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Dreiundzwanzigstes Capitel.

So war die Sache, welche sich anfänglich so schlimm anließ, scheinbar ohne alle weiteren Folgen beigelegt. Am leichtesten schien Henri selbst darüber wegzukommen; er benahm sich fortan in den Stunden mit großer Vorsicht. Im Vertrauen aber äußerte er gegen Walter: er werde es dem Tusky nicht vergessen. Walter konnte eine solche rachsüchtige Gesinnung nicht loben, wenn er sich auch jetzt noch weniger als im Anfang zu dem starren, kalten Manne hingezogen fühlte; Leo verhielt sich vollkommen schweigend. Dafür benützte er eifriger als je die Abendstunden zu einsamen Spaziergängen, auf denen er zufällig an dieser oder jener Waldecke, diesem oder jenem Kreuzwege mit dem Schulmeister zusammentraf. Sie begrüßten dann einander mit einem kurzen, energischen Händedruck und setzten ihren Spaziergang gemeinschaftlich fort, wobei sie geflissentlich die einsamsten Wege aussuchten. Der alte Postbote, der ihnen öfter begegnete, hörte stets, so lange er noch entfernt war, unterdrückte, aber eifrige Stimmen sprechen, die jedesmal verstummten, sobald er in die Nähe kam. Manchmal erstreckten sich diese Spaziergänge bis zu den entfernteren Dörfern; selten, daß sie vor Einbruch der Dunkelheit nach Tuchheim zurückkehrten. Ein- oder das anderemal geschah es, daß Leo, wenn er des Abends spät auf sein Zimmer gekommen, ein Zeitungsblatt, eine Flugschrift, eine Broschüre, die unterwegs aus Tusky's Tasche in die seine gewandert war, hervorlangte und beim matten Licht einer der dünnen Kerzen, welche im Sommer in dem Pfarrhause für ausreichend erachtet wurden, in diesen Blättern eifrigst studirte.

Aber es gab zu dieser Zeit noch einen Bewohner des Pfarrhauses, der eine entschiedene Neigung für einsame Spaziergänge in der Dämmerstunde nicht ganz verbergen konnte.

Walter hatte, wie es in einem seiner erhabensten Gedichte lautete, »den Dämon wilder Leidenschaft mit Löwenmuth bekämpft«; aber der Erfolg hatte der Anstrengung nicht entsprochen, oder, wie es in einem andern Gedicht hieß, das sich durch seine thränenreiche Stimmung auszeichnete, »die tiefe Wunde schloß sich nicht und wird sich nimmer schließen, bis einst aus meines Grabes Rand die treuen Veilchen sprießen«. Wie dem aber auch sein mochte – in dem sanften Schein des Abendlichts durch wogende Kornfelder zu schreiten, oder hügelauf in den Wald zu steigen bis zu einem der vielen Punkte, von welchem aus man freie, freundliche Blicke in die liebliche Ebene hatte – das war dem armen Jungen in seiner weichen Stimmung ein anmuthiger Trost, umsomehr, als die leeren Blätter in seiner Brieftasche sich niemals schneller mit poetischen Hieroglyphen bedeckten, als wenn die Waldwiesenblumen zu seinen Füßen im Abendwinde nickten und aus dem dämmerigen Forst leise abgerissene Vogellaute ertönten.

Da sowohl Walter, als Leo die Einsamkeit suchten und ziemlich genau ihre gegenseitigen Lieblingspromenaden kannten, so hatten sie sich bis jetzt noch immer auszuweichen vermocht; aber eines Abends geschah es, daß sie sich in der scharfen Biegung eines tiefen Waldweges, wo an ein Ausweichen nicht zu denken war, begegneten, der Eine mit einer offenen Brieftasche, der Andere mit einem bedruckten Blatte in den Händen. Bei der Plötzlichkeit, mit welcher die Begegnung stattfand, war Walter außer Stande, die ziemlich umfangreiche Brieftasche zu verbergen. Er erröthete, sagte aber doch freundlich: Guten Abend, Leo! Leo, der mit seinem Blatte schneller in die Tasche gekommen war, erwiederte den Gruß, aber nichts weniger als freundlich. Die Begegnung war ihm störend und peinlich, da er eben an dieser Stelle Tusky erwartete, der jeden Augenblick – er wußte nicht, aus welcher Richtung – kommen mußte.

Wir sind lange nicht so draußen gewesen, sagte Walter.

Nein, sagte Leo.

Wollen wir nicht zusammen weiter gehen? fuhr Walter gutmüthig fort.

Ich fürchte, ich bin zu müde, sagte Leo, sich in der Hoffnung, so von Walter am besten loszukommen, am Fuße einer schönen alten Buche etwas abseits vom Wege auf den moosigen Grund werfend.

Nun, ich bin auch schon genug herumgelaufen, sagte Walter, indem er sich neben Leo auf den Boden gleiten ließ.

Da hier kein Entrinnen möglich war, hielt Leo es für das Gerathenste, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und Tusky's Kommen ruhig abzuwarten. Unterdessen fragte er, um doch etwas zu fragen, was für Geheimnisse Walter denn da seiner Brieftasche anvertraue.

Walter erröthete noch tiefer als zuvor. Die Furcht, sein Geheimniß zu verrathen, kämpfte mit der Begierde, gerade Leo, der ihn gar nicht von dieser Seite kannte, etwas von den poetischen Früchten, welche ihm jetzt so reichlich in den Schoß fielen, mitzutheilen. Zufällig befand sich unter den letzten Gedichten der Brieftasche eines, auf das der Verfasser ganz besonders stolz war, und glücklicherweise hatte sich auch in die Reime dieses Gedichtes der theure Name nicht schicken wollen, und es war in Folge dessen durchweg nur von »ihr« die Rede.

Du wirst mich auslachen, sagte Walter, indem er die Brieftasche schon halb geöffnet hatte.

Das wird darauf ankommen, erwiederte Leo.

Es ist, sagte Walter entschuldigend, aus einem größeren Cyklus, den ich »Spanische Lieder« betitelt habe.

Also ein Gedicht, sagte Leo, nicht ohne einige Verwunderung. Wie kommst Du denn dazu?

Darauf mag das Gedicht selbst die Antwort sein, sagte Walter, und mit vor innerer Aufregung bebender Stimme zählte er jetzt seinem Gefährten eine nicht kleine Anzahl von Trochäen zu, in welchen irgend Jemand einen grauen Fährmann auffordert, ihn über irgend ein Gewässer nach irgend einer Villa zu fahren, deren stattliche Façade man sich in der Mondesdämmerung weißlich schimmernd denken sollte, und schließlich, nachdem schneebedeckte Sierren, das goldene Ufer des Tajo und der gelbe Sand der Mancha wacker mitgewirkt hatten, eine gewisse dunkeläugige Schöne gebeten wurde, mit dem Sänger nach Deutschlands Gauen zu ziehen, wo sie als Aequivalent ihrer verlassenen spanischen Herrlichkeiten und Schlösser an den grünen Ufern des Rheins eine Hütte erwartete, deren einziger Schmuck das liebende Paar sein sollte.

Der Sänger machte seine Brieftasche zu, wobei er noch um ein gutes Theil verlegener aussah, als vorher. Leo verscheuchte ein ironisches Lächeln, das während der Lectüre ein paarmal seine Lippen umspielt hatte, und sagte:

Nicht übel, Walter! die Zahl der Versfüße scheint nicht immer zu stimmen; auch würde ich nicht den Reim Façade Serenade zweimal brauchen – aber sonst recht schön. Wie kommst Du nur in aller Welt jetzt auf das närrische Zeug?

Aber Du hast doch früher auch Gedichte gemacht, meinte Walter etwas kleinlaut.

Früher! erwiederte Leo, früher – nun ja – und darin liegt auch die ganze Entschuldigung.

Bedarf es zum Dichten einer Entschuldigung? rief Walter.

Wenn die Zeit ernstere Fragen zu lösen hat, ja – erwiederte Leo.

Walter sah etwas erstaunt drein. Er konnte sich unter Leo's Worten nichts Bestimmtes denken; aber die Worte selbst und der Ton, in welchem sie gesprochen waren, imponirten ihm.

Was meinst Du? fragte er bescheiden.

Ich würde Dir das nicht so auf einmal beantworten können, erwiederte Leo, selbst wenn Du den Sinn für diese Dinge hättest, den Du freilich nicht hast.

Und hast Du diesen Sinn? fragte Walter erstaunt.

Ich hoffe es, sagte Leo nicht ohne Selbstgefühl; wenigstens gebe ich mir redliche Mühe, den eigentlichen Grund der heillosen Schäden, an denen der Staatskörper krankt, zu erkennen und die Heilmittel zu entdecken, sollten sie auch aus Feuer und Eisen bestehen.

Walter sah Leo erschrocken an; er hatte ihn dergleichen noch nie sprechen hören; er wußte nicht, daß Leo seine grimmigen Phrasen aus der Flugschrift, die er vorher in der Hand trug, so ziemlich wörtlich entlehnt hatte.

Was sind denn das für heillose Schäden, von denen Du sprichst? fragte er neugierig.

Schöne Frage, erwiederte Leo höhnisch, die sich selbst beantwortet, sobald man sich nur die Mühe nimmt, die Augen aufzumachen und mit offenen Augen in die Welt zu sehen. Oder hältst Du das für gesunde Zustände, wenn der Edelmann aus goldenen Schüsseln Lampreten speist und der Bauer froh ist, wenn er Salz zu seinem trockenen Brod hat? Hältst Du es für billig, daß das Wild in dem Forst und auf den Feldern, das Gott für alle Menschen erschaffen hat, dem Einen gehört, während die Anderen die Erlaubniß haben, es für den Tisch des gnädigen Herrn mit ihrem Schweiß zu mästen? Sind das keine heillosen Schäden? Und sollte man nicht wünschen, daß Feuer und Schwefel vom Himmel regne, um solche Greuel zu vertilgen, Schloß und Edelmann und ihre ganze Sippe?

Da der Artikel, aus dem Leo citirte, lang und sein Gedächtniß ausgezeichnet war, hätte er noch geraume Zeit so fortdeclamiren können, wenn Walter nicht plötzlich aufgesprungen wäre und mit großer Energie gerufen hätte:

Und ich leide es nicht, daß Einer mit Feuer und Schwefel an das Schloß kommt! Ich leide es nicht, daß einem seiner Bewohner auch nur ein Haar auf dem Haupte gekrümmt wird! Ich wollte sehen, wer das wagen wollte – ich wollte es nur einmal sehen!

Leo war ruhig geblieben. Er lächelte verächtlich, als er sagte: Ich wußte es ja, daß Du keinen Sinn für Politik habest, woher solltest Du auch? Wer im Besitze ist, wohnt Dir im Recht, und was grau vor Alter ist, das ist Dir heilig.

Es ist möglich, rief Walter, der noch immer, wie Jemand, der einen lebhaften physischen Schmerz empfindet, auf und ab lief; ich sehe wenigstens nicht ein, daß etwas, weil es altersgrau ist, unheilig, oder Jemand, der etwas besitzt, deshalb schon im Unrecht ist. Und was Du von den goldenen Schüsseln erzählst, aus denen der Edelmann Lampreten speisen soll, so scheint mir das, mit Deiner Erlaubniß, aus der Luft gegriffen. Im Schlosse essen sie von Porzellan und nicht von Silber, geschweige denn von Gold. Und was die Lampreten betrifft, so weiß ich nicht, was das ist, ob Fisch oder Fleisch – und ich glaube, Du weißt es auch nicht. Und übrigens, Leo, finde ich es gar nicht schön von Dir, daß Du für all' das Gute, das uns schon im Schloß geworden ist, keinen Dank hast. Der gnädige Herr und Fräulein Charlotte, und – und –

Hier gerieth Walter in's Stocken, da er doch unmöglich Amélie's heiligen Namen in einem so profanen Streit nennen konnte. Leo benützte die Verwirrung seines Gegners, um ihm zu beweisen, daß, wer so spreche, eine knechtische Gesinnung an den Tag lege, und daß Knechtsinn in Sachen der Freiheit nicht mitzureden habe.

Ich bin kein Knecht, erwiederte Walter erregt, und ich habe keinen knechtischen Sinn. Ich verachte den Doctor Urban, aber nicht, weil er Pfarrer, sondern weil er ein schlechter Mann ist, der seine arme Frau auf das Grausamste quält und anders handelt, als er redet; und ich verehre den Freiherrn, nicht weil er unser Herr, sondern weil er so gütig und edel ist. Und wenn Du das nicht mit mir empfindest und nicht alles Heil und allen Segen auf ihn und die Seinen herabwünschest, so hast Du kein Herz in der Brust, und nimmer, nimmer wird es Dir gut gehen.

Der arme Junge, dessen Stimmung jetzt für gewöhnlich etwas hoch gespannt war, hatte sich so in Aufregung gesprochen, daß er in Thränen ausbrach, die er indessen schnell mit dem Rücken der Hand abwischte. Dann aber zog er seine Mütze tiefer in die Augen, murmelte einige unverständliche Worte, sprang von der Böschung, auf der die Unterredung stattgefunden hatte, in den Hohlweg und entfernte sich eilends in der Richtung nach dem Dorfe.

Er war kaum verschwunden, als es in dem dichten Gebüsch zur Seite der Buche zu rascheln begann. Gleich darauf stand Tusky auf dem Plan.

Wie konntest Du dem Jungen von unsern Geheimnissen mittheilen? fragte er unwillig.

Du hast Alles gehört? erwiederte Leo.

Ja, sagte Tusky, er wird nun hingehen und dem Freiherrn und dem Pastor erzählen, was er gehört hat.

Nie, rief Leo mit Wärme, das würde Walter nie! Er würde nie zum Verräther werden!

Bist Du dessen so sicher? fragte Tusky mit finsterem Lächeln. Ich möchte Dir dennoch rathen, ein anderesmal vorsichtiger zu sein. Du weißt, daß wir uns über Alles, was zwischen uns verhandelt wird, unverbrüchliches Geheimniß gegen Jeden, er sei, wer er sei, gelobt haben.

Leo blickte trotzig auf. Ich bin kein Kind, sagte er, und ich weiß, was ich thue.

Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, hätte ich mich Dir jemals anvertraut? erwiederte Tusky, indem er Leo die Hand auf die Schulter legte und ihn mit einer Zärtlichkeit, die man in seinen kalten grauen Augen nicht gesucht haben würde, anschaute. – Nein, nein, mein Junge, fuhr er fort, Du bist kein Kind. In Dir steckt mehr Intelligenz und vor Allem mehr Energie und mehr Leidenschaft, als in den meisten Männern, die ich kenne. Ich habe unbedingtes Vertrauen zu Dir, und ich bin in der Absicht gekommen, Dir heute davon einen Beweis zu geben, der Dir hoffentlich genügen wird. Du hast doch heute Abend frei?

Ja. Die beiden Anderen sind auf dem Schlosse; da habe ich Doctor Urban, unter dem Vorwande, zum Onkel gehen zu wollen, gebeten, mich vom Abendbrod zu dispensiren.

Vortrefflich! erwiederte Tusky. Wir werden so schon Mühe haben, nicht allzu spät zurückzukommen.

Was hast Du vor?

Ich sag' es Dir unterwegs.

Und die Beiden begannen mit rüstigen Schritten die Bergschlucht hinauf zu steigen.


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