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Fünfunddreißigstes Capitel.

Die Jahre rollen dahin. Siebenmal ist aus dem Frühling Sommer, aus dem Sommer Herbst und Winter geworden. Jetzt ist es Herbst, der sich dem Winter zuneigt. Und Manchem ist es, als würde es nie wieder Frühling und Sommer werden; als habe die Sonne der Freiheit, die in jenen Märztagen so wunderherrlich aufging über Deutschland und es aus schwerem Winterschlaf zu frischem Leben erweckte, sich auf immer verborgen hinter düstersten Wolken einer Reaction, die aller Freiheit und allem Leben Tod und Verderben geschworen. –

Durch die langen, geraden Straßen der Residenz fegte ein kalter Wind, die Flammen der Gaslaternen flackerten unheimlich; von Zeit zu Zeit entlud sich ein mit Eiskörnern vermischter Regenschauer und prasselte gegen die Scheiben.

So oft dies geschah, und besonders wenn zu derselben Zeit eine Droschke die vereinsamte Straße heraufrollte, trat Walter an das Fenster und spähte eifrig auf die Gasse hinab. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß das Fuhrwerk den Erwarteten bringen würde; er konnte nur mit dem Neunuhrzuge, oder mit dem, welcher um elf Uhr eintraf, ankommen, und jetzt war es gerade zehn – aber die Freude, den Freund seiner Jugend nach so langen Jahren endlich einmal wieder zu sehen, hatte Walter's Herz in eine unruhige Bewegung versetzt, die mit dem Ticktack der alten Uhr, die in einer dunklen Ecke des Zimmers schwatzte, durchaus nicht Schritt halten wollte.

Er trat wieder an den Tisch vor dem Sopha. Das Wasser brodelte leise in dem Kessel über der Berzeliuslampe; das Viertelpfund Butter und der gekochte Schinken von dem Victualienhändler an der Ecke waren sorgsam zugedeckt. Die sehr ungleich großen Stücke des etwas gelblichen Zuckers schimmerten in ihrer Glasschale, ein Fläschchen feinen Arraks stand entpfropft da, die Stängellampe verbreitete über dies Alles ein helles, sanftes Licht – es war ein bescheidener Theetisch ohne Zweifel, aber sehr reinlich, einladend und behaglich, und entsprach insofern vollkommen der Physiognomie des Zimmers, nur daß dieses letztere außerdem noch einige Züge darbot, welche auf eine gelehrte Thätigkeit des Bewohners hindeuteten. Zwar die Anzahl der Bücher, welche auf dem offenen Bücherbrett, auf dem Schreibtisch, auf den Stühlen standen und lagen, war nicht sehr groß; aber man sah, daß sie häufig gebraucht wurden; auch die wenigen Kupferstiche und Lithographien, die (zum Theil ohne Rahmen) an den Wänden hingen, waren nach alten guten Meistern, und der schöne Kopf einer antiken Muse blickte von seinem Platz über dem Schreibtisch unter den schweren, süßgeschweiften Augenlidern still und sinnend herab.

Der Theetisch war in Ordnung; auch in dem kleinen Zimmer linker Hand, Walter's Schlafzimmer, und dem größeren zur rechten Hand, dem Putzzimmer der Frau Rehbein, welches diese dem erwarteten Besuche ihres lieben Miethers bereitwilligst eingeräumt hatte, war seit den letzten zehn Minuten keine bemerkbare Veränderung eingetreten; auf der Gasse war es still – nur der Wind heulte und pfiff um die Giebel und Schornsteine – so setzte sich Walter denn auf seinen Studirsessel, den er an den Theetisch gerückt hatte, um noch einmal den Brief zu lesen. Der Brief lautete:

 

»Wenn Du, lieber Walter, zuerst nach der Unterschrift gesehen hast, um zu erfahren, wer diese Zeilen schrieb, so ist es wahrlich nicht Deine Schuld – in sieben Jahren kann man wohl eines Menschen vergessen, geschweige denn eines Menschen Hand – und so lange ist es ja wohl, daß zwischen uns – außer dem Wenigen, was gemeinschaftliche Bekannte hinüber und herüber getragen haben – alle Verbindung abgebrochen war. Sieben Jahre! – Ein breites, tiefes Bett, durch das sich für einen Jeden von uns viele Ereignisse, gleich ebensoviel rastlosen Wellen, gedrängt und die Uferränder steil und steiler gemacht haben! Werden wir eine Brücke über diesen Abgrund finden? Nach meinen sonstigen Erfahrungen darf ich es kaum wagen zu hoffen; aber Jugendfreundschaften, sagen sie ja, sind wie ererbte Uebel: man wird sie nicht wieder los, so viel man auch darum sorge. Ich bin begierig, zu sehen, wie wir uns zu der allgemeinen Regel stellen werden. Gelegenheit dazu werde ich uns schon in einigen Tagen geben. Ich komme nach der Residenz, um dort das Terrain zu recognosciren, und, wenn sich meiner Absicht nicht allzu große Hindernisse in den Weg stellen und mir im Uebrigen die Atmosphäre zusagt, einige Zeit, das heißt einige Jahre, das heißt, ich weiß nicht wie lange, zu bleiben. Kannst Du mich die ersten Tage beherbergen, soll es mir um so lieber sein. Deine Adresse, wie Du siehst, kenne ich. Ein Brief von Dir, in welchem Du mir Deine Bereitwilligkeit, mich bei Dir aufzunehmen, mittheilst, trifft mich in N., wo ich mich einen Tag aufhalten muß, Poste restante. Ich komme am fünfzehnten mit dem Abendzuge. Also auf Wiedersehen!

Leo Gutmann, Dr. med.«

Doctor medicinae Leo Gutmann! sagte Walter, indem er den Brief vor sich zwischen die zugedeckte Butter und den zugedeckten Schinken auf den Tisch legte. Er hat es bis zum Doctor gebracht und ist mir also auch hier einen Schritt voraus, wie er es stets gewesen ist. Ich könnte doch höchstens Doctor der Philosophie werden. Ja, wenn man damit zugleich ein Philosoph würde! Aber so, der leere, schale Titel – das verlohnt sich wirklich der Mühe nicht. Und Doctor der Medicin! Danach stand früher sein Sinn nicht; es scheint, daß aus dem Idealisten ein Realist geworden ist. Freilich, freilich, ein Mensch von solchen Talenten kann werden, was er will, und wird überall etwas Tüchtiges.

Ob er sich wohl sehr verändert hat? Schwerlich. Er war damals ja fast schon ein Mann. Vielleicht in dem Maße, als seine Handschrift eine andere geworden ist. Es ist dieselbe, wie sie mir noch aus seinen deutschen Aufsätzen so deutlich vor der Seele steht, und doch ist sie nicht mehr dieselbe: freier, kühner – ein prachtvoller, großer Zug wahrlich in diesen flüchtig hingeworfenen Zeilen. So könnte ein König oder Lord Protector schreiben. Er wollte ja auch immer hoch hinaus, und er hatte ja auch ein Recht dazu. Welch ein Mensch war das! Ich habe hernach manchmal gemeint, ich hätte ihn wohl überschätzt; mein jugendliches Auge hätte in einem gewöhnlichen Sterblichen einen Halbgott gesehen, aber je deutlicher ich meine Erinnerungen zurück rief, je klarer ich mir sein Bild machte, desto mehr befestigte sich bei mir die Ueberzeugung: so Einen hast du doch nicht wiedergefunden unter so vielen bedeutenden Menschen. Ich meine, so muß Patroklus gefühlt haben, wenn er seinen Achill mit den übrigen Danaern verglich.

Und was werden die Anderen sagen: Amélie? der Freiherr? Silvia? – Wie werden sich der Vater, die Tante freuen, wenn sie hören, daß der Langentfernte, Nichtvergessene, der wie in einer Wunderwolke unversehens entschwand, uns unversehens wiedergegeben ist? Wiedergegeben? Das Wort paßt auf den Leo nicht. Wer so eigenmächtig, selbstherrlich durch das Leben schreitet, wie er, der giebt sich höchstens selbst; und ach! er hat das eigentlich nie gethan. Er ist, wie ein Komet, seine einsame, unberechenbare Bahn über unseren Kreis hingewandelt, strahlend in seltsamem, mystischem Feuer, uns anziehend, aber nicht von uns angezogen; ein Phänomen, ein Räthsel, zu dem uns die Lösung fehlte. Lag es an ihm? Lag es an uns? O gewiß! an uns! Das war ja von Alters her der Fluch der Propheten, daß sie nichts galten in ihrem Vaterlande, daß ihre eigenen Eltern, Geschwister nicht an sie glauben wollten. Wie oft hat er in jenen Jahren geklagt, daß Niemand ihn verstehe, Niemand ihn liebe, bis er zuletzt an jenen seltsamen Mann gerieth, den Fanatiker, der die sündige Welt mit unheiligem Feuer taufen zu müssen meinte. Ob er in ihm gefunden hat, was er suchte? Und werde ich ihm heute mehr sein können, als ich ihm damals war?

Walter erhob sich und ging in dem Zimmer auf und ab. Es war ihm beinahe so zu Muthe, wie damals, als er zum ersten male vor den Doctor Urban treten sollte mit dem vollen Bewußtsein der Kärglichkeit seines Wissens. Seitdem waren manche Jahre vergangen, in denen er Vieles gesehen, Vieles erlebt, in denen er sich redlich bemüht hatte, seine Gaben, wie sie nun einmal waren, auszubilden, zu lernen, zu schaffen. Und wenn er nun die Summe seiner geistigen Existenz zog – durfte er mit sich zufrieden sein? Wie manche Gelegenheit, sich zu unterrichten, hatte er unbeachtet gelassen? Wie Vieles, das er hätte wissen sollen, wußte er nicht! Und seine eigenen dichterischen Versuche – die einzigen aufweisbaren Früchte, die ihm seine Arbeit gebracht hatte – wie unbedeutend erschienen sie ihm! wie dürftig im Verhältniß zu der aufgewendeten Mühe! Es half ihm in diesem Augenblicke nichts, sich zu erinnern, daß seine Schüler mit Liebe an ihrem jugendlichen Lehrer hingen; daß unabhängige, vorurtheilsfreie Kritiker mit Anerkennung und Achtung sich über die Erstlingswerke des unbekannten Autors geäußert hatten; daß gewiegte Politiker es nicht verschmähten, sich mit dem um so viel jüngeren Manne eingehend über die Tagesfragen zu unterhalten – Walter dachte zu groß von den Menschen und ihren Aufgaben, um von sich selbst und seinen Leistungen nicht gelegentlich recht klein zu denken. Und dann war er von früher so gewohnt, sich neben Leo in den Schatten zu stellen. Für ihn war die Kluft der Jahre, von der Leo in seinem Briefe sprach, nicht vorhanden, und wenn er sich damals vor dem glänzenden Genius des Freundes willig gebeugt hatte, so empfand er jetzt wie der Jünger, der nach jahrelanger Trennung den Meister bei sich erwartet.

Die Klingel zum Vorsaale ertönte; gleich darauf hörte Walter die langsame Stimme seiner Wirthin und dann die tiefe Stimme eines Mannes. War das Leo? Hatte er das Rollen des Wagens überhört? – die Thür wurde geöffnet; von Frau Rehbein und der Magd, die einen Koffer trug, gefolgt, trat eine hohe, dunkle Gestalt herein. Walter eilte mit ausgebreiteten Armen dem Jugendgenossen entgegen.

Leo, lieber Leo! Willkommen, tausend- und tausendmal willkommen!

Ich möchte, Eure Polizei auf dem Bahnhofe hätte dasselbe gesagt, so wäre ich schon seit einer Stunde hier – ist das ein Wetter! erwiederte Leo, mit einer festen, kalten Hand Walter's warme, von der inneren Erregung zitternde Hand schüttelnd.


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