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Achtundvierzigstes Capitel.

Es war eine stille, sternenklare Mitternacht. Der vor einigen Tagen gefallene Schnee war hart getreten, die Fußgänger eilten munteren Schrittes über die Trottoirs. Doch gehörte dieses Quartier nicht zu den belebten. Nur manchmal rollte eine von zwei feurigen Pferden gezogene Equipage rasch vorüber.

Leo hatte Silvia, als sie das Haus des Bankiers verließen, seinen Arm geboten; sie hatte ihn angenommen, obgleich sie es sonst vorzog, allein zu gehen. Die ungewohnte Haltung, die halbe Abhängigkeit von einem Anderen, nach dessen Bewegungen sie ihre Bewegungen abmessen mußte, machte sie befangen, umsomehr, als Leo kein Wort sprach. Sie selbst wußte nicht, was sie sprechen sollte, ob sie sprechen sollte. Dennoch hatte sie schon seit Wochen eine ungestörte Unterredung mit ihrem Vetter auf das Sehnlichste herbeigewünscht; ja, sie hatte Emma's Einladung nur in der unbestimmten Hoffnung, es werde sich diesmal die Gelegenheit zu einer solchen finden, angenommen; sie hatte ihn nach so Vielem zu fragen, ihm so viel zu sagen – und nun war ihr die Zunge gefesselt, und die Anstrengung, sich von dem Bann, der auf ihr lag, zu befreien, machte ihr Herz heftig schlagen. Endlich brachte sie die Worte heraus: Warum bist Du in der letzten Zeit so selten zu uns gekommen?

Ich war sehr beschäftigt, antwortete Leo.

Aber Du konntest den Freiherrn besuchen?

Auch nur in geschäftlichen Angelegenheiten, erwiederte Leo und versank dann wieder in seine Gedanken.

Es konnten keine angenehmen Gedanken sein. Silvia hörte, während sie schweigend an seiner Seite weiter schritt, deutlich sein rasches, zorniges Athmen; auch sah sie, indem sie die Augen schüchtern nach ihm wendete, daß sein Gesicht sehr finster und sein Blick unverwandt auf den Boden gerichtet war. Ein paarmal murmelte er unverständliche Worte durch die festgeschlossenen Zähne.

Warum sprach er nicht zu ihr? Warum theilte er ihr nicht mit, was seine Seele so mächtig bewegte? War sie seines Vertrauens nicht würdig? Hatte sie kein Verständniß für seine Gedanken, seine Pläne? keine Theilnahme für seine Enttäuschungen, seinen Schmerz? Aber was wußte er denn von ihr? Was wußte er davon, daß sie keines der Worte, die er an jenem ersten Abend zu ihr gesprochen, vergessen hatte, daß diese Worte eine Offenbarung für sie gewesen waren, die Offenbarung eines Lebens, wie sie es sich seit Jahren wünschte, träumte, eines Lebens im Vollen und Ganzen, eines Lebens, dessen mächtige Wogen den Menschen – gleichviel, ob zu seinem Glück oder Unglück – hoch emportragen über die sumpfigen Niederungen, in denen eine freie, große Seele verschmachtet? Was wußte er davon, daß sie ihn mit gespanntester Aufmerksamkeit auf seinem Wege begleitet, jeden seiner Erfolge triumphirend begrüßt hatte? daß sie an ihn glaubte, an die Unermeßlichkeit seiner Kraft, an die Größe seines Geistes, an die Lauterkeit seiner Absichten? vielleicht mehr an ihn glaubte, als er an sich selbst, jedenfalls tausendmal inniger, als die Menschen, die er dennoch seines Vertrauens würdigte, als eine Emma von Sonnenstein zum Beispiel, die damit prahlte, daß sie seine Erfolge gemacht, die sich rühmte, daß sie mit ihm einen geschwisterlichen Bund geschlossen habe? War es möglich? Konnte er, der Kluge, der Menschenkenner, wirklich so blind sein? Ist Emma wirklich Deine Vertraute, Leo?

Silvia hatte die letzte Frage laut gethan.

Wer sagt das? erwiederte Leo.

Sie selbst.

Leo lachte bitter. Da könnte ich doch ebenso gut dem schwatzhaften Rohr meine Geheimnisse anvertrauen; aber weshalb fragst Du das?

Um Dich zu warnen, falls es nöthig wäre. Ich glaube, daß Du großmüthig genug bist, wie es der Starke immer ist, und daß Du deshalb die Neigung hast, unbedeutende Menschen, wenn sie sich an Dich drängen, höher zu schätzen, als sie verdienen. Um so mehr freue ich mich, daß Du ihr nicht Dein Vertrauen geschenkt hast. Aber, wenn dies nicht der Fall ist, warum verkehrst Du so viel mit ihr, mit ihrem Vater, mit all' diesen Männern, die Dir gar nicht wohl gesinnt scheinen?

Weil ich sie brauche, oder vielmehr, weil ich sie brauchen zu können glaubte. Ja, Silvia, Du hast Recht: es ist eine Thorheit, an diese Menschen zu glauben, in denen der letzte Funke des heiligen Feuers längst erloschen ist. Kann Asche brennen? Ach, ich habe die ganze Zeit, die ich hier bin, nur in Asche gewühlt, und ich fühle den Geschmack auf meiner Zunge – den bitteren Geschmack!

Und kamst mit so großen Hoffnungen hierher, mit solchem Glauben an unser Volk, von dem Du mir an jenem ersten Abend sagtest, daß es allein zur Freiheit berufen sei, weil es allein unter allen Völkern zu denken vermöge!

Das Volk, ja; aber jene Männer, denen ich vorhin sagte, daß sie nicht denken könnten, sie sind nicht das Volk. Sie sind weiter nichts als eine Kaste, die in dem Fortgang unserer Entwickelung vielleicht einmal nothwendig war, die sich aber längst überlebt hat und jetzt nur noch die Vernunft zum Unsinn und die Wohlthat zur Plage macht. Sie, die Träger der Intelligenz, der Bildung! Lug und Trug und frevelhafte Anmaßung! Der Schatz unserer Bildung, der in den Werken unserer großen Dichter und Denker liegt, ist zu gediegen, zu schwer, als daß solche Hände ihn zu heben vermöchten. Sie haben diesen Schatz nicht münzen, sie haben ihn nur falschmünzen und so das arme, bethörte Volk um sein reiches Erbe betrügen können. Welche schwächste Spur der Hoheit und Majestät unserer geistigen Ahnen wäre denn auch in diesen elenden Epigonen! Was haben sie von dem umfassenden weltbürgerlichen Sinn eines Goethe, von dem idealen Pathos eines Schiller, von dem kampffrohen Muthe eines Lessing, von dem protestantischen Trotze eines Kant! Daß sie keine Dichter, keine Philosophen sind – ich wäre der Letzte, der ihnen das zum Vorwurf machte. Die Zeit braucht keine Dichter und Philosophen! Aber sie braucht Politiker, Staatsmänner, die auf diesem Gebiete das wären, was Jene in den rein geistigen Sphären waren, und wahrlich! noch soll von diesen Menschen der erste Gedanke kommen, durch den sie ihre politische, ihre staatsmännische Mission in jenem großen Verstande documentirten. Nein, wenn wir ihnen folgten, so würden alle Errungenschaften unserer Bildung auf die schmählichste Weise vergantert, wir würden noch unter das Niveau der übrigen Culturvölker herabgedrückt, unter das Joch des schnödesten Materialismus gebeugt werden. Schon triumphiren diese Baalspriester, diese Anbeter des goldenen Kalbes, aber sie triumphiren zu früh. Der Sinn des Volkes ist noch nicht erstorben; sie hoffen und harren, daß der Propheten Einer erstehen und ihnen das Gesetz deuten möge. Und das Gesetz ist für sie. Es will, daß die Niedrigen erhöht und die Hohen erniedrigt werden; es will, daß auch nicht der Geringsten Einer verloren gehe. Das verstehen sie nicht und können sie nicht verstehen. Ich verstehe es, ich fühle es, wie es aus meinem tiefsten Herzensgrunde quillt und immer quillt, oft in qualvollen Tropfen wie aus einer Todeswunde, oft in überfließender Seligkeit, die meine ganze Seele erfüllt, und wie der Mensch es doch nun einmal nicht weiter bringen kann auf dieser Erde, als dem höchsten Gedanken seines Geistes Ausdruck und Gestalt zu geben, so – bei den ewigen Sternen droben, die in demselben Glanze leuchten, wenn unser Leib längst zu Staub zerfallen ist! – will ich mein Alles an dies Eine setzen!

Leo hatte, während er so sprach, seine Schritte beschleunigt; Silvia hing an seinem Arm, zitternd vor innerer Bewegung, die Augen voll Thränen der Seligkeit und des Schmerzes. So lebte denn wirklich das Ideal ihrer Träume! Es gab einen Menschen, den das Gemeine nicht bändigte, der mit den ungeheuersten Entwürfen sich trug, wie Andere mit ihren Alltäglichkeiten – und dieser Mann war ihr so nahe, sie durfte ihn sehen, hören, sie durfte ihn bewundern, vielleicht mit ihm im Geiste leben. Aber wird er vollenden können, was er begonnen? Wird er nicht zusammenbrechen unter der ungeheuren Last?

Leo – sie sagen, Du sännest auf Unmögliches, Unausführbares; sie sagen, Du lehntest Dich auf gegen den Geist der Zeit und müßtest deshalb zu schlimmen Mitteln greifen.

Sagen sie das?

Leo ging eine Zeit lang schweigend weiter, dann fing er mit leiser Stimme wieder an:

Ich frage nicht, Silvia, wer Dir das gesagt hat; ich weiß, wie diese Tugendschwätzer über mich denken, aber ich möchte ungern, daß Du Dir ein falsches Bild von mir und meinen Bestrebungen machtest, und wie kannst Du ein richtiges haben, da Du mich so wenig kennst, da Dir die Dinge, um die es sich handelt, so fremd sind.

Doch vielleicht nicht so fremd, wie Du denkst, fiel ihm Silvia eifrig in die Rede; ich habe – sie stockte und fuhr dann in verlegenem Tone fort: ich habe Deine Schriften gelesen, die Du dem Freiherrn geliehen hast, und sonst auch wohl noch eines oder das andere Buch über dieselben Materien. Auch habe ich in diesem Winter die Zeitungen eifrig verfolgt.

In der That, erwiederte Leo, wer hätte geglaubt, daß aus dem romantischen Mädchen sich eine Politikerin entwickeln könnte! Aber freilich, ein ernsthafter Geist muß sich früher oder später den höchsten Fragen, die an den Menschen herantreten können, zuwenden; und wer der Sphinx einmal in das räthselhafte Angesicht geschaut hat, den hält ein Zauber gefangen, er muß weiter auf der gefährlichen Bahn hinauf, hinauf, ob auch Dohlen und Raben ihn warnend umkrächzen, ob auch der Abgrund drohend unter ihm gähnt. Du hast das Geschrei der Unglücksvögel vernommen, Silvia; nun höre auch einmal meine Summe.

Und Leo begann nun in großen Zügen ein Bild der politischen Lage, wie es sich seinem Auge darstellte, zu entwerfen. Er schilderte den Wirrwarr der Parteien, die Ohnmacht, die sich hüben und drüben offenbare, und unter diesen auf der Oberfläche vom Winde hin und her getriebenen, unerquicklich durcheinander rauschenden Wellen das dumpfgährende Meer des Volkes, in dessen Tiefe sich allmälig die ungeheuerste Revolution vorbereite. Er bewies, wie diese nothwendige, unvermeidliche Revolution in ihren Folgen unabsehbar schrecklich sein werde, wenn man ihr nicht entgegenkomme und so ihre Gewalt breche; wie dies aber von keiner Seite geschehe, weil man überall mit dem kleinlichsten Egoismus die kleinlichsten Zwecke verfolge, und wo wirklich einmal eine tiefere Einsicht sich finde, diese wieder durch Furcht oder Ohnmacht paralysirt werde.

Silvia hatte mit einer fast fieberhaften Spannung zugehört; jetzt athmete sie tief. Ja, ja, murmelte sie, nun erst verstehe ich, warum sie ihn immer fragten: Bist du der Juden König? Warum seine Anhänger ihn zum Könige salben wollten, warum seine Feinde immer fürchteten, er werde sich zum Könige machen. Sie wußten es, sie fühlten es, die Einen wie die Anderen, daß so Großes nur von einem König ausgehen könne, daß, wenn es Dauer und Bestand haben sollte, es von einem Könige ausgehen müsse. O, Leo, daß Du ein Mächtiger der Erde, daß Du ein König wärest!

Wer, der Großes plant, hätte den Wunsch noch nicht gehabt, liebe Silvia? erwiederte Leo lächelnd; ich kann Dir sagen, daß ich noch nie in nächtlicher Stunde an diesem Schlosse vorübergegangen bin und nicht in meiner Seele gedacht habe: er, dessen Ahnen sich diese gewaltige Veste thürmten, die wie ein Gebirge die Häusermassen privater Menschen ringsum überragt, er könnte ein Zeus sein mit olymposerschütternden Locken, und er ist nichts – als ein armseliger Mensch.

Sie standen und schauten zu dem Königsschloß hinauf. Aus den gewaltigen Portalen dämmerte das Licht von den großen Höfen; hie und da in den oberen Stockwerken waren einige Fenster hell; sonst lag das ungeheuere Bauwerk, als erzeuge es aus sich selbst die Nacht, die es umgab.

Auch ich gehe nie, ohne einen seltsamen Schauder zu empfinden, hier vorüber, sagte Silvia. Ich denke immer, wie mag es sich wohl athmen in diesen hohen Sälen? Welche Reden mögen diese vor allen Sterblichen bevorzugten Menschen führen, wenn sie unter sich sind? Welche Träume mögen ihnen kommen, wenn sie in stiller Nacht auf ihrem Lager ruhen? Wie kann man in einem solchen Hause wohnen und nicht groß denken und groß handeln? In einem Hause, wo jede Thür, jedes Fenster, jede Wand, jede Decke sagt: schämst du dich nicht, so klein zu sein?

Leo stand in düsteres Sinnen verloren.

Ja, ja, sagte er, die Mauern predigen schon deutlich genug, wenn sie nur Ohren hätten, zu hören; aber sie können ja nicht einmal die Menschenrede verstehen. Und wenn einmal ein freier Mensch zu ihnen zu sprechen wagt, dann ist es die alte Geschichte vom König Philipp und dem Marquis Posa. Wir haben uns ja schon einmal getroffen, er und ich, weißt Du noch, Silvia? Es war keine freundliche Begegnung, und Du warst, wenn ich nicht irre, ein wenig schuld daran, daß es eine so unfreundliche war. Wunderlich genug war diese kindische Scene, und wunderlich ist es doch, daß da oben, vielleicht hinter den erhellten Fenstern eine Verwandte von uns sitzt, die wir nicht kennen, die dem König in seinen jungen Jahren eine sorgsame Pflegerin gewesen ist, und, wie ich höre, noch bis auf den heutigen Tag sich seiner besonderen Gunst und Gnade erfreuen soll. Hast Du sie nie gesehen, diese unsere Tante, Silvia?

Nein, nie.

Wenn wir nun die breiten Treppen hinaufstiegen und uns bei der alten Tante melden ließen? Sie hätte gewiß viel merkwürdige Dinge zu erzählen. Was meinst Du, Silvia?

Ein Schauder schüttelte Silvia.

Komm, laß uns weiter gehen; es geht so eisig um das alte Königsschloß.

Sie schritten eiliger weiter und kamen bald in die Straße, in welcher das Hotel des Freiherrn lag. Als sie vor der Thür anlangten und Leo die Glocke zog, strich eine Frauengestalt, die ihnen schon den ganzen Weg vom Hause des Bankiers an in der Ferne gefolgt war, dicht an ihnen vorüber. Sie hatte einen dunklen Schleier in's Gesicht gezogen, konnte aber ihrerseits die Gesichter Leo's und Silvia's, auf die der Schein der Hauslaterne fiel, deutlich genug erkennen.

Hast Du die schwarze, verhüllte Gestalt gesehen? fragte Silvia.

Nein, erwiederte Leo.

Der Portier hatte die Thür geöffnet. Die Beiden reichten sich die Hand.

Deine Hand ist heiß und fieberhaft, sagte Leo.

Ich habe heute Abend so Manches gehört, was mein Herz heftig bewegt hat.

Das mußt Du Dir abgewöhnen, wenn wir, wie ich hoffe und wünsche, uns von jetzt an öfter über diese Dinge unterhalten sollen. Die wahren Leidenschaften sind die des Kopfes, nicht die des Herzens.

Er drückte ihr die Hand; Silvia erstieg rasch die Stufen, die von der Thür aufwärts führten. Dann wendete sie sich um und grüßte hinab. Das Licht der Flurlaterne fiel hell in ihr blasses Gesicht. Sie lächelte freundlich und winkte. Leo mußte an die verklärte Geliebte denken, die dem gefangenen Egmont im Kerker erscheint und ihn sich nach aus irdischen Banden zur himmlischen Freiheit ruft.


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