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Fünfundvierzigstes Capitel.

Leo hatte nicht weit zu gehen, denn das Haus Sonnenstein's lag in derselben Straße, deren ganz besondere Zier und vorzüglicher Schmuck es, wenigstens in den Augen des Besitzers, war. Andere wollten den Geschmack nicht ganz loben und tadelten besonders die Ueberladung mit Ornamenten. Wie dem auch sein mochte, das gewaltige Haus machte einen stattlichen Eindruck, besonders jetzt in der trüben Dämmerung eines hereinbrechenden Winterabends, wo der frischgefallene Schnee jede vorspringende Kante und Verzierung von der grauen Hauptmasse abhob. Gerade als Leo die Portierglocke zog, kam eine glänzende Equipage schnell die Rampe heraufgefahren, und Emma stieg aus. Sie traf mit Leo noch in der Thür zusammen.

Ach, das ist charmant, rief die junge Dame, das trifft sich herrlich! Ich habe doch einen wahrhaft divinatorischen Geist. In dem reizendsten tête-à-tête mit einer Busenfreundin ließ es mir keine Ruhe; ich ahnte, daß Sie kommen würden; ich habe sehr, sehr nothwendig mit Ihnen zu sprechen.

Leo verbeugte sich, konnte aber nicht leugnen, daß er nicht der Tochter, sondern des Vaters wegen, der ihn erwarte, gekommen sei.

Die bösen, bösen Männer! rief Emma; gewiß soll wieder politisirt werden, aber hernach erwarte ich Sie bestimmt. Ich muß um acht Uhr in's Concert; wenn Sie so lange bleiben, kann ich Ihnen noch Jemand vorstellen, der Sie interessiren wird.

Damit rauschte Emma davon, und Leo folgte dem harrenden Diener in das Cabinet des Bankiers.

Herr von Sonnenstein empfing Leo heute mit besonderer Freundlichkeit. Er ließ Rheinwein bringen, schob eigenhändig die schweren Lehnstühle näher an den Kamin, fragte, wie Leo sich in seiner neuen Wohnung gefalle, und kam nach dieser Einleitung zu seinem Thema.

Einem klugen Mann wie Ihnen gegenüber, sagte er, an dem Wein nippend, ist unumwundene Aufrichtigkeit immer die beste Politik, und so sage ich Ihnen denn ganz aufrichtig, lieber Doctor, daß ich – daß Sie mir einen großen Dienst leisten können, und daß ich im Begriffe bin, Sie um diesen Dienst zu ersuchen.

Leo erklärte seine Bereitwilligkeit und hoffte, daß er im Stande sei, sich so, wie er wünsche, dienstbar zu erweisen.

Sie sind dazu im Stande, sagte der Bankier, Sie oder Keiner, wie es im Lustspiel heißt – schmeckt Ihnen der Wein? – ja, Sie oder Keiner, denn Keiner steht den beiden Parteien so nahe, wie Sie, ohne von der einen oder der anderen Seite beeinflußt zu sein, und besitzt zugleich Geschäftskenntniß genug, um in der Sache ein competentes Urtheil zu haben. Sie ahnen wohl schon, daß es sich um eine Differenz handelt, die zwischen meinem Schwager und mir nun schon seit vier Jahren obwaltet.

Ich ahnte etwas der Art, erwiederte Leo mit leichtem Lächeln; denn der Freiherr hat mir ganz kürzlich einige Andeutungen über dieselbe Angelegenheit gemacht.

Und was hat er Ihnen gesagt? rief der Bankier eifrig; aber warum frage ich danach? denn was er Ihnen auch gesagt haben mag, das Wahre haben Sie auf jeden Fall nicht erfahren; das können Sie nur von mir, von einem Geschäftsmanne hören, dem es schon tausendmal leid gewesen ist, daß er sich mit einem Grandseigneur in ein Geschäft eingelassen hat.

Herr von Sonnenstein sagte dies in einem spöttischen Ton, war überhaupt erregter, als Leo ihn je gesehen. Er nippte an dem Wein und fuhr mit einer Stimme fort, welcher er vergeblich einen gleichmäßig ruhigen Klang zu geben versuchte:

Die Sache ist für Jemand, der überhaupt denken kann, die einfachste von der Welt. Ich brauche Ihnen die Motive, die mich vor nun sieben Jahren bewogen, auf den Gütern meines Schwagers die Fabriken anzulegen, nicht lange zu detailliren. Ich wollte Geld verdienen, das versteht sich, und hier lag es sozusagen auf der Straße: billige Arbeitslöhne, wohlfeile Betriebsmittel, Wasser in Fülle, Kohlen in der Nähe, fahrbare Straßen, in Aussicht stehende Eisenbahnen. Ich dachte sogleich an Eisenhämmer und Maschinenfabriken; es konnten in dem Artikel große Geschäfte gemacht werden. Wir vereinigten uns auf Grund der folgenden Bestimmungen: Ich gab das ganze Anlage- und Betriebskapital, nebenbei viermalhunderttausend Thaler, aus meiner Tasche, jedoch in der Weise, daß die Hälfte dieser Summe von mir für Rechnung meines Schwagers, der damals gerade keine baaren Mittel verfügbar hatte und dem es zu unbequem war, sich durch Hypotheken oder sonstigen Realcredit das nöthige Geld zu verschaffen, gezahlt wurde, natürlich gegen die üblichen Zinsen. Zu meiner Sicherheit ließ ich dieses Kapital als erste Hypothek auf die Fabrikgrundstücke eintragen. Der Werth des Grund und Bodens ward zu einem niedrigen Taxwerthe dem Unternehmen zur Last und dem Conto des Freiherrn gutgeschrieben. Ich habe mich Ihnen doch deutlich gemacht?

Vollkommen, sagte Leo. Sie hatten bei dieser Einrichtung von vornherein den Freiherrn in den Händen.

Der Bankier warf unter seinen buschigen Augenbrauen einen schnellen, prüfenden Blick auf seinen Gast; dann, als er Leo's unbewegtes Gesicht sah, sagte er lächelnd:

Nun ja, er hätte mit Jemand, der die Situation rücksichtslos ausgebeutet hätte, schlimmer fahren können: mit mir war das natürlich anders. Ich machte die Proposition, weil ich auf andere Weise nicht hoffen konnte, meinen Schwager bei der Sache zu interessiren, und dann, weil ich bei allem meinem guten Glauben an die Rentabilität der Unternehmung ein doch immer mögliches Risico als vorsichtiger Geschäftsmann nicht allein tragen mochte.

Gewiß, sagte Leo, denn, gaben Sie auch das ganze Kapital her, so war Ihnen der Freiherr doch für die Hälfte Garant und konnte Ihnen im Verlustfalle aus seinem Vermögen Ersatz leisten, ohne daß zu einer Subhastation der Fabriken geschritten zu werden brauchte. Im ungünstigsten Falle, wenn der Freiherr andere Zahlmittel nicht schaffen konnte, blieb Ihnen immer die Hypothek, durch welche Sie sich das Eigenthumsrecht auf das ganze Unternehmen sicherten. Ich bemerke dies blos, um Ihnen zu zeigen, daß ich Ihnen mit Aufmerksamkeit gefolgt und, wie ich glaube, au fait bin.

Durchaus, sagte der Bankier, Sie haben einen herrlichen Kopf für Geschäfte. Nun, die Sache kam in Gang. Fremde Arbeiter, die wir unter annehmbaren Bedingungen acquirirten, gaben den einheimischen die nöthige Anleitung; ein ansehnlicher Gewinn ward erzielt; die Harmonie zwischen mir und meinem Compagnon und Schwager, der, wie Sie wissen, unterdessen in die Stadt gezogen war und – unter uns – ein großes, ein zu großes Haus machte – konnte nicht vollkommener sein; er war mit seinem Gewinnantheil sehr zufrieden und dankte mir wiederholt für die Hartnäckigkeit, mit der ich ihn in die Unternehmung gedrängt hatte. – Aber schon gegen Ende des zweiten Jahres bekam das Ding ein anderes Aussehen. Ich hatte immer gefürchtet, daß die Concurrenz sich alsbald gierig auf die von mir aufgedeckte Fährte stürzen werde, und den etwaigen Ausfall auch von vornherein in Rechnung gebracht; aber es kam schlimmer, als ich gefürchtet hatte; die Fabriken wuchsen rings am Walde wie Pilze in die Höhe, zum Theil unter noch günstigeren Bedingungen; dazu wurden gerade damals die Conjuncturen in unserer Branche überhaupt schlechter; wir hatten an Außenständen große Verluste, und um das Unglück voll zu machen, brachten uns ein paar Waldbrände oben nach Tannenstädt und den anderen Dörfern hinauf – die jedenfalls angelegt sind, obgleich die Untersuchung nichts herausgebracht hat – einen solchen Wassermangel, daß wir uns entschließen mußten, einen artesischen Brunnen anzulegen. Sie wissen, was das sagen will! Kurz, es ward nicht nur kein Gewinn erzielt: es wurden neue Kapitaleinschüsse zur Deckung der Verluste erforderlich. Der Freiherr, der vertragsmäßig die Hälfte beizusteuern hatte –

Zahlte natürlich nicht, warf Leo ein.

Zahlte natürlich nicht, wiederholte eifrig der Bankier; er verlangte vielmehr, daß ich seinen Theil mit übernähme unter denselben Bedingungen, wie den ursprünglichen Kapitalantheil. Das konnte ich nicht und das wollte ich nicht. Ich war in meinem Bankiergeschäft bedrängt; ich verlangte von meinem Schwager nicht allein die Zinsen des Anlagekapitals, sondern auch mit Bestimmtheit die neuen Einzahlungen.

Die der Freiherr verweigerte, sagte Leo.

Die der Freiherr verweigerte, fuhr der Bankier fort, trotzdem ich bat, wo ich ein Recht hatte, zu fordern, bis ich endlich sogar mit Subhastation drohte.

Zu der Sie es selbstverständlich nicht kommen ließen, sagte Leo.

Bewahre, sagte der Bankier, es sollte nur ein Schreckschuß für ihn sein; aber die Drohungen hatten nicht besseren Erfolg, als die Bitten. Können Sie sich ein solches Benehmen erklären?

Nur durch eine Annahme, erwiederte Leo.

Und die ist?

Der Freiherr traut Ihnen nicht.

Hat er das gesagt?

Ich erwähnte schon vorher, daß der Freiherr sich nur in den allgemeinsten Andeutungen gegen mich bewegt hat, erwiederte Leo ruhig, während Sonnenstein's schwarze Augen fast ängstlich an seinem Gesichte hingen; oder vielleicht hat er wirklich kein Geld.

Unmöglich! rief der Bankier.

So bleibt eben nur die erste Annahme; aber Sie haben mir die Sache noch nicht zu Ende erzählt. Wir waren bei den mageren Jahren; es folgten denselben, wenn ich nicht irre, respectabel fette, die ja wohl auch noch andauern.

Nun ja, sagte der Bankier; ich hatte die Fabrik natürlich fortwährend im Gange erhalten; ich lebte mich in die Concurrenz ein, machte sie zum Theil todt; die Preise stiegen, während die Arbeitslöhne so ziemlich auf der ursprünglichen Höhe blieben; das Geschäft ging gut und geht gut, aber –

Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, sagte Leo, weiß das der Freiherr?

Nun ja, ohne Frage, das heißt –

Das heißt, er hat seit dem Ausbruch des Conflicts nie wieder Abrechnung erhalten?

Aber mein Gott, rief Herr von Sonnenstein, das ist ja selbstverständlich. Was hilft es, mit einem Partner abrechnen, der todter als todt ist?

Dann ist es, wie ich vorhin muthmaßte, sagte Leo; der Freiherr kann sich nicht denken, daß ein Unternehmen, welches in den ersten Jahren so gute Früchte getragen, sich von einigen Calamitäten, die es im dritten und vierten Jahre betroffen und deren Größe er jedenfalls unterschätzt, unter glücklicheren Conjuncturen, wie sie seitdem eingetreten sind, nicht schon längst erholt haben, und nicht die bedeutendsten Gewinne jetzt abwerfen sollte. Eine Rechnungsablegung, die ihn über den Stand der Dinge aufklären würde, kann er nicht gut fordern, da er zuvor zahlen müßte. Er ist also mißtrauisch und glaubt Ihnen nicht; er muthmaßt, daß Sie ihn hintergehen, daß Sie alleiniger Eigenthümer der Fabriken werden wollen, bildet sich auch vielleicht ein, daß Sie von vornherein die Sache darauf angelegt haben, denn ohne Zweifel ist für ihn die Eintragung seines Kapitalantheils als Hypothek auf die Fabrikgrundstücke im Anfang eine reine Formsache gewesen, bis ihm allmälig über die sehr ernste Bedeutung dieses Factums die Augen aufgegangen sind.

Das war doch das Mindeste, was ich zu meiner, zu des Geschäftes Sicherheit thun konnte! rief der Bankier.

Ich behaupte nicht das Gegentheil, erwiederte Leo, aber aus der dem Freiherrn so spät gewordenen Einsicht, die jeder Andere von vornherein gehabt hätte, nämlich: daß Sie die Situation von Anfang an beherrschten, ist sein Mißtrauen entsprungen und erhält ohne Zweifel aus derselben Quelle fortwährend Nahrung. Er ist über den Stand des Geschäftes im Unklaren, weil er nicht zahlt, und er zahlt nicht, weil er im Unklaren ist. Das ist, so viel ich sehen kann, der circulus vitiosus, in welchem sich der Freiherr seit vier Jahren bewegt und aus dem er schwerlich herauszubringen sein wird.

Aber er muß heraus, rief der Bankier hitzig, er muß heraus, oder er muß aus dem Geschäft, und Sie, lieber Freund, Sie müssen ihn herausbringen.

Aus dem Geschäft? fragte Leo lächelnd.

Nun, vorläufig aus den unsinnigen Einbildungen, die er sich in den Kopf gesetzt hat. Ich wiederhole es, Sie sind meine letzte Hoffnung. Ich weiß durch meine Tochter, daß der Freiherr die größten Stücke auf Sie hält; daß er sich über die Seltenheit Ihrer Besuche bitter beklagt, daß er Ihre Talente, Ihre Kenntnisse, besonders Ihre Einsicht in volkswirthschaftlichen Dingen höchlichst preist.

Das Letztere sollte mir bei Ihnen nicht zur Empfehlung dienen, warf Leo ein; Sie wissen, daß unsere Ansichten auf diesem Felde über sehr viele und sehr wichtige Punkte bedeutend auseinander gehen.

Ah bah! sagte der Bankier, das sind theoretische Wortgefechte; in der Praxis sieht das Alles ganz anders aus, und hier handelt es sich um einen rein praktischen Fall, an dem gar nichts zu drehen und zu deuteln ist.

Leo war im Grunde nicht abgeneigt, die ihm anvertraute schwierige Mission zu übernehmen. Er zweifelte nicht, daß in diesem Falle, wie in den meisten Fällen der Art, auf beiden Seiten Uebergriffe und Ungehörigkeiten vorgekommen sein würden; jedenfalls mußte sein Einfluß hier wie dort steigen, und die Kunde von dem ehrenvollen Amte eines Vermittlers, das ihm in einer so wichtigen Angelegenheit geworden war, sein Ansehen bei der Partei und selbst bei dem Publikum – das dergleichen immer erfährt – vermehren oder gründen. Außerdem – und das war das Wichtigste – erlangte er so das Recht, von dem Bankier einen Gegendienst zu fordern. Erst in Sonnenstein's Händen gewann der Brief des Prinzen die rechte Bedeutung, das rechte Gewicht.

Während er dies bei sich überlegte, drang der Bankier mit tausend Gründen in ihn, alle Bedenken fahren zu lassen. Einsicht in die Bücher, so weit sie ihm zur besonderen Information nöthig scheine, verstehe sich von selbst; überhaupt sei er zu jeder Auskunft bereit; er könne es bei Groschen und Pfennig nachweisen, daß der Freiherr sich gröblich irre, wenn er glaube, daß die Verluste, welche die Firma inzwischen auf sein Conto übernommen habe, bereits gedeckt seien. Dann kam er wieder darauf zurück, daß Leo der einzige schickliche Vermittler sei. Alfred habe nicht den rechten Sinn für Geschäfte, sei zu sehr der glänzende Cavalier; Henri, der übrigens dem Onkel vollkommen Recht gebe, stehe mit dem Vater auf einem zu schlechten Fuße; er selbst habe früher wiederholt versucht, dem Freiherrn das Sachverhältniß darzulegen, aber es sei unmöglich gewesen.

Wie wollen Sie Geschäfte abmachen mit einem Manne, der die Person nicht von der Sache zu trennen weiß? der mir seine Ahnen vorrückt, wenn er sich verrechnet hat? und seinen unbescholtenen Namen, wenn er nicht zahlen will? Was thu' ich mit der Unbescholtenheit? Warum hat sich mein Großvater taufen lassen, wenn ich noch immer der Jude bin, der dem vornehmen Herrn das Blut aussaugt? Warum hat der König meinem Vater den Adel gegeben, wenn mein Wort nicht gelten soll, wie eines anderen Edelmannes Wort? Warum hat man mir die Tochter antrauen lassen, wenn die Schwägerschaft nur so lange dauert, als ich geduldig alle Grobheiten einstecke, mit denen man mir mein gutes Geld verzinst?

Die schwarzen Augen des Bankiers funkelten unter den buschigen Augenbrauen, und seine zarte, schlanke Gestalt bebte. Es war das erste Mal während dieser Unterredung, daß die verhaltene Leidenschaft des Mannes blitzgleich hervortrat, und schnell wie ein Blitz war sie auch wieder verschwunden.

Mit Ihnen ist das anders, fuhr er, sich zum Lächeln zwingend, fort. Sie sind ein Mann der Wissenschaft – da gilt Jeder so viel, als er werth ist. Ueberdies haben Sie beneidenswerth starke Nerven und lassen sich nicht imponiren durch Blicke von oben herab. Sie müssen mir helfen, ich kann nicht offen brechen mit meinem Schwager; damit würde aller Vortheil der Verschwägerung mit den Tuchheims zum Kukuk sein. Die alten Geschlechter hangen an einander wie die Kletten, und wenn der Freiherr auch jetzt politisch ein wenig anrüchig ist – wehe mir, wenn ich es wagte, ihm die Hüfte zu rühren! Der Adel, der Adel, lieber Freund! Sie wissen nicht, was das bedeutet!

Vielleicht doch, erwiederte Leo; man sammelt das so am Wege auf, wenn man die Augen nicht verschließt. So finde ich zum Beispiel diesen Brief aus der Feder eines höchst Adeligen sehr lehrreich. Kennen Sie die Handschrift?

Und er breitete den Brief, den ihm Ferdinand gegeben, vor dem Bankier aus.

Herr von Sonnenstein hatte nur einen Blick darauf geworfen, als er im höchsten Erstaunen ausrief:

Wie kommen Sie dazu?

Sie kennen also die Handschrift? wiederholte Leo.

Nun natürlich! rief der Bankier; ich habe sie wiederholt gesehen; der alte General von Schnabelsdorf, dessen Angelegenheiten ich besorge und zu dem ich häufig komme, hat mindestens ein Dutzend eigenhändiger Briefe von ihm. Aber wie um Alles in der Welt –

Lesen Sie! sagte Leo.

Der Bankier nahm seine Lorgnette wieder vor die Augen und begann, unterbrach sich aber alsbald und rief mit dem Ausdruck fast des Schreckens:

Das ist ja offenbar an den Fürsten von –

Lesen Sie! sagte Leo.

Der Bankier kam nicht schnell mit der Lectüre zu Ende; als er nach einiger Zeit das Blatt auf den Tisch sinken ließ, trug sein Gesicht den Stempel äußerster Rathlosigkeit.

Das ist unerhört, sagte er.

Durchaus nicht, erwiederte Leo, wenn Sie und Ihre Freunde nur hätten hören wollen – ich habe es Ihnen schon vor Wochen gesagt.

Das beste Einvernehmen mit dem Erzfeind aller europäischen Freiheit, dem alten schlauen Intriguanten; der offenste Hohn aller Constitutionen, cynischer Spott, sobald er auf die Bestrebungen der liberalen Parteien zu sprechen kommt – es ist unglaublich! Aber um Gottes Willen, Doctor, von wem haben Sie dies? Und Herr von Sonnenstein legte seine zitternde Hand auf Leo's Arm.

Leider ist es nur das Brouillon eines Briefes, sagte Leo ausweichend; daß es aber der Brief selbst sein sollte, läßt sich aus der Handschrift der ersten Seite deutlich ersehen. Uebrigens weiß ich mit Bestimmtheit, daß der Brief abgesendet ist. Ich verbürge mich dafür. Das muß Ihnen genügen.

Und Sie wünschen, daß ich dieses Blatt Anderen, ich meine den politischen Freunden zeige?

Ich habe es vorzüglich zu diesem Zwecke mitgebracht; ja, daß Sie Ihren ganzen Einfluß aufbieten, diesem Briefe in der Partei die Beachtung zu verschaffen, die er verdient, ist die einzige Bedingung, unter der ich mich verpflichten kann, meinerseits zu versuchen, wie weit mein Einfluß bei dem Freiherrn reicht.

Ich will sehen, was sich machen läßt, sagte der Bankier, Leo die Hand reichend.

Und so will ich mich Ihnen für heute empfehlen. Ich hatte noch vor, Ihrem Fräulein Tochter meine Aufwartung zu machen.

Thun Sie das, thun sie das, lieber Freund! rief der Bankier, und er begleitete Leo mit einer Höflichkeit in Worten und Geberden, die fast an Unterwürfigkeit grenzte, durch sein Vorzimmer bis auf den Corridor, rief dort einen Bedienten und befahl demselben, den Herrn Doctor zum gnädigen Fräulein zu führen.

Leo fand Emma nicht allein. Ihr gegenüber an dem Kamin in einer behaglichen Stellung saß Henri. Er war offenbar auf Leo's Kommen nicht vorbereitet gewesen, und die Ueberraschung mußte keine angenehme sein, denn seine lebhaften Züge nahmen einen sehr düsteren Ausdruck an. Auch Leo verlor für einen Augenblick die sichere Haltung, als er sich so plötzlich – zum zweiten Male in Emma's Salon – dem alten Schulkameraden gegenüber sah. Die beiden jungen Männer begrüßten sich sehr ceremoniell und wurden Beide nach dieser stummen Einleitung mit einem Male sehr gesprächig und mittheilsam. Emma war entzückt, sich so gut unterhalten zu hören. Sie lachte über Henri's Anekdoten, fand Leo zu sarkastisch, zu schlecht! und verlangte zu wissen, weshalb sich die Herren nicht öfter bei ihr träfen? – O, wie reizend wäre das! rief sie; wie sollte dies bescheidene Gemach ein Tempel des Geistes und Witzes werden! aber so lauft Ihr in Eure abscheulichen Clubs, oder vertändelt Eure Zeit bei dem Onkel Freiherrn; und an mich armes verlassenes Mädchen denkt Keiner. Aber ich weiß, was ich thue; ich werde in ein Kloster gehen und Nonne werden. Was soll ein sinniges, dem Höheren zugewendetes Gemüth, wie das meine, in dieser kalten, liebeleeren Welt?

Und. Emma stellte ihre kleinen Füße auf das Kamingitter und lehnte ihren Kopf hintenüber in das weiche Polster des Fauteuils.

Alfred von Sonnenstein unterbrach diese Unterhaltung, indem er, Hut und Reitpeitsche in der Hand, hereintrat und schon im Hereintreten rief: Aber, Henri, was soll denn das heißen! Ich warte und warte! Es ist die allerhöchste Zeit!

Was giebt es nun schon wieder, Ihr Barbaren! rief Emma.

Wir haben heute Probe, die letzte vor der Generalprobe; sagte Alfred.

Willst Du fort, Du böser Mensch! rief Emma, zu Henri gewendet. Sie müssen wissen, Herr Doctor, daß sie am Geburtstage des Kronprinzen ein Caroussel im Costüm reiten wollen. Henri commandirt – ich freue mich so darauf, mit ihm Ehre einzulegen, und nun will er nicht zur Probe! Fort, fort, Du Ungethüm!

Und Emma trieb Henri mit Fächerschlägen zum Zimmer hinaus, kam dann zu Leo an den Kamin zurück, warf sich in ihren Lehnsessel und brach in ein Gelächter aus, das gar nicht enden wollte.

Nein, das war zu schön, zu schön! rief sie einmal über das andere; haben Sie denn sein Gesicht nicht beobachtet, als Alfred in's Zimmer kam, und er sah, daß er fort mußte. Orestes hätte fast seinen Pylades verleugnet!

Er schien in der That sehr ungern zu gehen, sagte Leo; aber was finden Sie dabei so wunderbar? Daß die Leute Sie ungern verlassen, müssen Sie doch gewohnt sein.

Emma warf Leo einen dankbaren Blick zu.

Ach! sagte sie, daß es keine wahre Freundschaft giebt! Was hat er nur davon, daß er mir dieses ungestörte Zusammensein mit Ihnen nicht gönnt! Was ist der Grund – leugnen Sie es nicht, ich habe es wohl bemerkt – daß Sie selbst ihn lieber gehen, als hierbleiben sahen? Können wir nicht in Liebe und Unschuld zusammenleben, zumal jetzt, da wir Nachbarn sind? O, Doctor, Ihre Wohnung soll ja ein wahres kleines Museum sein! Pompeji und Versailles! Ich muß einen Blick in dies Heiligthum werfen, und wenn es nicht anders geht, werde ich vor Sehnsucht krank werden und mich in Ihrer Sprechstunde einfinden. Dann dürfen Sie mich ja nicht abweisen. Sie müssen überhaupt mein Arzt werden, Doctor! mein Seelenarzt! Unser alter Geheimrath versteht von meiner complicirten Natur nichts. Er hat keine Ahnung von dem feinen Zusammenhange meines psychischen und physischen Lebens. Deshalb darf er wagen, mir in's Gesicht zu sagen, daß mir gar nichts fehle. Nun, ich kümmere mich wenig darum, ob mein harmloses Dasein ein paar Jahre länger oder kürzer dauert; aber mein Bruder, mein armer Bruder!

Emma drückte ihr Taschentuch an ihre Augen und sagte hinter dem Tuche hervor in düsterem Tone:

Geben Sie meinem Bruder ein langes Leben?

Leo erwiederte, daß er ohne vorhergegangene genaue Untersuchung eine solche Frage zu beantworten gar nicht im Stande sei. Alfred sehe allerdings ein wenig angegriffen aus, das könne aber auch ebensogut die Folge des etwas raschen Lebens sein, das er in Gesellschaft seiner Altersgenossen zu führen scheine.

O, diese Männer, diese Männer! seufzte Emma; es ist entsetzlich, es muß entsetzlich sein, obgleich wir keuschen Frauen gar keine Ahnung haben, was Ihr eigentlich treibt. Ich vermuthe, Ihr spielt bis in die Nacht hinein und trinkt über die Gebühr viel Champagner. Oder ist das noch nicht Alles? Antworten Sie mir, Doctor! Oder antworten Sie mir lieber nicht! Ich will nichts weiter wissen, wenn das nicht Alles ist!

Leo hatte Emma's Geschwätz herzlich satt und wollte sich entfernen, aber Emma hielt ihn zurück.

Sie dürfen nicht fort, Doctor! Ich habe Ihnen ja noch eine interessante Bekanntschaft versprochen. Sie muß in wenigen Minuten kommen, mich zum Concert abzuholen.

Wer ist es?

Meine Cousine, Josephe von Tuchheim.

Ich glaubte, Sie hätten mit jenem Zweige Ihrer Familie gar keinen Verkehr? sagte Leo.

O Gott, das ist auch wieder so ein Beispiel der Argheit dieser Welt! rief Emma. Wir armen Mädchen müssen es büßen, daß unsere Väter nicht harmoniren, als ob wir auch nur das Mindeste dazu oder davon thun könnten! So gehe ich nun schon seit Jahr und Tag fast stets allein zu dem Freiherrn, denn der Vater und der Onkel können sich gar nicht miteinander stellen, und der Onkel hat sich ja auch wohl gegen den Vater in der Fabrikangelegenheit sehr schlecht benommen, und mit dem General steht der Vater ja auch nur so, daß es nicht Krieg und nicht Frieden ist. In Folge dessen sehen wir Mädchen uns auch so selten, daß es immer ein wahres Fest für uns ist, wenn es einmal geschieht.

Welcher Ihrer Cousinen geben Sie den Vorzug? fragte Leo.

O, ich liebe sie Beide so! rief Emma; aber wenn ich mich entscheiden soll, würde ich es für Josephe thun. Amélie ist, ganz unter uns, Doctor, eigentlich nur ein Gänschen von Buchenau. Sie ist lieblich, sanft und bescheiden; aber sie hat auch nicht einen Funken vom prometheischen Feuer, so ganz ohne Esprit, ich soll noch das erste Bonmot aus ihrem Munde hören. Josephe hat auch keinen Esprit; aber sie weiß, daß sie schön ist, und dies Bewußtsein giebt ihr ein Relief für ihre großen Manieren. O, sie hat Manieren, während Ihre prätentiöse Cousine Silvia nur gern welche hätte. Es ist ein Unterschied, wie zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Styl und Manier. Finden Sie Ihre gute Cousine nicht auch ein wenig manierirt?

Leo wurde die Antwort auf diese Frage erspart, denn in diesem Augenblicke meldete der Bediente Baronesse Josephe von Tuchheim.

Emma flog der Hereintretenden entgegen; aber wenn es, wie sie vorhin behauptete, für die Cousinen ein Fest war, sich einmal zu sehen, so wußte Josephine die lebhaften Empfindungen trefflich zu beherrschen; es regte sich nichts in ihrem schönen Gesichte, während Emma sie mit übertriebener Zärtlichkeit umarmte und sie unter einem Schwall von Worten an den Kamin zog. Leo war ein wenig zurückgetreten. Emma stellte ihn als einen werthen Hausfreund vor; Josephe erwiederte seine Verbeugung mit einer kaum merklichen Neigung ihres Hauptes.

Es ist so lieb von Dir, daß Du so pünktlich gekommen bist! rief Emma, und ich Treulose habe noch nicht einmal Toilette gemacht. Sei nicht böse, Liebe! es soll nicht lange dauern. Fünf Minuten! Nur eine bescheidene Blume in's Haar, wie es sich für mich unbedeutendes Mädchen schickt. Der Herr Doctor wird Dir Gesellschaft leisten.

Emma eilte aus dem Gemache; Josephe saß, die schöngeschweiften Brauen unwillig in die Höhe gezogen, da und blickte, an Leo vorüber, auf ein Bild an der Wand; Leo stand in der Nähe, an einen Tisch gelehnt, und blätterte in einem Album. Die Stutzuhr auf dem Sims des Kamins tickte leise durch die Stille.

Ich höre, das Concert heute Abend wird eines der schönsten in dieser Saison sein, sagte Leo emporschauend.

Ich glaube, ja, erwiederte Josephe, den Blick auf die Wand geheftet.

Man ist sehr musikalisch in der Residenz, sagte Leo.

Ich glaube, ja, erwiederte Josephe, ohne ihre Haltung zu ändern.

Ueber Leo's Gesicht flog ein Lächeln; er begann wieder in dem Album zu blättern.

Die Stutzuhr auf dem Kamin tickte noch lauter als vorhin. Die fünf Minuten, die sich Emma für ihre Toilette erbeten, waren längst vorüber, ohne daß eine von den beiden Personen im Zimmer die Lippen geöffnet hätte. Endlich kam Emma zurück in einem andern Kleide, mit einem reichen Putz in dem dunklen Haar und einem fliegenden Ueberwurf um die nackten runden Schultern.

Verzeihung, Verzeihung! Meine neue Jungfer ist ein Monstrum von Langsamkeit und Ungeschicklichkeit. Aber ich wußte Dich in der Gesellschaft des unterhaltendsten Mannes, Liebe! Das war mein einziger Trost. Warum lächeln Sie, Sie böser Mensch? Ist er nicht entsetzlich sarkastisch, Liebe?

Wollen wir gehen? sagte Josephe, indem sie sich erhob und nach der Thür schritt. Ich habe den Wagen warten lassen.

Nun, wie gefällt sie Ihnen? flüsterte Emma, indem sie beim Herausgehen Leo's Arm streifte; hat sie nicht große Manieren?

Ich glaube, ja, erwiederte Leo laut.

O, Sie sind horribel! Gehen Sie und kommen Sie das nächste Mal in einer weniger sarkastischen Laune.

Die Damen rauschten an Leo vorüber aus der Thür. Der Bediente warf den Schlag zu. Als der Wagen sich eben in Bewegung setzte, trafen Leo die schwarzen Augen Josephe's, die sich vorübergebeugt hatte und ihm voll in's Gesicht sah.

Sie ist in der That sehr schön! murmelte Leo.


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