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Neunzehntes Capitel.

Das war nun so gekommen, allmälig, wie das Frühroth kommt, wie eine Knospe sich entfaltet; am wenigsten hätte der arme Junge es selbst zu sagen gewußt. Er wußte überhaupt nicht so recht, was es war; er wußte nur, daß Amélie braune Augen hatte, und wenn sie lachte – was sie oft that – die Spitzen von zwei Reihen blendendweißer Zähne und in der Wange ein allerliebstes Grübchen zeigte, das schon im nächsten Augenblicke wieder verschwand. Außerdem wußte er freilich auch noch, daß Amélie, so oft er sie sah, die allerzierlichsten Schnürstiefelchen trug, und daß sie ihren Dompfaffen mehr als Alles in der Welt liebte.

Dieser Dompfaffe war eigentlich die Veranlassung, oder doch wenigstens der erste Anfang von Walter's Leiden gewesen.

Sie hatten – Amélie, Silvia, Henri und Walter – einmal an einem Herbsttage – noch während Leo's Krankheit – einen Spaziergang durch den Garten und weiter den Schloßberg hinab durch einen Theil des Parkes gemacht, und waren Alle sehr ausgelassen und gewiß sehr harmlos gewesen, als Amélie plötzlich eines Dompfaffen ansichtig wurde, der auf einem schwanken Baumzweige saß und so melancholisch aussah und so melancholisch-monoton dazu pfiff, wie es eben nur ein Dompfaff vermag. Amélie, die noch nie einen solchen Vogel gesehen hatte, war über sein buntes Gefieder ganz entzückt gewesen und hatte in ihrer lebhaften Weise das Verlangen geäußert, das allerliebste Thierchen zu besitzen. Henri hatte gefragt, was sie mit dem dummen Gimpel wolle? Aber Walter war von dem Augenblicke an sehr still geworden, denn daß dieser Gimpel oder irgend ein anderer Gimpel gefangen werden müsse, hatte bei ihm sofort festgestanden, und die Frage war nur noch, wie dieses Ziel zu erreichen sei. Seine Gedanken drehten sich von der Stunde an um diesen Einen Punkt; er dachte nur im Vorübergehen daran, daß sein Vater dem Knaben das Fangen von Singvögeln auf das Strengste verboten hatte.

Der Gehilfe des Vaters, der in's Vertrauen gezogen wurde, fand die Sache bedenklich, sagte aber zuletzt doch seinen Beistand zu, als Walter mit der größten Leidenschaftlichkeit erklärte, daß, wer ihm in dieser Sache hülfe, für immer und immer sein bester Freund sein würde. So zogen denn die Beiden mehrere Tage lang hintereinander beim ersten Morgengrauen in den Wald, und der Zufall wollte, daß sie nach einer Woche fieberhafter Aufregung für Walter, der zuletzt am hellen Tage mit offenen Augen Gimpel auf den Stuhllehnen und Schränken sitzen sah, fingen, was sie suchten. Walter's Freude war grenzenlos. Er gab dem Gehilfen zwei blanke Thaler, die er bei seinem letzten Geburtstage von dem Vater erhalten hatte, und eilte dann in athemloser Hast mit dem kleinen hölzernen Bauerchen, in welchem der unglückliche Gefangene saß, nach dem Schlosse. Hier kam er gerade in dem Augenblicke an, als Miß Jones mit den beiden jungen Mädchen ihre gewöhnliche Morgenpromenade vor Anfang der Lectionen antreten wollte. Er konnte nur seine Mütze ziehen, einige gänzlich unverständliche Worte stammeln, das Bauerchen auf einen Gartentisch stellen und so schnell davonlaufen, als er gekommen war.

Nach dieser Heldenthat wagte sich Walter acht Tage lang nicht auf das Schloß und würde auch wohl noch sehr lange in dieser freiwilligen Verbannung gelebt haben, wenn nicht eines Tages Miß Jones mit den beiden Mädchen auf den Pfarrhof gekommen wäre, die beiden Knaben zu einem Spaziergang abzuholen. Walter's erste Empfindung, als der Besuch angekündigt wurde, war gewesen, auf die Gefahr hin, beide Beine zu brechen, aus dem Fenster zu springen und das Weite zu suchen; er wurde aber hieran von der resoluten Miß Jones gehindert, die etwas der Art geahnt haben mochte und in eigener Person ihn zu holen kam. Die Begegnung mit Amélie ging viel leichter von statten, als er zu hoffen gewagt hatte. Amélie reichte ihm die Hand und sagte, es sei ein reizendes Thierchen und sie sei ihm auch so dankbar. Das war Alles.

Als ob das nicht genug gewesen wäre!

Es war ein wonniger Spaziergang durch den herbstlichen Park, in Begleitung einer wunderbaren Musik, zusammengesetzt aus dem sanften Rauschen des Windes, dem Rascheln des Laubes und den hellen Stimmen der neckischen Mädchen. Dazu schien das Abendroth durch die Zweige, und Walter, der sehr still war, hatte eine dumpfe Ahnung, daß dies Alles wunderbar schön und viel zu schön sei, um länger als einen flüchtigen Augenblick dauern zu können.

Von diesem Abende an stellte sich zwischen dem Schlosse und dem Pastorhause ein lebhafter Verkehr her, in welchen seit dem Anfang des Winters durch die Quartett- und Tanzstunden-Abende eine gewisse Regelmäßigkeit kam.

Im Anfang war es Walter in der duftenden Atmosphäre der großen stattlichen Schloßzimmer – zwischen all' den prunkenden Möbeln, den Oelgemälden, Vasen, Statuetten, in dem Schein der großen Lampen, die von der Decke herabhingen und ihr mildes Licht auf die großen Blumen der Fußteppiche warfen, auf denen man fast lautlos dahinschritt – etwas ängstlich und beklommen gewesen; aber da Alle so gut gegen ihn waren und er sah, daß Silvia, die, wenn sie auch in jeder Hinsicht ein besonderes Kind war, doch am Ende immer seine Schwester blieb, gleichsam auf den Händen getragen wurde und recht eigentlich thun konnte, was sie wollte, so lernte er auch bald in dieser Luft freier athmen und sich wenigstens mit einiger Sicherheit bewegen. Einiges blieb freilich, was nicht so leicht wegzuschaffen war. Walter hatte den lebhaftesten Sinn für alles Schöne und Zierliche, einen Sinn, der bis dahin in der Einfachheit seines väterlichen Hauses vielfach geschlummert hatte, nun aber in dieser Umgebung, die in jedem Punkte den Stempel eines durchgebildeten Geschmackes trug, schnell und kräftig erwachte. So sah er denn auch mit diesen seinen geöffneten Augen, daß er recht unschön, ja geradezu lächerlich angezogen war, wenn er seine plumpen, unbequemen Dorfkleider mit den hübschen, nettsitzenden Kleidern aus den feinsten Stoffen verglich, in welchen, wie Walter bald heraushatte, ein großer Theil von Henri's Grazie bestand. Mochte er thun, was er wollte, er konnte in seinen groben Stiefeln keine so zierlichen Pas wie sein glücklicherer Nebenbuhler machen, und das kränkte ihn tief, weil er fühlte, daß er es besser machen könne und es auch Amélie's halber, die für gewöhnlich sein Partner war, gern besser gemacht hätte. Silvia hatte gut lachen. Mädchen sind immer zierlicher gekleidet, und dann hatte Amélie, die mit Silvia von Einer Größe und Gestalt war, nicht geruht, bis ein nicht geringer Theil ihrer Garderobe aus ihrem Besitz in den Silvia's übergegangen war. Silvia hatte gut lachen.

Aber er! Er hätte manchmal weinen mögen, wenn er seine Garderobe musterte. Wie diesen abscheulichen Rock mit den blauen Stahlknöpfen und den hochaufgepauschten Achseln hatte er in seinem Leben noch nichts gehaßt, es hätte denn die Weste mit dem Muster aus weißen und blauen Blümchen sein müssen, die Henri beständig mit mitleidslosem Spott die Bratenweste nannte.

Henri fiel es nicht ein – Walter hätte nichts von ihm angenommen, ganz gewiß nicht – aber Henri fiel es auch nicht einmal ein, seinem so dürftig ausgestatteten Kameraden etwas von seinem Ueberfluß anzubieten. Er fand es auch ganz in der Ordnung, daß der Sohn von seines Vaters Förster so wie andere Bauernknaben, oder doch ungefähr so gekleidet sei; ja er sprach das, wenn er zu den Schloßabenden Toilette machte – was immer eine geraume Zeit in Anspruch nahm – ganz naiv aus. Walter, der sich seiner abhängigen Stellung vollkommen bewußt war, konnte nichts dagegen einwenden, obschon er unter der Härte des socialen Gesetzes, auf das Henri sich beständig berief, so empfindlich litt. Henri fuhr fort – selbst in Gegenwart der Anderen – von Walter's Bratenweste zu sprechen, bis der Freiherr es eines Abends hörte und mit einer Heftigkeit, die man sonst bei ihm nicht gewohnt war, sich dergleichen unwürdige Albernheiten auf das Ernstlichste verbat. Das war kurz vor Weihnachten gewesen, und zu Weihnachten wurde Walter von seinem Vater mit ein paar ganz neuen Anzügen beschenkt, die mit dem verhaßten Rock und der Bratenweste sehr wenig Aehnlichkeit hatten. Walter war dem Vater sehr dankbar; er hatte keine Ahnung davon, daß der Freiherr der eigentliche Geber war.

Doch das Alles waren am Ende nur Kleinigkeiten – Staub-Atome, die vor einem glänzenden Gemälde vorübertanzten. Amélie blieb bei alledem doch die reizende kleine Fee, die nur in die Hände zu klatschen brauchte, um Alles rings umher in ein Zauberland zu verwandeln. Sie war für den armen Jungen der Inbegriff der Zierlichkeit, Schönheit, überhaupt jeder Tugend des Leibes und der Seele. Je häufiger er auf dem Schloß war und sie sah, desto voller wurde sein Herz von ihrer holden Anmuth, bis, als der Frühling kam und der Sommer, sein volles Herz überfließen mußte, nur daß der arme Junge leider nicht wußte, wem er den kostbaren Schatz seiner Gefühle anvertrauen könne. Leo suchte mehr als je die Einsamkeit; Henri sprach immer so leichthin von den Damen im Allgemeinen und nahm sich gegen das hübsche junge Dienstmädchen im Pastorhause allerhand Freiheiten heraus, die Walter entschieden mißbilligte – Henri konnte man dergleichen unmöglich sagen; Tante Malchen sah er jetzt sehr selten – so blieb denn Niemand als Frau Urban, die stets so unendlich gut gegen ihn war und die er in Folge dessen und ihres Unglücks wegen sehr schätzte und liebte. Walter dachte nicht daran, ein Geständniß abzulegen, er wußte kaum, daß er etwas zu gestehen hatte – er wollte nur Jemand haben, mit dem er über Amélie sprechen konnte, und da war Frau Urban ganz die geeignete Person. Sie wurde nicht müde, dem Knaben zuzuhören, wie er nicht müde wurde, zu erzählen – harmlose Geschichten, in denen allen eine braunäugige Schönheit von vierzehn Jahren die Hauptrolle spielte, während ein unbeholfener Knabe von sechszehn sich scheu im Hintergrunde bewegte.

Aber so erquickend auch diese Plaudereien waren, sie erschöpften doch nicht das Meer von zärtlichen Empfindungen, das in dem Herzen des armen Walter wogte, und eines Abends, als er sich allein in den Park gestohlen hatte bis zu einer Stelle, von der aus man das Schloß und besonders einen Erker, in dessen Fenster ein Vogelbauer stand, übersehen konnte, schrieb er mit zitternder Hand etwas in seine Brieftasche, was, wenn es keine Verse waren, mit Versen wenigstens eine große Aehnlichkeit hatte. Walter hatte nie geglaubt, daß er es bis zu einem Gedicht bringen könne, und Leo stets um sein poetisches Genie beneidet; er hätte auch nicht gewagt, was er geschrieben, irgend einem Menschen, selbst nicht einmal seiner guten Frau Urban, zu zeigen; aber der einmal entfesselte castalische Quell war nicht mehr zu hemmen. Er ging umher, Trochäen und Jamben fingerirend, und dabei beständig in Verzweiflung, daß sich auf Amélie so wenig reimen wollte. Was redete sich der gute Junge nicht Alles ein, und welche wunderbare Dinge sagte er nicht von sich aus, wenn sie gerade in den Reim paßten! Wenn man ihm glauben wollte, so war es in seiner Brust öde, in seinem Herzen tiefe Nacht gewesen, bevor er »sie« gesehen; »sie« hatte ihm eine »neue Religion« gegeben; durch »sie« war er ein anderer, ein guter Mensch geworden, wobei er Andeutungen von einem früheren Seelenzustand machte, dessen Qualen in der That entsetzlich gewesen sein mußten. Er gelobte bei den grauen Locken seines Vaters – der Förster erfreute sich noch der ursprünglichen braunen Farbe seines schlichten Haares – daß er keinen andern Gedanken habe, als »sie zu beglücken«, daß er »sie«, wenn das möglich sei, noch mehr »achte als liebe«, daß er dieser Liebe treu bleiben werde, wenn auch »von ihren schönen Wangen der Reiz der Jugend abgeblüht.«

Dazwischen liefen dunkle Hinweise auf ganz ungeheure Thaten, die er für »sie« vollbringen werde, die er – da diesmal der theure Name durchaus nicht in das Versmaß wollte – nicht nennen zu dürfen behauptete, damit die Engel nicht eifersüchtig würden und »sie« ihm raubten.

Mit dieser erhabenen Lyrik bedeckte Walter nach und nach viele Blätter, die er auf das Sorgsamste sammelte und nicht minder sorgsam vor den profanen Blicken der Anderen versteckte. In der einzig verschließbaren Schublade seines kleinen Pultes ruhten in einem mit rothem Papier überklebten Pappkasten, in welchem Tante Malchen einmal Baumwollenstrümpfe für Silvia aus der Stadt geschickt bekommen hatte, diese kostbaren Blätter, und auf dem Deckel des Kastens war ein Zettel befestigt, mit der melancholischen Inschrift, daß er (Walter), im Falle ihn ein plötzlicher Tod aus einem Leben, das keinen Reiz mehr für ihn habe, abrufen sollte, den, welchem dieser Kasten zuerst in die Hände falle, »bei Allem, was ihm heilig sei«, beschwöre, den Inhalt desselben ungelesen zu verbrennen und »die Asche in die vier Winde zu streuen.«


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