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Vierunddreißigstes Capitel.

In Tuchheim war nach der gewaltsamen und schnellen Unterdrückung des von Tusky erregten Aufstandes die alte winterliche Stille wiedergekehrt.

Ja es war still, ausnehmend still auf den Gassen des großen Dorfes. Die Leute hielten sich in den Häusern; der Nachbar wagte kaum mit dem Nachbar über den Zaun hinüber zu sprechen. Die von dem Landrath alarmirte, unter Führung seines Bruders, des Hauptmanns, im Sturmschritt herbeigeeilte und so rechtzeitig eingetroffene Compagnie Soldaten lag noch im Dorf, und es war schon ein paarmal vorgekommen, daß ein vorlauter Bursch auf ein unbedachtes Wort, das er im Wirthshause hatte fallen lassen, verhaftet und nach dem Kreisgefängnisse zu den Uebrigen gebracht war. Zwanzig waren jetzt, Alles in Allem, eingezogen; in zwanzig Hütten fehlten ein paar starke Arme, die einzigen Arme vielleicht, welche das Brod für die Familie herbeischafften. Und dabei gingen über das Schicksal, das den Gefangenen bevorstehe, die trübsten Gerüchte. Langwierige Zuchthausstrafe war das Mindeste, was sie erwartete. Vielleicht fiel sogar ein oder das andere Todesurtheil. Dergleichen Schreckensnachrichten theilte Einer dem Andern flüsternd mit. Den ganzen Tag lang knarrten die Wagen, welche den Schutt des eingeäscherten Pfarrhauses über die hartgefrorene Straße fuhren. Sonst war es still, ausnehmend still im Dorfe.

Und still, sehr still, war es auch oben auf dem Schlosse. Der Freiherr ließ sich selten in dem Familienkreise sehen, und wenn er an der Mittags- oder Abendtafel erschien, war wenig von der sonnigen Heiterkeit an ihm zu bemerken, die sonst seine Mienen und sein Gespräch belebte. – Ich habe eine Menge verdrießlicher Geschäfte, sagte er wohl entschuldigend, wenn er bemerkte, daß sein düsteres Wesen den Anderen auffiel; ich bitte, sich nicht an mich zu kehren. So etwas kommt und geht vorüber.

Mit den verdrießlichen Geschäften hatte es freilich seine Richtigkeit. Die Voruntersuchung der Gefangenen hatte in der Kreisstadt ihren Anfang genommen; der Freiherr selbst mußte seine Aussagen zu Protocoll geben; er hatte es mit dem sichtbarsten Widerstreben gethan. Es schien fast, als ob nicht er der Geschädigte, sondern der Schädiger wäre und sich durch seine Auslassungen zu compromittiren fürchtete. Man sagte ihm das auch; er erwiederte ganz gegen seine sonstige Weise – kurz und hochfahrend. Schon während der Schreckensnacht war es zwischen ihm und dem Landrath von Hey zu den heftigsten Scenen gekommen. Er hatte dem Landrath ein Ueberschreiten seiner Befugnisse vorgeworfen und sich der weiteren Verfolgung der Dörfler, die sich bei dem Herannahen der Soldaten in ihre Häuser geflüchtet hatten, auf das Lebhafteste widersetzt. Sie haben Ihre Pflicht zu erfüllen, Herr Landrath, hatte er gerufen, und nicht mehr als das. Stellen Sie Ruhe und Ordnung her, wie Sie es nennen, aber ich protestire gegen die Mißhandlungen Wehrloser, wie sie hier von Ihren Soldaten verübt werden.

Die beiden Brüder von Hey wußten von dem sonderbaren, unverantwortlichen Benehmen des Freiherrn nicht genug zu erzählen. Der Landrath sprach davon, den Freiherrn wegen Beleidigung eines Beamten im Dienst belangen zu wollen; der Hauptmann von einer Herausforderung, die er Jenem zukommen lassen würde. Aber die beiden Herren hatten es aus diesem oder jenem Grunde vorgezogen, den persönlichen Beleidigungen und Kränkungen, die sie erfahren zu haben behaupteten, keine weitere Folge zu geben. Vielleicht waren sie selbst nach und nach zu der Ansicht gekommen, daß sie sich allerdings in jener Nacht von ihrem dienstlichen Eifer zu weit hatten hinreißen lassen.

Uebrigens machte die Sache das allergrößte Aufsehen im Lande. Die Revolution in Tuchheim war das Lieblingsthema der Zeitungen geworden. Besonders fielen die liberalen Blätter, welche um diese Zeit die Flügel kräftiger zu regen begannen, heißhungrig über ein Ereigniß her, das sich so köstlich in ihrem Sinne ausbeuten ließ. Nach ihrer Ansicht war die Bauernrevolte in Tuchheim ein viel schlimmeres Symptom der Mißregierung, als selbst die schnell unterdrückten Krawalle in der Residenz, oder der in gewissen Fabrikdistrikten chronisch gewordene Nothstand. Daß in großen bevölkerten Städten sich ein hungriges Proletariat ansammelte, daß die Ungunst der Conjunctur ein paar tausend Webestühle auf längere Zeit zum Stillstand brachte – ließ sich am Ende sehr wohl begreifen; aber die schlimme Lage der ländlichen Bevölkerung in einer nicht geradezu armen Gegend, eine Lage, die so schlimm war, daß sie die unglücklichen Menschen zuletzt zur Verzweiflung und in das offenbare Verderben trieb – welche Erklärung gab es dafür? Und in welchem Lichte zeigte es den Besitzer jener Güter? Wie mußte er durch schlechte Verwaltung, durch Ungerechtigkeit, durch Mißbrauch seiner Privilegien die von ihm Abhängigen gequält haben, bis sie die Hand gegen ihren Peiniger erhoben!

Es dauerte nicht lange, so wurde der Freiherr von Tuchheim der ganzen civilisirten Welt als ein Leuteschinder, als ein würdiger Nachkomme seiner Vorfahren, jener grimmigen Feudalherren des Mittelalters, denuncirt. Man erging sich in haarsträubenden Schilderungen dieses entsetzlichen Menschen; man brachte die greuliche Geschichte mit kaum veränderten Namen in schlechte Reime und sang sie auf den Jahrmärkten zur Drehorgel.

Der Freiherr litt unter diesen Angriffen umsomehr, als ihm sein Stolz nicht erlaubte, den Widersachern offen entgegen zu treten. Es sollte mir einfallen, mich mit dem anonymen Gesindel herum zu zanken, sagte er zu Charlotten; mögen sie ihr Aergstes thun; ich bleibe doch, der ich bin, vor mir selbst wenigstens, und vor Dir, an deren guter Meinung mir mehr gelegen ist, als an der von einem Heer obscurer Winkelscribenten.

Dabei versuchte er zu lächeln; aber es war das nur ein sehr flüchtiger Sonnenblick, und dann trat wieder der tiefe Schatten hervor, der jetzt beständig auf dem schönen Gesichte lag. Er hatte stets der unbeschränkten Preßfreiheit das Wort geredet, stets behauptet, daß der Mangel dieser Freiheit die Hauptquelle alles socialen und politischen Unglücks sei – jetzt, wo er seinen alten Namen, der ihm so heilig war, durch den Koth geschleppt sah, kamen ihm Augenblicke, wo er das ganze »Schreibervolk« am liebsten von der Erde vertilgt hätte. Und doch war er klug und ehrlich genug, um sich zu sagen, daß er sich damit der größten Inconsequenz schuldig mache.

Ich gebe zu, rief er, daß, wenn irgendwo, so hier, das Schwert, das die Wunde schlug, auch allein im Stande ist, die Wunde zu heilen; daß es nur an mir liegt, wenn ich das Publicum, das immer dem Marktschreier, der die besten Lungen hat, zuläuft, nicht auf meine Seite bringe – ich gebe es zu: hier ist eine Rettung möglich – vorausgesetzt, daß man sich vor der Berührung von Pech nicht scheut – aber wer rettet uns vor den Windungen der Bureaukratie, die unser bestes Leben ersticken, wie die Schlangen den Priester des Apollo? Ist es nicht entsetzlich, daß die beiden Menschen, welche allein das ganze Unglück angerichtet haben, jetzt von der Regierung auf jede Weise ausgezeichnet werden?

In der That hatte die Regierung sich beeilt, dem Landrath und dem Pastor für die Unbilden, welche sie bei der Tuchheim'schen Affaire erlitten hatten, die glänzendste Genugthuung zu geben. Wenige Wochen nach der Katastrophe wurde Herr von Hey nach der Residenz befohlen, um als vortragender Rath im Ministerium des Innern seine tiefen Einsichten in die Verhältnisse der ländlichen Bevölkerung besser verwerthen zu können; und wiederum war es wohl dem Einflusse des neuen Ministerialraths zuzuschreiben, wenn kurze Zeit darauf Doctor Urban eine Vocation als Hauptprediger an die Michaeliskirche in der Residenz und zugleich Sitz und Stimme im Landes-Consistorium mit dem Titel und dem Gehalte eines Consistorialraths erhielt.

Wenn ich je daran gezweifelt hätte, daß diese Regierung es noch bis zu einer Revolution bringen wird, rief der Freiherr, jetzt wäre es mir nicht länger zweifelhaft!

Der Freiherr übertrieb diesmal nicht. Die eingeleitete Untersuchung hatte eine Menge Dinge zur Sprache gebracht, welche sowohl auf die Amtsführung des Landraths, als auch auf den Charakter des Pastors ein sehr häßliches Licht warfen, und unzweifelhaft würde noch viel derartiges zu Tage gekommen sein, wenn man nicht die Vorsicht gebraucht hätte, einen dichten Schleier darüber zu decken. Nach Allem, was man erfahren konnte, schien es, daß die beiden Winkeltyrannen im vollsten Einverständniß mit einander die ihnen anvertraute Heerde an Seele und Leib geknechtet und die Gemüther auf das Aeußerste mit Furcht und Schrecken anzufüllen verstanden hatten.

Lange Jahre hindurch, bis in die letzte Zeit hinein, hatte man sich sehr selten zu beklagen, zu beschweren gewagt, und wenn man sich beklagte und beschwerte, hatte man vorsichtig die Namen der Gehaßten und Gefürchteten aus dem Spiel gelassen. Es mußte ein halbes Wunder genannt werden, daß ein einziger Mann in einer verhältnißmäßig so kurzen Zeit eine feige, willenlose Heerde zur Wuth der Empörung treiben konnte. Jetzt sehe ich erst recht, welch' ein ungewöhnlicher Mensch dieser Tusky war, hörte man den Freiherrn öfter sagen.

In der trotzigen Selbsthilfe, zu der Tusky gegriffen hatte, lag etwas, was den romantischen Sinn des Freiherrn wahlverwandtschaftlich berührte. Er ließ der Selbstbeherrschung, der Entschlossenheit, dem persönlichen Muth des Mannes volle Gerechtigkeit widerfahren. Der Schulmeister, meinte er, hat nur das Unglück gehabt, ein paar Jahrhunderte zu früh oder zu spät geboren zu sein, und – setzte er seufzend hinzu – ich glaube, Alles in Allem ist das auch mein Unglück.

Man hatte von den Flüchtigen seit jener Schreckensnachricht nichts gehört. Daß sie zuletzt in der Hütte der Weinbäuerin gewesen, war durch die Untersuchung festgestellt worden; seitdem war alle und jede Spur verschwunden. Niemand zweifelte daran, daß ein Mann von Tusky's Verschlagenheit und Kühnheit Mittel und Wege gefunden haben werde, sich und seinen Schützling in Sicherheit zu bringen. Wir haben es Beide gut mit dem Leo gemeint, tröstete der Freiherr den Förster, aber der Junge paßte nicht in unsere Verhältnisse. Er ist sträflich undankbar gegen uns gewesen, ohne Frage; er hat als ein unbedachter Knabe gehandelt, aber doch als ein Knabe, der einmal ein Mann zu werden verspricht – ich wollte nur, ich könnte dasselbe von meinem Sohne sagen.

Das niemals gute Verhältniß zwischen dem Freiherrn und Henri hatte sich seit der Schreckensnacht wesentlich verschlimmert. Was dem Vater ein Act traurigster Nothwehr gewesen, bei dem ihm das edle Herz geblutet, war dem Sohn im Licht eines herrlichen Sports erschienen; der Freiherr hatte ihm das Gewehr, welches er noch einmal auf die bereits in wilder Flucht Davonstürzenden abdrücken wollte, zürnend aus der Hand gerissen. – Ich kann viel verzeihen, sagte der Freiherr, beinahe Alles – kalte Grausamkeit nie!

Charlotte drang auf Henri's Entfernung. Soldat zu werden hatte Henri jetzt selbst aufgegeben; er erklärte seine Absicht, die Rechte studiren zu wollen. Man trat – durch die Vermittelung Herrn von Sonnenstein's, des Schwagers des Freiherrn – mit einem Privatgelehrten in der Residenz in Verbindung, der sich anheischig machte, Henri und Walter in kürzester Frist zur Universität vorzubereiten. So reisten denn die beiden jungen Leute ab – Henri mit verbissenem Groll wegen der Kränkungen und Demüthigungen, die er während der letzten Wochen in dem Hause seines Vaters nach seiner Behauptung hatte erdulden müssen – Walter mit einem Herzen, das von Schmerz und Wehmuth und Liebe übervoll war. Was konnte ihm die weite Welt, in die er jetzt hinausfuhr, bringen, das schöner war, als was er hier verließ? Er hatte, seitdem es beschlossen, daß er in die Residenz gehen würde, die gewaltigsten Pläne entworfen, in deren Perspective immer ein junger Ritter stand, dem zum Lohne für seine Heldenthaten ein wunderschönes Mädchen mit schlankem Leib und braunen Augen den Siegerkranz auf die Stirn drückte. Aber in dem Momente des Abschieds konnte er durch den Thränenschleier hindurch, der plötzlich über seine Augen fiel, das vielverheißende Bild nicht sehen, und sein einziger Trost war die blaßrothe Schleife, die er Amélie vor einem Jahr eines Abends beim Pfänderspiel glücklich entwendet und seitdem stets, zusammen mit den neuesten Gedichten, in der Brieftasche auf dem treuen Herzen getragen.

Nach der Abreise der beiden Jünglinge war das Leben im Schlosse noch stiller, aber nicht, wie Charlotte gehofft, wärmer und behaglicher geworden. Trotzdem der Freiherr jetzt nicht mehr die Berührung mit seinem Sohne zu scheuen brauchte, hielt er sich doch viel mehr als sonst in seinem Zimmer, und die körperlichen Uebungen, denen er sonst mit Leidenschaft ergeben gewesen war, schienen jeden Reiz für ihn verloren zu haben. Er begann, was er früher nie gethan, über Langeweile zu klagen, und verwünschte die Einförmigkeit des Landlebens, das so gar keine Anregung biete. Es war ganz auffällig, wie sehr er in den wenigen Wochen gealtert hatte. Sein Zustand flößte Charlotten die ernstesten Sorgen ein, und sie glaubte dem Freunde kaum, wenn er sie beständig auf das Frühjahr, das Alles wohl besser machen werde, vertröstete.

Unter solchen Umständen war der Schwager, welcher ganz unerwartet eines Nachmittags mit Extrapost ankam, Charlotten hoch willkommen.

Das Bankierhaus Sonnenstein hatte die Geldangelegenheiten der Familie Tuchheim schon seit langen Jahren vermittelt; die Väter der beiden jetzt lebenden Chefs der Familien hatten sich Freunde genannt; der verstorbene Freiherr hatte dem verstorbenen Bankier, der zum Christenthum übergetreten war, den Adel verschafft, und dieser hatte jenem wiederum zur Zeit der französischen Revolution die allerwesentlichsten Dienste geleistet. Es war ein Hinüber und Herüber von freundlichen Beziehungen gewesen, die sich zuletzt in der Verbindung Elfrieden's von Tuchheim, Charlotten's älterer Schwester, mit dem einzigen Sohn des Bankiers gipfelten.

Man hatte auf keiner Seite Ursache gehabt, die eingegangene Verbindung zu bereuen. Das Geld und der Credit des Bankierhauses hatten sich dem freiherrlichen Hause seitdem noch mehrmals sehr nützlich erwiesen; und wenn Herr von Sonnenstein versicherte, daß er die Ehre, welche ihm die Familie Tuchheim erwies, als sie ihm eine ihrer Töchter zur Frau gab, stets als das höchste Glück ansehen werde, so konnte man ihm darin auf das Wort glauben.

Er war stolz auf seine Verbindung mit der stolzen Familie und beklagte es bei jeder schicklichen Gelegenheit, daß ihm seine Gattin so früh durch den Tod entrissen wurde.

Nichtsdestoweniger hatte sich der gewandte Mann der Gunst des Freiherrn nicht zu erfreuen. Wie in so vielen Dingen des Freiherrn theoretische Ueberzeugung mit seiner Praxis nicht ganz stimmen wollte, so konnte er, der sich stets für Emancipation der Juden erklärt hatte, im Grunde seines Herzens sich nicht darüber wegsetzen, daß sein Schwager von Abstammung ein Jude – und noch dazu wie der Freiherr meinte – von reinster Rasse war. Wenn ihm Charlotte eine solche Verstocktheit vorwarf, so pflegte er sich lachend hinter Gretchen's: »Ich habe nun einmal die Antipathie« zu flüchten. Und dann, sagte er, ist mir der Mann zu positiv. Er rechnet mir zu gut. Er ist wie eine Naturkraft, die mit uns, ich meine mit unserm Seelenleben, eigentlich gar keine Gemeinschaft hat. Ich glaube, daß er mich gern hat, soweit ihm das möglich ist, aber ich bin überzeugt, daß er mich kaltblütig aus dem Leben hinausrechnen würde, wenn ich ihm so oder so in seinen Calcul nicht mehr paßte.

Daß der vielbeschäftigte Mann im Winter nicht eine so beschwerliche Reise ohne triftige Gründe unternommen haben würde, mochte Jeder, der ihn kannte, leicht ermessen; und in der That wartete er auch nur bis nach dem Frühstück des nächsten Tages, um die Geschwister von der eigentlichen Ursache seines Kommens zu unterrichten. Es habe ihm schon lange auf der Seele gelegen, daß der Freiherr aus den Gütern keineswegs den Ertrag ziehe, der daraus gezogen werden könne. So lange die Güter verpachtet gewesen seien, habe man daran nicht denken dürfen, jetzt aber müsse etwas Ernstliches geschehen. – Und ich weiß auch, was geschehen muß, fuhr er fort, und das danke ich, lieber Herr Schwager, den zahllosen Artikeln, in welchen die fatale Decembergeschichte von den Zeitungen ausgepreßt wurde. Man hat ja damals die Verhältnisse Ihrer Gegend in jeder Beziehung so gründlich auseinandergesetzt, daß man, wie Sie, in diesen Verhältnissen groß geworden sein muß, um nicht zu sehen, wo der Hase im Pfeffer liegt. Um es mit einem Worte zu sagen, dieser District, der, wenn je einer, zur fröhlichen Entfaltung des Fabrikwesens destinirt ist, quält sich ab, ein Ackerbaudistrict zu sein – und das geht freilich nicht. Oder man hat auch hie und da in dem Gebirge die Anfänge des Fabrikwesens – wie denn Eure elenden Nagelschmiededörfer nichts Anderes sind, als embryonische Fabrikstätten – aber man hat bis jetzt ohne Einsicht, ohne Umsicht und vor Allem ohne Kapital gearbeitet, und ist allerdings auf diese Weise über den Anfang des Anfangs nicht hinausgekommen. Haben Sie denn nie daran gedacht, lieber Herr Schwager, daß ein Bach von einer geradezu unerschöpflichen Wassermasse über eine halbe Meile lang auf Ihrem Grund und Boden fließt und, kaum aus dem Gebirge herausgetreten, sich in ein schiffbares Flüßchen ergießt, das wiederum nach kurzem Lauf in eine unserer größten Wasserstraßen fällt? daß Sie Holz, Kohlen und das schönste Roheisen in nächster Nähe haben, und – was die Hauptsache ist – einen Arbeitermarkt, auf dem das Angebot massenhaft, und so gut wie gar keine Nachfrage ist, das heißt, wo Arbeiter für ein Minimum zu haben sind? Ich habe mir schon Alles überlegt und ausgerechnet. Mit einem Anlagekapital von höchstens zweimalhunderttausend Thalern können wir ein Dutzend Eisenhämmer und Schneidemühlen herstellen und mit einem zweiten Zweimalhunderttausend eine Maschinenfabrik, die uns bald unsere hundert Procent und darüber abwerfen soll.

Herr von Sonnenstein setzte nun sein Project in den Einzelheiten auseinander und bewies, daß er wirklich Alles überlegt und ausgerechnet hatte. Es war kein Zweifel, der Plan hatte Hand und Fuß; die hohen Erwartungen, welche sich der Bankier von dem Gewinn des Unternehmens machte, schienen keineswegs übertrieben.

Dennoch bewies der Freiherr wenig Lust, die goldenen Hoffnungen, die sich ihm so plötzlich aufthaten, zu verwirklichen. – Er habe zu so großen Dingen kein Kapital, und überdies passe dergleichen gar nicht in seine Lebensgewohnheiten und Neigungen. Das Klappern der Maschinen, das Klopfen der Hämmer, der schrille Ton der Dampfpfeife, der Rauch der Schornsteine würden ihm das Landleben, das er so schon nur noch halb liebe, vollends verleiden.

Der Bankier wollte diese Einwürfe nicht gelten lassen. Wenn der Herr Schwager kein baares Geld habe – und er habe allerdings in der letzten Zeit ein wenig mehr gebraucht, als sonst – so würde er gern das Nöthige herleihen. Und was die Aversion des Freiherrn gegen den Steinkohlengeruch betreffe, so habe er ihm schon längst den Rath geben wollen, endlich einmal in die Residenz überzusiedeln, in der es jetzt, wo die Nachrichten von allen Seiten immer bedenklicher lauteten, lebhaft genug hergehe. Wenn ihn nicht Alles täusche, so stehe ein Gewitter in der Luft, das auf dem Punkte sei, loszubrechen. Es verlohne sich wohl der Mühe, dergleichen einmal aus der Nähe mit anzusehen.

Herr von Sonnenstein erschöpfte seine ganze Beredsamkeit, den Schwager für seine Projecte zu entscheiden, aber es gelang ihm nicht, wenigstens nicht ganz. Der Freiherr sagte nicht Ja, nicht Nein; er wolle sich die Sache überlegen. Herr von Sonnenstein mußte sich vorläufig mit diesem Erfolge begnügen. Wichtige Geschäfte riefen ihn nach der Residenz zurück.

Kaum war er fort, als es dem Freiherrn leid that, ihn mit so unbestimmten Hoffnungen entlassen zu haben. Das ganze Unternehmen zeigte sich ihm plötzlich von der heitersten Seite; der Gewinn, den es abzuwerfen versprach, sei wahrlich nicht zu verachten; ein armer Adel sei kein Adel; wenn der Adel nicht dem aufstrebenden Bürgerthum den Platz, der ihm gebühre, ganz räumen wolle, müsse er mit jenem im Erwerben Schritt halten. Sonst werde es in Deutschland gehen, wie in England, wo die Cotton-Lords und Geldsäcke bereits anfingen, die erste Rolle in der Gesellschaft und im Staate zu spielen.

Charlotte war betrübt, den Bruder so reden zu hören; aber sie enthielt sich weislich alles Widerspruches, der in diesem Augenblicke nur schaden konnte. Sie hoffte, daß die Zeit die Wunden der Kränkung, die der Aufstand dem Herzen des Bruders geschlagen hatte, heilen und daß der Frühling, der vor der Thür stand, Alles wieder gutmachen werde.

Es kam anders, als Charlotte gehofft hatte. Die Prophezeiungen des weit vorausschauenden Geschäftsmannes gingen mit wunderbarer Eile in Erfüllung. In Frankreich war die Revolution ausgebrochen, überall im eigenen Lande gährte es – man glaubte den Boden unter sich wanken zu fühlen. Der Freiherr vernahm die Nachrichten, die jetzt jede Zeitung brachte, mit sichtbarer Genugthuung. Ich kann nun mit ruhigerer Seele die Trümmerstätte meines eingeäscherten Hofes betrachten, rief er; es war eben ein Funke von dem großen Brande so weit vorweg dorthin geweht. Der Tusky war ein Sturmvogel; ich wette, wir werden ihn in den allernächsten Tagen hier unter uns erscheinen und sein angefangenes Werk fortsetzen sehen.

Der Freiherr hatte sich geirrt. Tusky kam nicht, und merkwürdigerweise blieb auf den Tuchheim'schen Gütern Alles ruhig, während rings umher die ganze Landschaft in hellem Aufruhr war und hie und da die gröbsten Excesse verübt wurden. Es war, als ob die Leute die derbe Lection, welche ihnen ihre verfrühte Revolution eingetragen, noch nicht vergessen hätten.

Desto ungeduldiger war der Freiherr selbst. Der Boden brannte ihm unter den Füßen; es duldete ihn nicht länger auf seinem schönen, stillen Gute. Charlotte sah, daß alles Abmahnen vergeblich war. So wurde denn die Uebersiedelung in die Residenz beschlossen und mit Eile, ja mit athemloser Hast vorbereitet. In weniger als acht Tagen war Alles zur Abreise bereit.

Niemand sah dem Augenblick derselben mit größerer Spannung und Freude entgegen, als Eve.

Eve hatte das Schloß seit jener Nacht nicht wieder verlassen. Fräulein Charlotte hatte, mild und gütig wie immer, sich der durch den Tod der Mutter und die Flucht des Bruders gänzlich Verwaisten angenommen und durch ihre stets gleiche Freundlichkeit nach und nach den starren Trotz des Mädchens zu mildern gewußt. Sie hatte mit Erstaunen unter der abstoßenden Hülle der Unwissenheit und sittlichen Verwahrlosung Spuren eines ungewöhnlichen Scharfsinns und eines leidenschaftlichen, nicht unedlen Herzens entdeckt und eine wirkliche Theilnahme für das Mädchen gefaßt, das sich auch an sie mit ganz besonderer Neigung anzuschließen schien. Dennoch war es dem Fräulein nicht unlieb, als vor einigen Tagen ein Brief von dem Castellan im Palais Sr. königlichen Hoheit des Prinzen, Herrn Amadeus Lippert, einlief, welcher im Namen seiner Frau, der Tante Eve's, die Nichte reclamirte. Das Kind werde es gut, sehr gut bei ihm haben; er werde für ihre Ausbildung gewissenhaft Sorge tragen. Fräulein Charlotte zog in aller Eile Erkundigungen über Herrn Amadeus Lippert ein, und als diese befriedigend ausfielen, Herr Lippert ihr von ihren Correspondenten als ein in seiner Weise sehr angesehener Mann bezeichnet wurde, schrieb sie zurück, daß sie selbst den Anverwandten ihren jungen Schützling zuführen werde. In der That hätte sie dieselbe doch auf jeden Fall anderweitig unterbringen müssen. Eve hatte den Trotz, den sie dem Fräulein gegenüber abgelegt hatte, gegen die jungen Mädchen in schroffster Weise herausgekehrt, besonders gegen Silvia. Durch nichts hatte sie bewogen werden können, Silvia auch nur einen freundlichen Blick zu gönnen; ja ein paarmal hatte Charlotte ihre ganze Autorität aufbieten müssen, um dem Ausbruch eines Hasses zu begegnen, der, wie keine bestimmte Ursache, so auch keine Grenzen zu haben schien. Als ihr angekündigt wurde, daß sie zu dem Onkel und der Tante in die Residenz solle, strich sie sich zuerst mit der Hand über die dichten Augenbrauen, und dann fiel sie Charlotten zu Füßen und küßte ihr leidenschaftlich Kleider und Hände. Mit Mühe brachte Charlotte heraus, daß, zu der Tante in die Residenz zu kommen, von Kindesbeinen an ihr höchster Wunsch gewesen sei. Früher hatte sie geglaubt, sie werde da nichts zu arbeiten haben und alle Tage herrlich und in Freuden leben; jetzt denke sie daran nicht mehr; jetzt denke sie nur daran, recht viel zu arbeiten und zu lernen, und auch eine feine Dame zu werden, die sich nicht mehr von einem Mädchen, das aus keinem besseren Stande sei, als sie, über die Achsel ansehen zu lassen brauche.

Es war am Abend des Tages, in dessen Frühe die zwei hochbepackten Reisewagen das Schloß und das Dorf verlassen hatten. Fritz Gutmann saß unter der großen Linde, die ihre ersten hellgrünen Blätter zu treiben begann, auf der Bank vor der Thür seines Hauses. In den Zweigen über ihm lärmten die Sperlinge, aus dem Walde rief der Kukuk, und vor ihm auf der Wiese schossen die ersten Schwalben im Zickzackflug hinüber und herüber. Aber Fritz Gutmann sah und hörte von dem Allen nichts; er sah nur immer die beiden großen Reisewagen um die Ecke biegen, er hörte nur immer die Stimmen derer, die er nun in so langer, langer Zeit nicht hören sollte, vielleicht – wer konnte es wissen? – nimmer wieder hören würde.

War es denn wirklich also? Sein Herr, sein geliebter Herr, hatte sich in den Tagen des herannahenden Alters, da jeder Mensch nach Ruhe verlangt, ruhelos losgerissen von dem Erbe seiner Väter, auf dem er geboren war, auf dem sterben zu wollen er oft und oft erklärt hatte? Losgerissen, weil, wie er sagte, er nach dem, was geschehen sei, sich nicht mehr Herr auf seinem Grund und Boden fühle; weil er das Bewußtsein, von seinen Leuten nur gefürchtet und nicht geliebt zu werden, nimmermehr ertragen könne! Würde er in der großen Stadt, wo Einer an dem Andern so gleichgültig vorübertreibt, mehr Liebe finden? nicht bald – ach, nur zu bald! – seinen Entschluß bereuen, sich dann doppelt und dreifach unglücklich fühlen, und doch zu stolz sein, seinen Fehler einzugestehen und zurückzukehren zu der Stätte, an die er mit tausend und tausend Banden der Heiligsten Erinnerungen gefesselt war? Ja, es war so! Und jene allzu große Empfindlichkeit des Herzens, aus der alle seine Tugenden und Schwächen flossen, hatte endlich doch in der zwölften Stunde den Sieg davongetragen!

Der Förster hob die Augen. Sein Blick fiel auf eine Tanne am Rande des Waldes, ihm gegenüber. Er selbst hatte sie vor dreißig Jahren gepflanzt, ein schwaches Reis, aus dem jetzt ein stattlicher Baum geworden war, in dessen Zweigen die Vögel nisteten.

Das hat sie werden können, weil sie nichts hat werden wollen, als sie selbst, immer nur sie selbst, durch Sonnenschein und Regen, durch Sommer und Winter. Ach, könnte doch der Mensch, der so viel mehr ist, als ein Baum, von dem Baume lernen, immer stetig aus sich heraus zu wachsen und seine edle Kraft zusammen zu halten! Was hilft es, das Gute zu wollen, wenn man es heute so will und morgen so, und übermorgen wieder anders? Das war meines armen Anton Krankheit; an der Krankheit ist er zu Grunde gegangen; und nun muß ich dasselbe an dem geliebten Herrn erleben! Ist es doch, als wenn er Anton's Wankelmuth nur deshalb immer so stark verurtheilt hätte, weil er sich selbst nicht sicher fühlte. Wie bald hat er den Muth verloren, die Güter selbst zu bewirthschaften, und doch hatte er sich fünfundzwanzig Jahre darauf gefreut! Jetzt freut er sich auf den Augenblick, wo hier in unsern stillen Wäldern das Pochen der Hämmer und das Rascheln der Maschinen erschallen wird – wie lange wird die Freude dauern?

Der Förster seufzte tief und verbarg das Gesicht wieder in den braunen Händen. Er dachte nicht an sich, nicht an die Arbeitslast, die ihm der Herr auf die Schultern gewälzt hatte; nicht daran, daß er unumschränkte Vollmacht hatte, Inspectoren ein- und abzusetzen, Leute zu miethen, zu entlassen, Gelder einzucassiren und zu verausgaben; daß er zwei Reitpferde im Stalle stehen hatte und eigentlich Herr war auf den schönen, großen Gütern. Er dachte nur immer daran, daß das Band, das ihn von seiner frühesten Erinnerung an mit dem geliebten Herrn eng und enger verbunden, nun doch zerrissen und die alte, gute Zeit unwiederbringlich vorbei sei.

Die alte, gute Zeit! Ja, ja, sie war vorbei. Die Welt war eine andere geworden, und die Menschen waren wie ausgetauscht. Das trieb und drängte, und wünschte und hoffte, und hatte keine Ruhe, keine Rast, und stellte sich ungeberdig, und that, als ob die Welt bis dahin ein Brachland gewesen wäre, das sie nun an einem Tage umzuackern, und nicht blos umzuackern, sondern auch fertig zu bestellen hätten, um wo möglich noch vor Abend die Ernte unter Dach und Fach zu haben. Nun ja, es könnte Manches anders und besser sein; aber so über Hals und Kopf läßt es sich denn doch auch nicht schaffen, und was man nicht mit saurer Mühe vorbereitet hat, das bringt auch nicht den rechten Segen. Und dann mögen die Jungen sehen, wie weit sie es bringen! Sie haben frische Säfte, und wenn die auch wohl einmal ein wenig toll gähren und treiben – es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Für den Walter ist mir gar nicht so bange. Er ist aus ganzem Holz und gesund bis in's Mark. Und selbst der Leo kann noch werden, wenn er die Welt sieht, wie sie ist, und begreift, wie viel die Liebe werth ist, die er so kalt verschmäht hat. Mögen sie irren – sie haben Zeit, von ihrem Irrthum zurückzukommen; aber wenn Jemand in unseren Jahren einen falschen Weg geht – er hat keine Zeit, die verlorene Zeit wieder einzuholen, keine Kraft, die verlorene Kraft wieder zu ersetzen.

Der Förster hob das Haupt, und es flog wie ein Sonnenblick über sein braunes Gesicht.

Aber warum sorge ich denn so um ihn? sagte er, steht sie ihm nicht zur Seite, die von jeher sein guter Engel gewesen ist und jedes Menschen guter Engel ist, dem der Himmel das Glück gab, in ihre Nähe zu kommen? Sie, vor deren Augen nichts Schlechtes bestehen kann, die Alles zum Besseren und Besten lenkt – sie, der ich ohne Bedenken meiner Seelen Seligkeit in die reinen Hände legen würde – sie, der ich mit gläubiger Seele meinen kostbarsten Schatz anvertraut habe!

Aus den dunklen Stämmen trat es wie eine schlanke Mädchengestalt mit blauen, strahlenden Augen und flatternden Locken hervor, aber nur für einen flüchtigen Moment; dann deckte sich ein undurchsichtiger Schleier über das helle Bild und über die ganze Welt, und der Förster drückte sein Gesicht in beide Hände.

Tante Malchen erschien in der Thür des Hauses. Als sie den Bruder erblickte, wie er dasaß, der starke Mann, und weinte, liefen auch ihr die heißen Thränen über die gefurchten Wangen; sie faltete die Hände und betete inbrünstiglich. Dann trat sie auf den Tiefgebeugten zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Bruder Fritz, sagte sie, Du mußt nun mit mir vorlieb nehmen. Es ist wenig, sehr wenig, was ich für Dich thun kann – ich weiß es wohl. Aber das Wenige ist auch für Dich – heute, wie alle Tage, bis mich der Herr zu sich ruft.

Der Förster schaute auf, er fuhr sich mit der Hand über die Augen, aber ohne Hast; er schämte sich vor der Guten seiner Thränen nicht.

Wir haben ja schon so manches Jahr zusammen durchgewettert, sagte er mit einem schwermüthigen Lächeln, manche Freud' und manches Leid. So werden wir auch wohl mit diesem fertig werden.

Tante Malchen wischte sich mit einem Zipfel der Schürze über die Wangen und nahm neben ihrem Bruder auf der Bank Platz.

So saßen sie lange nebeneinander, still, in sich gekehrt. Die Schwalben schossen hinüber und herüber, und wurden nicht müde, zu erzählen, daß der Frühling wieder da sei; aber den beiden guten Menschen unter der knospenden Linde war es, als ob sie verloren hätten, was ihnen kein Frühling zurückbringen konnte.


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