Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundfünfzigstes Capitel.

An demselben Abend und um dieselbe Stunde saßen an dem Kamin in dem Salon des Bankiers Fräulein Emma und ihre Cousine Josephe von Tuchheim. Emma las mit pathetischer Stimme aus einer Brochüre, die vor einigen Tagen erschienen war und in den politischen Kreisen der Residenz das größte Aufsehen gemacht hatte.

Ist es nicht prachtvoll? rief Emma, indem sie mit einer Miene des Triumphes das Schriftchen auf die Marmorplatte des neben ihr stehenden Tisches sinken ließ.

Du weißt, liebe Emma, ich verstehe nichts von diesen Dingen, erwiederte Josephe.

Und wenn Du nichts davon verstündest, sagte Emma eifrig – ich will es einmal annehmen, aber ich glaube es nicht – so müßte doch die Grazie des Styls Dich entzücken. Und dann wieder diese foudroyante Suade, diese – enfin, ich finde es himmlisch, göttlich. Professor Schneider, der heute bei uns dinirte, sagte, es habe seit den Lettres of Junius oder Julius – ich weiß nicht, wie er heißt – er soll ein berühmter englischer Publicist, ich weiß nicht, um welche Zeit gewesen sein – Niemand die Geißel der Ironie mit solcher Meisterschaft geschwungen.

In der That! sagte Josephe, die schöngeschweiften Augenbrauen hebend.

Geißel der Ironie! Ist das nicht auch schön gesagt, fuhr Emma fort; aber so ist es immer! Ein Funke vermählt sich mit dem andern; wie oft habe ich mir das gesagt, wenn ich mich in der Gesellschaft eines geistreichen Mannes befand. Wie oft ist mir da schon gewesen, als müsse ich laut rufen: Anch' io son' pittore! Ach, der Geist, der Geist! Freilich, ein Unterschied ist es immer; aber wer könnte sich auch mit ihm messen!

Mit wem? fragte Josephe, ein leises Gähnen mühsam unterdrückend.

Emma ließ ihren Fächer spielen und lächelte.

Nun, sagte sie, es ist am Ende ein öffentliches Geheimnis, oder: wie der Professor Schneider wahrhaft geistreich sagt: Er kann Alles, nur nicht sich selbst verleugnen. Sie ist von ihm – ich meine von Doctor Gutmann.

Emma sagte dies in einem Tone, der gleichgiltig klingen sollte, aber ihre Augen verriethen die Begierde, zu erfahren, wie ihre Cousine diese Nachricht aufnehmen würde. In der That belebten sich die schönen, kalten Züge der Dame ein wenig.

Derselbe, sagte sie, der den Roman geschrieben hat, von dem sie jetzt allenthalben reden?

Bewahre! rief Emma, das ist sein Vetter – ein junger, unbedeutender Mensch, den ich hin und wieder bei dem Onkel getroffen habe und der, unter uns, unserer geistreichen Cousine in etwas auffallender Weise den Hof macht. Uebrigens soll an dem Roman gar nichts sein, sagte mir vor einigen Tagen Henri – unbedeutend, wie der Verfasser. Nein, dieser Doctor Gutmann – aber Du hast ihn ja selbst schon bei mir gesehen – erinnerst Du Dich nicht, vor einigen Wochen, oder ist es schon länger her? – die vielen Gesellschaften machen einen ganz confus! – der schöne dunkle Mann, den ich Dir hier – o, jetzt erinnere ich mich ganz genau, als wir hernach in die Bach-Soiree fuhren. Du kannst ihn unmöglich vergessen haben.

Josephe hatte allerdings die Scene mit Leo nicht vergessen; aber die Erinnerung war durchaus keine freundliche. So sagte sie denn, es thue ihr leid, aber ihr Gedächtniß für Personen, besonders solche, die sie nicht interessirten, sei sehr mangelhaft.

Emma schlug die fetten Händchen zusammen, daß die goldenen Armbänder klirrten. Wen Leo nicht interessirte, an wem nahm der dann noch Interesse? Josephe unterbrach die Begeisterte, indem sie in schneidendem Tone sagte:

Liebes Kind! Du beweist durch das Alles nur, daß der Herr Doctor Dich interessirt, und zwar sehr, wie es scheint. Ueber den Geschmack läßt sich ja nicht streiten; ich hatte freilich geglaubt, daß Deine Ansprüche etwas höher hinauf reichten.

Emma ließ sich in die weiche Lehne ihres Stuhls sinken und blickte mit einem halb schmachtenden und halb verlegenen Blick nach der Decke.

Indessen, fuhr Josephe fort, Du mußt ja wissen, was Du thust. Der Reichthum Deines Vaters macht Vieles gut, und Du bist ja auch nicht gebunden, wie wir Anderen.

Emma nahm die Miene Jemandes an, der ein Unglück tief beklagt, aber weiß, daß er es nicht ändern kann, und entschlossen ist, es über sich ergehen zu lassen. Josephe war freilich sonst in Allem ihr Ideal, aber in Herzensangelegenheiten war sie immer von auffallender Beschränktheit gewesen.

Die höchste Freiheit – fing Emma an, war aber außer Stande, die Phrase zu vollenden, denn in diesem Augenblicke traten ihr Bruder Alfred und ihr Vetter Henri von Tuchheim in das Gemach.

Die Herren kamen von einem Diner, das sich über dem Nachtisch bei Wein und Würfeln etwas in die Länge gezogen hatte. Die rothen Flecke auf Alfred's Wangen waren heute größer als sonst, und seine großen langgeschlitzten Augen hatten eine unheimliche gläserne Starrheit. Auch schien die Stimmung des jungen Mannes keine besonders freundliche. In der That hatte er sehr viel mehr getrunken, als er vertragen konnte, und so viel verloren, daß es selbst ihm, trotz des fürstlichen Jahrgeldes, das ihm die Eitelkeit des Vaters sicherte, unbequem war. Henri dagegen war in seiner glänzendsten Laune. Er trank schon seit Jahren nie mehr, als er vertragen konnte, und hatte heute im Spiel ganz besonders Glück gehabt. Es lag ein schwacher Abglanz seiner frischen Jugend auf dem noch immer hübschen Gesicht, und seine Stimme klang hell und munter, als er jetzt auf die Damen am Kamin zutrat, ihnen die Hand reichte und sich neben sie in einen der Fauteuils sinken ließ. Alfred streckte sich in einiger Entfernung auf eine Causeuse und betrachtete melancholisch die Spitzen seiner Lackstiefel, die ihm keineswegs so bequem saßen, als es für Jemand, dessen Nerven angegriffen sind, wünschenswerth ist.

Ihr kommt gewiß einmal wieder von einem Eurer schwelgerischen Mahle, rief Emma; wenn ich doch nur einmal mit Sicherheit erfahren könnte, was Ihr lockeren Zeisige eigentlich treibt, wenn Ihr von vier bis neun Uhr an Euern Tafeln sitzt!

Mon dieu! Was sollen wir treiben? rief Henri lachend; wir stellen Betrachtungen an über die Vergänglichkeit und den Wechsel alles Irdischen und lassen dabei den Becher kreisen. Nicht wahr, Alfred?

Alfred stöhnte.

O, die Männer, die Männer! sagte Emma, die Herren der Schöpfung, denen Alles erlaubt ist, die Alles usurpiren; Alles für sich beanspruchen, überall das große Wort führen und in uns nur ein Spielzeug ihrer Laune sehen! Uns bücken und beugen, ihnen immerdar schmeicheln, das ist unsere interessante Aufgabe. Wehe uns, wenn wir zu denken, oder gar –

Politik zu treiben wagen! unterbrach sie Henri, indem er die Broschüre, aus welcher Emma vorher der Cousine vorgelesen, von dem Marmortischchen nahm. Sieh' einmal! Also auch damit beschäftigt sich unser allumfassender Geist! Und noch dazu mit dem Allerneuesten! Das hat Dich wohl sehr interessirt?

Sehr! sagte Emma; aber ihr Ton war nicht mehr so zuversichtlich wie vorher.

Nun natürlich! meinte Henri, wir lieben das Ueberraschende. Und überraschend ist es doch, seinen Vater und die Freunde, die er täglich um seinen Tisch versammelt, auch einmal in bengalischer Beleuchtung zu sehen. Es muß reizend sein! Zum Beispiel –

Ach, bitte, lieber Henri, verschone mich! sagte Josephe; ich habe an einem Male vollkommen genug, und Emma liest wunderschön.

Und wenn sie nun gar erst wüßte, wer der Feuerwerker ist, der alle diese Witzraketen steigen und knattern läßt, sagte Henri mit einem boshaften Lächeln, in der Broschüre blätternd.

O, rief Josephe, wie kannst Du glauben, daß sie über einen so wichtigen Punkt nicht unterrichtet sein sollte! Wie sagt Professor Schneider? Er kann Alles, nur nicht sich selbst verleugnen. War's nicht so, Emma?

Henri's Stirn zog sich in Falten; er warf die Broschüre mit einiger Heftigkeit aus der Hand. Josephe schien sich an Emma's Verlegenheit zu weiden. Emma blickte hilfesuchend zu Alfred hinüber. Alfred stierte, theilnahmlos an Allem, was um ihn vorging, auf seine Lackstiefel.

Professor Schneider, sagte Henri, das ist auch einer von den geistreich sein wollenden Schwätzern, die für ein Bonmot ihre Seligkeit verkaufen, an die sie freilich nicht glauben. Du wirst Dir durch den Umgang mit diesen haltlosen Kautschuckmännern noch Deinen Geschmack und Deinen Charakter verderben, liebe Emma.

Ich glaube das Recht zu haben, mir meinen Umgang auszusuchen, wie Du Dir den Deinigen, erwiederte Emma gereizt; ich glaube auch nicht, daß der Umgang mit Graf Rebenstein für Deinen Charakter und Geschmack sehr bildend ist.

Das ist ganz etwas Anderes!

Ich wüßte nicht.

Ihr zieht es gewiß vor, Euch ungestört untereinander aussprechen zu können, sagte Josephe, indem sie sich erhob und mit einem schadenfrohen Blick nach Emma hinüber, die keinen Versuch machte, sie zu halten, und mit einem Lächeln für Henri, der ihr die Thür öffnete, das Zimmer verließ.

Du hättest Dir Deine Anspielung auf Rebenstein, der noch dazu mit Josephe halb und halb verwandt ist, wohl ersparen können, sagte Henri, zu seinem Platz am Kamin zurückkehrend.

Und Du Dir Deinen Ausfall auf Schneider.

Nur mit dem Unterschiede, daß ich Recht habe und Du Unrecht. Ich weiß, was ich will, und deshalb kann mir das Verhältniß mit Rebenstein, der nebenbei besser ist, als sein Ruf, nicht schaden. Du aber –

O, ich weiß auch, was ich will, unterbrach ihn Emma, ebenso gut wie Du.

Daß sich Gott erbarm'! rief Henri, das ist das Erste, was ich höre! Du weißt, was Du willst? Seit wann denn? Nein, liebe Emma, Scherz beiseite! Es ist Zeit, daß wir uns einmal über einen gewissen Punkt verständigen. Du machst Dich mit Deiner Protection dieses Menschen, der weiter nichts ist, als ein ganz gemeiner Abenteurer, nicht blos lächerlich, Du kannst durch ihn in ganz ernste Ungelegenheiten kommen, und davor möchte ich Dich als Dein guter Freund bewahren.

Er ist kein Abenteurer, schluchzte Emma hinter ihrem Taschentuche.

Er ist einer, sagte Henri heftig, lehre Du mich meine Leute kennen. In jeder Beziehung ist er einer. Er ist ein politischer Parteigänger, der nur so lange bei der Fahne bleibt, als er Aussicht auf gute Beute hat; er ist aber auch sonst der Mann der Verhältnisse. Ich weiß es mit Bestimmtheit, daß er nur von seinem Credit lebt, zu dem ihm der Verkehr in reichen Häusern verhelfen muß; die brillante Wohnung, mit der er kokettirt, gehört dem Marquis de Sade, der kindisch genug gewesen ist, sie ihm während seiner Abwesenheit zu leihen – und so ist es in allen Dingen. Und ich habe noch eine besondere Rechnung mit ihm. Er ist es, wie ich jetzt sicher weiß, der hinter meinem Vater steckt und ihn zu seinem unverantwortlichen Benehmen Deinem Vater gegenüber, mir gegenüber, uns Allen gegenüber aufstachelt. Dafür kannst Du freilich nichts, das hat sich Dein Papa ja selbst zu verdanken.

Ich dächte, Ihr ließet den Papa aus dem Spiele, sagte Alfred aus seiner Sophaecke heraus.

Henri wollte heftig etwas erwiedern, aber er besann sich, daß der sonst so apathische Alfred in Allem, was den Vater betraf, sehr empfindlich war. Er wendete sich also nach dem ersten Angriffspunkt zurück. Sein Haß gegen Leo, der ihm noch immer, so oft das Leben sie zusammengeführt, im Wege gestanden hatte, war grenzenlos; er glaubte die Zeit, sich über Leo frei aussprechen zu dürfen, gekommen und er that es nun in maßloser Weise. Emma, die anfangs vergeblich gesucht hatte, sich gegen Henri's Redeschwall zu stemmen, begnügte sich damit, hinter ihrem Taschentuche laut zu weinen.

Und das soll nun eine Siesta sein, sagte Alfred, indem er sich gähnend aus seiner Causeuse aufrichtete. Ihr seid wirklich unbequem, alle Beide, Du mit Deinem Weinen, und Du, Henri, mit Deinem Schreien. Du solltest Dir Deine Eifersucht nicht so merken lassen.

Ich eifersüchtig? lächerlich! sagte Henri.

Ja, ja, bestätigte Emma, eifersüchtig ist er, das ist das Ganze. Er ist von Anfang an auf Leo eifersüchtig gewesen. Und welches Recht habe ich ihm zur Eifersucht gegeben? Welches Recht hat er, mich zu hofmeistern?

Ich habe die Ehre, Dein Cousin zu sein.

Du lieber Himmel, rief Alfred ärgerlich, was soll ich denn thun, der ich ihr Bruder bin? Nein, Henri, was zu weit geht, geht zu weit. Ich finde, daß Du Emma ganz einfach tyrannisirst.

Alfred hatte heute so viel an Henri verloren, daß er die Autorität desselben weniger stark fühlte, als sonst; Henri war sehr zornig, als er sich jetzt auch von Alfred angegriffen sah. Er nahm nach ein paar heftigen Worten seinen Hut und ging nach der Thür. Hier stieß er auf den Bankier.

Weshalb so eilig, mon cher?

Laß es Dir von den Beiden sagen, ich will mich nicht noch mehr ärgern. Gute Nacht!

Der Bankier schaute dem jungen Mann verwundert nach und blickte dann fragend Alfred an, der sich von seinem Sopha erhoben hatte und die Achseln zuckte. Emma weinte noch immer hinter ihrem Taschentuche.

Ich weiß es selbst nicht recht, flüsterte Alfred, sie haben sich gezankt; das Hauptthema war Doctor Gutmann.

Der Bankier ließ unter den zusammengezogenen Brauen seine scharfen Blicke umherschweifen. Er sah die Broschüre auf dem Tischchen liegen – er konnte sich die Entstehung und den Fortgang des Streites denken, als wäre er selbst dabei gewesen.

Wie geht es Dir, mein Sohn? sagte er, zu Alfred gewendet, Du siehst nicht gut aus.

Wir waren bei Rebenstein, erwiederte der junge Mann mit einiger Verlegenheit.

Ein kleines Jeuchen gemacht, he?

Hm, ja.

Verloren?

Hm, ja.

Viel?

Hm, ja.

Das heißt?

Tausend Thaler etwa.

Des Bankiers Augenbrauen zogen sich wieder zusammen.

Du hast in letzter Zeit viel Unglück gehabt. Nun, nun, fuhr er fort, das soll kein Vorwurf für Dich sein. Man kann das Glück nicht zwingen, und ausschließen kannst Du Dich nicht – das versteht sich von selbst. Laß Dir das Geld morgen früh geben und leg' Dich zu Bett, mein Junge; Du siehst wirklich übel aus, und ich habe noch –

Er nickte nach Emma hin. Alfred erhob sich, reichte dem Vater die fieberheiße Hand und verließ das Zimmer. Der Bankier ging, das Kinn in die Hand gestützt, ein paarmal auf und ab, trat dann auf Emma zu, legte ihr die Hand auf den Kopf und sagte:

Emmchen!

Emma's Antwort war ein verstärktes Schluchzen.

Der Vater zog sich einen Stuhl heran.

Laß das Weinen, Emma, Kind; das Weinen hilft zu nichts, und mit wem soll ich vernünftig sprechen über das, was mir am Herzen liegt, wenn ich es nicht mit meiner klugen Tochter kann?

Emma trocknete sich die Augen und lächelte den Vater dankbar an.

Ich habe den Alfred weggeschickt, fuhr dieser fort; Alfred ist noch zu jung und hat keinen Kopf für Geschäfte. Ist auch nicht nöthig. Wenn er unser Haus würdig repräsentirt, thut er genug. Das Geld, das er verliert, ist gut angelegt, kann ich Dir sagen. Aber je weniger er für sich sorgen kann, umsomehr müssen wir die Augen offen halten. Und nun sag' mir einmal aufrichtig, Emmchen, wie stehst Du eigentlich mit dem Leo?

Emma wollte wieder anfangen zu weinen, aber der Vater schnitt ihr diesen Ausweg ab, indem er mit Bedeutung hinzufügte: Es ist das eine Geschäftsfrage, Emmchen, mindestens ebenso sehr als eine Herzensfrage.

Emma legte das Taschentuch beiseite und antwortete:

Aber, Vater, wie soll ich mit ihm stehen? Du weißt ja Alles!

Ich weiß, daß ich ihn bei Dir eingeführt habe, daß ich Dich gebeten habe, freundlich zu ihm zu sein, daß Du zu ihm freundlich gewesen bist. Aber was ich jetzt wissen möchte, ist, ob Du Dich für ihn interessirst?

Da Emma hierauf nicht gleich eine Antwort bereit hatte, fuhr der Bankier fort:

Nun, nun, ich will Dich nicht quälen mit Fragen, die sich am Ende selbst beantworten. Man scherzt, man witzelt, man ist geistreich, man sagt sich gegenseitig Schmeicheleien – vielleicht auch einmal ein Händedruck – ich kenne das. Man ist dadurch zu nichts verpflichtet und kann jeden Augenblick abbrechen – das ist es eben, worauf ich Dich aufmerksam machen wollte. Junge Mädchen sind in solchen Dingen meistens etwas befangen. Damit will ich nicht gesagt haben, daß Du sofort mit ihm brechen sollst. Keineswegs. Die Sache ist vielmehr die: Hast Du die Broschüre gelesen, die ich Dir gestern gegeben habe? Ja? Nun wohl! Der Doctor hat sich durch dieselbe mit unserer Partei überworfen. Ich nehme ihm das nicht übel, ich finde es sogar sehr begreiflich; würde es vielleicht auch thun, wenn ich könnte, das heißt, wenn es mir entschieden Vortheil brächte. Aber für einen Mann in meiner Stellung ist ein gemäßigter Liberalismus doch vielleicht noch immer die zweckmäßigste Politik. Mit dem Doctor ist das anders. Er kann es auch einmal mit den Extremen versuchen. Die Arbeiterfrage tritt wieder einmal in den Vordergrund; ich zweifle nicht, daß er sich derselben bemächtigen wird, und wäre es auch nur, um sich ihrer als Schwungbrett in die höchsten Regionen zu bedienen. Vielleicht beabsichtigt er in diesem Augenblicke gar nichts Anderes, als einen Druck auf uns, speciell auf mich, zu üben. Nun, lieber Himmel, Du bist jung, schön, voll Witz und Geist, hast die feinsten Manieren – brauchst nicht roth zu werden, Kind, würde Dir Alles nichts helfen, wenn Dein Vater nicht ein reicher Mann wäre.

Der Bankier ging immer im Zimmer auf und ab. Dann blieb er wieder vor seiner Tochter stehen und sagte:

Auf keinen Fall darf man ihn vor den Kopf stoßen, ihn zum Aeußersten treiben, wie Doctor Paulus das will. Ich darf es am wenigsten, so lange ich Hoffnung habe, daß er in der Geschichte mit dem Freiherrn sich schließlich auf meine Seite stellt. Und darum wollte ich Dich nun bitten, Kind – sei vorsichtig, vorsichtig in Deinem Benehmen gegen den Doctor, als wenn Du Wein einzuschenken hättest in das feinste Stengelglas. Halt ihn mir warm; aber fange mir nicht an zu sprechen von Liebe und dergleichen, wenn der Moment gekommen ist, mit ihm zu brechen. Schreibe ihm morgen früh eines von Deinen hübschen Billets und lade ihn zu übermorgen Mittag ein. Wir würden entre nous sein, verstehst Du? Ganz entre nous. Und nun will ich Dich verlassen. Die Broschüre kann ich wohl wieder mitnehmen. Es ist ein erstaunlicher Mensch. Gute Nacht, mein liebes Kind!

Der Bankier drückte seiner Tochter einen Kuß auf die Stirn. In der Thür blieb er noch einmal stehen.

Und was ich sagen wollte, Emma! Du mußt gegen den Henri nicht so schroff sein. Er geht Dir nicht so leicht verloren, das weiß ich wohl, aber es ist doch nicht wohlgethan, ihn zu brüskiren. Er ist mir schon bös genug, daß ich mit seinem Vater so glimpflich verfahre. Lieber Gott, man kann nicht Alles, was man will.

Der Bankier seufzte, grüßte seine Tochter noch einmal mit der Hand und ging hinaus. Emma blieb nicht lange mehr vor dem Kamin sitzen. Sie liebte die Einsamkeit nicht, zumal wenn ihr so viele Gedanken durch den Kopf zogen, wie heute Abend. Sie hatte in solchen Fällen, wie sie aus Erfahrung wußte, einen immer bereiten Tröster – den Schlaf. Und dann war es gleichsam ein Act kindlicher Liebe, heute ausnahmsweise um elf Uhr zu Bett zu gehen. Es stimmte so zu der nachdenklichen Rolle, die ihr der Vater vorgezeichnet hatte. Sie klingelte ihrem Kammermädchen.


 << zurück weiter >>