihr gethan – ich weiß es aus dem Munde der Leute, aus dem Munde seiner Schwester, die im Uebrigen gar nicht gut auf den Bruder zu sprechen war. Und vorhin – vorhin, als er aus dem Zimmer ging, hat er mir gesagt, daß die alte Frau gestorben, heute gestorben ist, so ruhig, so kühl, so nüchtern – es ist furchtbar, furchtbar!

Charlotte unterdrückte mit Mühe einen Schauder und sagte wieder in ruhigem Tone:

Wir müssen an die Knaben denken, Karl. Wir können sie nicht unten im Dorfe allen Gefahren und Verführungen ausgesetzt lassen.

Verführungen? sagte der Freiherr, wie meinst Du das?

Ein Diener, der eilig und mit schreckensbleichem Gesicht in das Zimmer trat, ließ Charlotte nicht zur Antwort kommen. Es brennt im Dorf, gnädiger Herr, sagte der Mann.

Die Geschwister eilten aus dem Zimmer über den Vorsaal auf die Rampe des Schlosses. Sowie sie aus der Thür traten, sahen sie, wie ein rother Schein, der mit jedem Augenblick an Stärke zunahm, sich über den dunklen Winterhimmel gebreitet hatte.

Es ist das Pfarrhaus, sagte der Freiherr; sonst liegen keine Häuser so weit links.

Ja, ja, es ist die Pfarre, bestätigten die Leute, die sich in ängstlichen Gruppen um den Herrn drängten.

Man soll mir ein Pferd satteln, schnell! rief der Freiherr.

Charlotte faßte des Bruders Hand.

Nimm mich mit, Karl! bat sie leise und dringend.

Hier ist kein Augenblick zu verlieren, rief der Freiherr ungeduldig.

Ich will Dich nicht aufhalten, aber wir kommen auf dem Fußweg eben so schnell hinunter, wie Du zu Pferde auf dem Fahrweg.

Was willst Du unten? sagte der Freiherr, glaubst Du, daß die Wüthenden Dich hören, Dich respectiren werden? Dies ist keine Zeit für Frauen; bleib' hier, Charlotte! und er begab sich eilends auf sein Zimmer, sich zu dem Ritte zurecht zu machen.

Charlotte hüllte sich in den Shawl, den ihr unterdessen Miß Jones gebracht hatte. Sie wollte sich auf keinen Fall von ihrem Bruder trennen. Der Anblick der beiden jungen Mädchen, die bleich und zitternd dastanden und die ängstlich starren Augen bald auf sie, bald auf den Himmel richteten, der den Schein des Feuers machtvoll zurückwarf, hätte sie fast in ihrem Entschlusse wankend gemacht; aber dann dachte sie, daß Miß Jones muthig und klug sei und sie allenfalls ersetzen könne. Sie flüsterte der braven Dame einige Worte in's Ohr, worauf diese ernsthaft mit dem großen, viereckigen Kopfe nickte; küßte die Mädchen, welche sofort in Thränen ausbrachen, auf die Stirn und stand bereit, dem Freiherrn zu folgen, als plötzlich ein Reiter in vollem Jagen auf den Hof gesprengt kam, bis an die Rampe, wo er vom Pferde sprang und die Zügel einem der Leute zuwarf.

Gott sei Dank, Gott sei Dank! rief Charlotte, indem sie dem Ankommenden entgegeneilte und ihm beide Hände entgegenstreckte; wie habe ich Sie erwartet!

Der Förster hielt einen Augenblick die zarten Hände in festem, liebevollem Druck.

Ach, da ist der Fritz! rief der Freiherr, der eben wieder aus seinem Zimmer trat; Du siehst, Fritz, der Teufel ist los. Willst Du mit oder willst Du hier oben bleiben? Mir wäre es lieber, Du bliebst hier.

Auch Sie müssen hier bleiben, gnädiger Herr, sagte der Förster leise; verstatten Sie mir einige Worte.

Er trat mit dem Freiherrn auf die Seite und sagte zu ihm und zu Charlotte, welche den Männern gefolgt war:

Es ist vergebens, daß Sie den Unsinnigen entgegentreten; sie sind von Wuth und Branntwein außer sich, sie hören auf Niemand. Ihr hauptsächlicher Haß gilt dem Pastor; ich wußte es; vor einer Stunde erfuhr ich auch, daß man die Pfarre heute Abend anzünden wolle. Da habe ich die Pastorin und die Knaben in meinem Schlitten abgeholt und sie vorläufig nach der Försterei gefahren; dem Pastor bin ich soeben unterwegs begegnet; ich habe ihm gesagt, daß er umkehren müsse; er folgt mir auf dem Fuße.

Und sollen wir die Hände müßig in den Schooß legen? rief der Freiherr ungeduldig.

Das Dorf ist in den Händen der Aufrührer, erwiederte der Förster.

Der Freiherr machte eine Bewegung der Ungeduld. Er konnte sich nicht verhehlen, daß es sehr wenig wahrscheinlich sei, er werde den Leuten in einem solchen Augenblicke durch persönliches Entgegentreten imponiren, daß er mithin sich und die Schwester, die sich nicht von ihm trennen wollte, voraussichtlich ganz nutzlos einer dringenden Gefahr aussetze.

In diesem Augenblicke entstand eine Bewegung und Geschrei unter den Leuten auf der Rampe. Dazwischen rief eine vor Angst und Eile erschöpfte Stimme: Lassen Sie mich durch – um Gotteswillen, schnell!

Ein junges Mädchen, in welchem Charlotte sofort des Schulmeisters Schwester erkannte, kam auf den Vorsaal gestürzt. Ihre Kleider waren naß und hie und da eingerissen, ihre Stiefel mit hartgefrornem Schnee überdeckt; von ihren langen schwarzen Zöpfen, die sich zum Theil aufgenestelt hatten, tropfte das Wasser; ihre grauen Augen fuhren unruhig suchend umher und blieben auf Charlotte haften.

Was willst Du, mein Kind? fragte Charlotte, indem sie auf sie zutrat.

Sie kommen, sie kommen! rief Eve, Charlotte anstierend.

Beruhige Dich, besinne Dich, sprich deutlich, sagte Charlotte, das Mädchen bei der kalten Hand ergreifend; von wem weißt Du es?

Von ihm – von meinem Bruder – und von Herrn Leo. Die Tannenstädter sollten auch kommen, aber die werden nun nicht kommen, das hat er davon – und Eve lachte gellend auf und fiel dann wie todt in die Arme von Miß Jones und einer der Dienerinnen, die sich neugierig herzugedrängt hatten.

Wir wollen sie in das Zimmer schaffen, sagte Charlotte.

Nach einigen Augenblicken trat Charlotte wieder zu den Männern.

Es ist mir kein Zweifel, sagte sie, daß die Eve eine ganz bestimmte Kunde von den Plänen ihres Bruders hat. Warum sie ihn verräth, weiß ich nicht; aber daß sie ihn verräth, ist offenbar. Sei versichert, Karl, es ist, wie das Mädchen gesagt hat.

So müssen wir das Schloß in Vertheidigungszustand setzen! rief der Freiherr.

Ich glaube, daß Ihnen nichts Anderes übrig bleibt, sagte der Förster.

Dem Freiherrn röthete sich die Stirn; diesmal aber nicht Vor Zorn, vielmehr vor einer seltsamen freudigen Erregung, die ihm durch die Adern rieselte, in dem Augenblicke, als der Ruf zu den Waffen an sein Ohr und sein Herz drang. Seine Augen blitzten, seine Brust hob sich.

Wie viel Gewehre haben wir? rief er.

Ein Dutzend in Allem, erwiederte der Förster; das heißt, wenn Walter meine Gewehre, wie ich ihm geheißen habe, im Schlitten herausgebracht hat. Ich erwarte ihn jeden Augenblick.

Und auf wie viel Leute glaubst Du, daß wir rechnen können.

Auf ungefähr eben so viel, sagte der Förster.

Unmöglich! rief der Freiherr, wo sollten die herkommen?

Sechs sind wir, uns eingerechnet, hier im Schlosse, antwortete der Förster; die sechs Anderen habe ich heute Nachmittag auf jeden Fall geworben. Es sind alles zuverlässige Leute von Ihren Gütern, die für Sie wie für das gnädige Fräulein durch Feuer und Wasser gehen. Punkt sechs Uhr brechen sie auf, um sieben ist der Letzte hier.

Der Freiherr blickte seine Schwester, dann den Förster an; er legte Fritz Gutmann die Hand auf die Schulter und wollte etwas sagen, aber seine Lippen zuckten nur leise. Dann wendete er sich rasch ab und rief mit starker Stimme:

Halloh! Ihr da! Was steht und gafft Ihr! Kommt herein, und seid ruhig und verständig, und thut das, genau das, was ich und Herr Gutmann Euch zu thun heißen!


 << zurück weiter >>