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Drittes Capitel.

Ziemlich früh am nächsten Morgen machte sich der Förster, nachdem er die laufenden Geschäfte besorgt hatte, auf, zum gnädigen Herrn auf's Schloß zu gehen und den wöchentlichen Rapport abzustatten, bei welcher Gelegenheit sich dann auch vielleicht die Sache des Bruders mochte anbringen lassen.

Man konnte nicht leicht einen anmuthigeren Weg finden, als den, auf welchem der Förster jetzt einherschritt. Dieser Theil des Waldes, auf dem lang sich hinstreckenden Ausläufer des Schloßberges, gehörte schon zum herrschaftlichen Park; aber man hatte sich darauf beschränkt, die Pfade durchaus gangbar zu machen und an passenden Stellen einen einfachen Ruhesitz anzubringen, im Uebrigen aber der ursprünglichen Waldnatur keinerlei Zwang angethan. Selbst die Aussichten, die sich von Zeit zu Zeit – hier in ein friedliches Wiesenthal, dort in die reichbebaute Ebene des fruchtreichen Landes – öffneten, verdankte man nicht dem berechnenden Kunstsinn eines Parkgärtners, sondern sie waren ganz zufällig, wie es eben die launenhafte Formation des Terrains bedingte.

Einzelne Stellen des Weges ließen sogar eine künstliche Nachhilfe entschieden wünschen. Hier hatte das Unkraut den Pfad übersponnen, dort ein Quellchen den lehmigen Boden ringsumher aufgeweicht. Einmal war sogar eine vom Sturme entwurzelte Tanne quer über den Weg gesunken.

Hm, hm, murmelte der Förster, indem er einen Augenblick stehen blieb und gewohnheitsmäßig mit den Augen die Länge und Breite des Baumes maß und den ungefähren kubischen Inhalt berechnete; hm, hm – ich fange an, alt und nachlässig zu werden. Die Tanne liegt hier schon mindestens ihre vierzehn Tage – seit dem Ungewitter in der Nacht vom Zehnten auf den Elften – und ich weiß nichts davon. Und wie schlecht der Weg geworden ist! Was würde die gnädige Frau selig sagen, wenn sie ihre Lieblingspromenade so verwahrlost sähe! Aber seitdem sie todt ist, kümmert sich Keiner mehr um dies Revier, nicht einmal ich, dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit es doch wäre.

Der brave Mann schüttelte den Kopf und schritt langsam weiter. Wenn er sonst durch den Wald streifte, entging ihm kein Vogellaut, kein Knistern und Knacken in den trockenen Zweigen der Bäume, kein Rauschen in den Büschen. Aber heute Morgen waren es andere Dinge, die ihn beschäftigten – Familiensorgen, Pläne für die Zukunft seiner Kinder, zu denen er seit gestern Abend noch den Sohn seines Bruders rechnete.

Wie lange konnte denn der arme Anton noch leben! Es war ja ein Jammer, wie seine Kräfte in den letzten paar Wochen abgenommen hatten: die Wangen hohl, die Augen so groß und starr, und die Stimme so klanglos, so rauh! – Der arme Anton! ja, ja – er hat wohl Recht: wenig Freude ist ihm geworden in seinem Leben! Was wollte er nicht Alles entdeckt haben: Luftballons, die dem Steuer folgten, Schiffe, die unter dem Wasser fuhren, Bomben, mit denen man ganze feindliche Regimenter auf einmal vernichtete! Und was von allen diesen großen Dingen war zu Stande gekommen? Nichts, weniger als Nichts! Was war aus dem Projectenmacher selbst, der es mit so Vielem im Leben versucht, der immer gerechnet und sich immer verrechnet hatte, geworden? Ein alter, kranker Mann, der in einem elenden Dorfe das bittere Brod der Almosen aß! »Ein tief unglücklicher Mensch, und dem in keiner Weise zu helfen, weil er, ohne irgend die Kraft, welche zur Durchführung eines Planes erforderlich ist, zu besitzen, von seinem allzeit geschäftigen Geiste ruhelos, wie ein von den Furien Gejagter, umhergetrieben wird«. – Das hatte der Freiherr mehr als einmal gesagt, und jetzt sollte er ihm eine Bitte vortragen, die von Jemand, der den Charakter des Anton so genau kannte, gar nicht gewährt werden konnte!

Der Förster seufzte. Er setzte seinen Stolz darein, von seinem gnädigen Herrn niemals etwas zu erbitten, weil er auch den Schein meiden wollte, als glaube er ein Recht zu haben, Bitten zu stellen und die Bitten, die er stellte, erfüllt zu sehen.

Gerade von dem Punkte aus, auf welchem der Förster jetzt stand, konnte er den Versteck sehen, in welchen er in jener Schreckensnacht – anno dreizehn – die Herrschaft gerettet hatte – eine von düstern Tannen umstarrte Schlucht, durch die ein Waldbach in schäumenden Cascaden brauste. Dieser Ort, zu jener Zeit eine fast undurchdringliche Wildniß, war seitdem sehr viel lichter geworden. Der Förster nahm die Mütze ab und fuhr sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn; es fiel ihm dabei ein, daß sein Haar auch nicht mehr so dicht war, als vor vierunddreißig Jahren.

Das war lange her, und doch war es, als ob es gestern gewesen wäre! Damals, gleich nach Beendigung der Krieges, war es, wo der alte Freiherr selig das Friedensfest auf dem Schlosse feierte und die vier freiherrlichen Kinder mit den vier Försterkindern die Quadrille tanzten. Das waren vier Paare! immer zwei und zwei genau von demselben Alter, ja einander so ähnlich – zum wenigsten in dem gleichen Quadrille-Costüm – daß – zum größten Ergötzen der Gesellschaft – die Förstermädchen den ganzen Abend hindurch von einigen Gästen als die Fräulein vom Hause und diese wieder als jene angesprochen wurden. – Auch von mir sagten sie, daß ich in Gang und Haltung etwas von dem Freiherrn hätte. Nun, so viel ist gewiß, daß wir unser Leben lang Einer des Andern Röcke haben tragen können, und was den General und Bruder Anton anbetrifft, die glichen sich wirklich damals zum Erstaunen. Das war das letztemal, das wir beisammen waren, da haben wir unserer Jugend den Kehraus getanzt. Seitdem ist jeder seinen eigenen Weg gegangen; wollte Gott, es wäre immer und überall der rechte gewesen!

Des Försters Gesicht wurde noch nachdenklicher, als er jetzt, die Augen fest auf den Boden geheftet, langsam weiter schritt; ja in den herabgezogenen Mundwinkeln und einem gelegentlichen Zucken der festgeschlossenen Lippen drückte sich ein gewisser Unmuth aus, ein unterdrückter Zorn, wie man ihn bei einer bösen Erinnerung empfindet, die unversehens in uns aufsteigt.

Der Förster stand vor einer Stacketthür, die aus dem Park in den eigentlichen Schloßgarten führte. Er drückte die Klinke auf und trat hinein. Mit braunem Sand bestreute, sorgsam geharkte Gänge schlängelten sich zwischen reizenden Boskets seltener, zum Theil ausländischer Büsche und zwischen Beeten, auf denen Spätsommerblumen in reicher Fülle blühten, mälig bergauf. Die Durchblicke auf den Wald hinab und weiter in die Ebene waren hier häufiger und augenscheinlich mit reiflicher Ueberlegung und großem Verständniß gewählt. Die landschaftlichen Bilder, die man so in den natürlichen Rahmen schlanker Baumstämme und wehender Wipfel gebracht hatte, waren oft von zauberischer Wirkung. Da die Anlagen den ganzen oberen Theil des Bergkegels einnahmen und die Wege in der Weise geführt waren, daß man, um bis zum Schloß zu gelangen, den ganzen Kreis durchmessen mußte, so hatte man in den verhältnißmäßig kleinen Raum eine unglaubliche Mannigfaltigkeit reizender und sinniger Gartenanlagen zu concentriren verstanden. Hier führte eine Brücke aus Baumstämmen und Aesten, denen man die Rinde gelassen hatte, über einen Einschnitt, in dessen Tiefe eine Quelle murmelte; dort sah man von dem Rande eines aus unbehauenen Steinen aufgemauerten Altans auf dieselbe Brücke hinab. Auf einer anderen Stelle verengte sich der Weg, bis er zuletzt in ein Felsenthor mündete, aus dessen feuchtem Halbdunkel heraus man auf eine lichte Höhe trat, von der man den freiesten Blick in das weite Land hatte. Auch fehlte es nicht an dämmrigen Lauben, an kühlen Grotten und ein paar kleinen Springbrunnen, deren liebliches Plätschern die duftige, warme Stille des Gartens nur noch stiller zu machen schien.

Der Förster hatte sich, trotzdem er nun bereits seit einem halben Jahrhundert hier aus- und einging, an all' diesen Herrlichkeiten noch immer nicht satt gesehen, und so blieb er denn wiederum heute an mehr als einer Stelle bewundernd stehen; auch bückte er sich manchmal, eine Pflanze aufzurichten, die der Wind in der Nacht umgelegt hatte, oder um den Duft der hier und da noch blühenden Rosen einzuathmen. Er hatte es nicht eben eilig, denn der gnädige Herr verließ immer erst gegen zehn Uhr sein Arbeitszimmer, um eine Promenade durch den Garten zu machen, wo er dann – wie der Förster aus langjähriger Erfahrung wußte – stets am zugänglichsten und leutseligsten war.

Indem er noch bei sich überlegte, wie er wohl das wunderliche Gesuch des Bruders am schicklichsten anbringen könne, sah er sich plötzlich von einem kleinen Blumenregen überschüttet. Astern, Georginen, Nachtviolen fielen ihm auf Haupt und Schultern, und ein silberhelles Lachen ertönte gar lieblich zu der anmuthigen Ueberraschung.

Der Förster blickte empor. Ueber ein hölzernes Geländer, das eine steilere Stelle des höher gelegenen Weges einfaßte, schaute das rosige Gesicht eines Mädchens von etwa dreizehn Jahren, dessen braune Schelmenaugen vor Vergnügen über den eben vollführten Streich wie Sterne funkelten.

Guten Morgen, Herr Gutmann, rief die Kleine, hast Du mir Silvia nicht mitgebracht?

Nein, Fräulein Amélie, erwiederte der Förster, ich bin in Geschäften hier.

Ach, Du böser Herr Gutmann! Dann kannst Du wieder nach Hause gehen, klagte die Kleine. Meine schönen Blumen! Wenn ich das gewußt hätte! Da würde ich sie einem Andern geschenkt haben.

Ich glaubte, Sie hätten sie mir an den Kopf geworfen, erwiederte der Förster lachend; aber freilich, wenn Sie sie mir geschenkt haben, muß ich sie wohl auch wieder aufsammeln?

Damit das Kind immer unbändiger wird – wann werden Sie lernen, mit Kindern umzugehen, lieber Gutmann? sagte hier eine sanfte Frauenstimme; und eine Dame, die hinter dem Kinde gestanden hatte und jetzt, dasselbe mit dem einen Arm umschlingend, an das Geländer trat, grüßte freundlich still zu dem Förster herab.

Der Förster nahm die Mütze ab.

Guten Morgen, gnädiges Fräulein, sagte er, wie geht's? Besser geschlafen nach dem Thee?

Danke, ja – der Thee bekommt mir vortrefflich; ich fühle mich ordentlich wieder jung.

Man sieht's, sagte der Förster. Sie sehen so wohl und frisch aus, wie –

Wie vor dreißig Jahren, nicht wahr? unterbrach ihn die Dame lächelnd.

Der Förster erröthete durch seine kupferbraune Gesichtsfarbe hindurch.

Sie bleiben immer dieselbe, sagte er einfach und doch mit einer gewissen Lebhaftigkeit.

Sie sind immer derselbe: ritterlich und galant. Adieu. Sie finden den Bruder auf dem Belvedere. Er erwartet Sie schon.

Fräulein Charlotte grüßte in ihrer stillen, anmuthigen Weise noch einmal herab; Amélie warf Kußhände, und die beiden Gestalten verschwanden von dem Geländer.

Der Förster setzte seinen Weg nicht eher fort, als bis er die Blumen alle aufgesammelt und in ein Sträußchen zierlich geordnet hatte. Er hätte wissentlich so wenig eine Blume wie ein Thier zertreten. Und dann war ihm, als ob die Blumen ursprünglich für Fräulein Charlotte bestimmt gewesen wären, und Alles, was mit Fräulein Charlotte in einer näheren und entfernteren Beziehung stand, hatte für ihn noch eine ganz besondere Wichtigkeit und Bedeutung.

Vor dreißig Jahren! Sonderbar! Er hatte heute Morgen so viel an jene Zeit gedacht, und nun mußte er auch noch durch ihren Mund daran erinnert werden! Ja, sie war dieselbe noch, die sie damals war, dieselbe unveränderlich gütige, gnädige Dame; es waren noch immer dieselben freundlichen, sanften Augen, dasselbe milde, herzige Lächeln! Es gab eine Zeit, wo diese Augen, wo dies Lächeln dem armen Fritz Gutmann manche unruhige Stunde, manche schlaflose Nacht gemacht hatten; eine Zeit, wo er im Begriffe stand, dieser Augen wegen nach Amerika und bis an's Ende der Welt zu wandern –

Herr Gutmann war so in's Träumen gerathen, daß er ordentlich zusammenschrak, als er sich plötzlich auf dem Belvedere – einem der schönsten Punkte des Gartens, von dem man die weiteste Aussicht in die Gegend hatte – dem Freiherrn gegenüber fand.

Des Freiherrn schönes Gesicht trug heute Morgen nicht den Ausdruck einer milden, sorglosen Heiterkeit, durch welchen es sich sonst auszeichnete. Er saß an einem steinernen Gartentischchen und starrte mit düsteren Augen in einen Brief, den vor einer Stunde der Postbote gebracht hatte. Da er den Schritt des Herankommenden überhört hatte, so fuhr er auch ein wenig zusammen, als er, den Kopf mit einem Seufzer emporrichtend, plötzlich den Förster vor sich stehen sah.

Guten Morgen, alter Freund, sagte er, Du kommst gerade zur rechten Zeit. Hast mir ja schon so manchen guten Rath in diesem Leben gegeben. Nun rathe auch hier, und vorher lies einmal.

Bei diesen Worten reichte er dem Angekommenen den Brief und deutete zugleich nach einem Stuhl auf der andern Seite des Tisches.

Setz' Dich, sagte er, und lies mit Bedacht. Die Sache pressirt nicht eben, aber sie will wohlerwogen sein.

Der Freiherr erhob sich und fing an mit langsamen Schritten auf dem Belvedere hin und her zu gehen. Der Förster setzte sich und las.

Der Brief war von dem Director des Gymnasiums in der Residenz, bei welchem sich Henri zugleich in Pension befand. Nach einer umständlichen Einleitung, in welcher der Pädagog sich des Weiteren über seine Erziehungsmethode und die Resultate, die er mit derselben bis jetzt noch immer erzielt habe, ausgelassen hatte, fuhr er fort:

»Leider sehe ich mich zu dem Geständniß gezwungen, daß ich mich bei Ihrem Sohne eines gleichen Erfolges nicht rühmen kann. Seine bedeutenden intellectuellen Fähigkeiten würden ihn auf dem wissenschaftlichen Gebiete Vortreffliches leisten lassen, wenn die Lebhaftigkeit seines Naturells ihm ein stetiges Arbeiten – ich muß es leider sagen – nicht geradezu unmöglich machte. Ich sowohl, wie meine Herren Collegen, die sämmtlich dem so glücklich beanlagten, liebenswürdigen Knaben herzlich gewogen sind, wir Alle haben uns die äußerste Mühe gegeben, ihm für diese oder jene Disziplin ein lebhaftes Interesse einzuflößen. Der Schnelligkeit und Gewandtheit, mit welcher er alles Neue erfaßt und anfaßt, gleicht nichts als der Ueberdruß, mit welchem er Alles, sobald der erste Reiz des Neuen verflogen ist, aus der Hand wirft. So kommt es, daß er hinter Schülern zurückbleibt und zurückbleiben muß, die er sonst weit überholen würde.

Indessen könnten wir uns über diese Uebelstände, da sie nur die Geduld der Lehrer in erhöhten Anspruch nehmen und Niemand schaden, als ihm selbst, wegsetzen, wenn wir wenigstens in moralischer Hinsicht mit Henri zufrieden sein dürften. Wir sind es – ich bin Ihnen die gewissenhafteste Offenherzigkeit schuldig, Herr Baron – weniger als je. Sein leichter Sinn, den ich bis dahin immer vertheidigt habe, ist in letzterer Zeit in einen entschiedenen Leichtsinn, ja in eine beklagenswerthe Leichtfertigkeit umgeschlagen. Weder seine Mitschüler, noch seine Lehrer sind auch nur eine Stunde vor seinen Streichen sicher, die bei weitem nicht immer den Charakter der Harmlosigkeit tragen. Erst gestern – und dies ist der eigentliche Grund meines diesmaligen Schreibens – erst gestern, am letzten Tage vor den großen Ferien, hat er sich in Gegenwart der ganzen Classe eines Betragens gegen einen seiner Lehrer – einen ausgezeichneten Pädagogen und vorzüglichen Gelehrten – schuldig gemacht, das die Grenzen dessen, was allenfalls übersehen und verziehen werden kann, durchaus überschreitet, und – ich schreibe dies mit schwerem Herzen – seine sofortige Entfernung von der Anstalt nöthig machen wird.«

Der Director schloß mit der Bitte an den Freiherrn, entweder selbst in die Residenz kommen, oder dann wenigstens schriftlich bestimmen zu wollen, was mit Henri, nachdem er seine Carcerstrafe, die ihm nicht geschenkt werden könne, überstanden habe, geschehen solle.

Nun, was sagst Du? was räthst Du? rief der Freiherr, als der Förster zu Ende gelesen hatte.

Da ist schwer zu rathen, gnädiger Herr, erwiederte der Förster, indem er den Brief auf den Tisch legte und mit der flachen Hand leise darüber hinstrich. Die gelehrten Herren mögen es thöricht genug angefangen, und Henri wird es ja auch wohl darauf angelegt haben. Ja, ich glaube, daß unser junges Herrchen ganz gut weiß, was es will.

O ja, rief der Freiherr, ich weiß aber auch, was ich will. Ich will ihm seine Narrenspossen austreiben. Soldat – das fehlte mir noch! Ei, Fritz, wir Beide sind Soldat gewesen, und ich glaube, keine schlechten. Wenn es ernstlich gilt, so würden wir uns heute nicht weniger brav halten, als damals, und wir wären gewiß die Letzten, die ihre Jungen dem Dienst des Vaterlandes vorenthalten wollten. Aber ein Soldat im Frieden! So ein adeliges Bürschchen, das die besten Jahre, die Jahre, in denen der Mensch den soliden Grund für seine ganze künftige Existenz legen muß, auf dem Paradeplatze und im Ballsaale vertrödelt und vertändelt, das in allen ehrlichen Künsten klein und nur im Nichtsthun groß ist und sich noch etwas dabei dünkt, daß es nicht arbeitet und nicht arbeiten kann wie andere ehrliche Leute – sieh', Fritz, der Gedanke regt mir die Galle auf, und ich sage Dir, der Junge soll nicht Soldat werden, und wenn ich ihn –

Der Freiherr beendigte seinen Satz nicht. Er ging mit großen Schritten auf und ab, offenbar bemüht, seine Bewegung zu meistern. Nach einer kleinen Weile blieb er, die Hände auf dem Rücken, vor dem Förster stehen und sagte in ruhigerem Tone:

Du hast mich oft meines Leichtsinns wegen gescholten; ich weiß, daß Du immer Recht gehabt hast, auch wo ich es nicht Wort haben wollte. Ich kenne mich besser, als ich mir oft den Anschein gebe, und so glaube ich auch Henri's Natur ziemlich gut zu verstehen. Aber eben deshalb möchte ich seinen Fuß vor den Steinen bewahren, über die ich oft genug gestrauchelt und auch wohl manchmal gefallen bin. Welchen Vortheil hätten wir von unsern Thorheiten, wenn unsere Kinder den ganzen Cursus wieder durchmachen müßten! In ihnen ein reineres und edleres Leben zu leben, als wir selbst es vermochten – das ist doch schließlich unsere letzte und unsere beste Hoffnung. Du, alter Freund, darfst in dieser Beziehung zufrieden sein. Ja, wenn ich Dich um etwas beneiden könnte, so wäre es um das sichere Vertrauen, mit dem Du der Entwickelung Deines Walter entgegensehen kannst. Das ist ein Junge, wie ich ihn mir immer gewünscht habe: gescheidt und brav, treu und wacker, und dabei so bescheiden, daß er roth wird, wenn er doch nun einmal gar nicht umhin kann, zu zeigen, wie tüchtig er ist. An dem wirst Du Deine Freude haben.

Ja, ja, sagte der Förster, den dies reichliche Lob seines Sohnes, der doch am Ende sein Fleisch und Blut und also ein Stück von ihm selbst war, ganz verlegen machte; ja, ja, er ist ein braver Bursch, der Walter, und ich freue mich gewiß, daß er so gut einschlägt, wenn ich mich auch manchmal nicht so recht in ihn finden kann. Manchmal fürchte ich fast, es wird doch sein Lebtag kein ordentlicher Förster aus ihm. Ich glaube, sein Auge ist nicht scharf; er schießt nicht besonders, ich hätte mich als zehnjähriger Bube geschämt, so zu schießen. Und dann hat er ja gewiß den Wald lieb, aber nicht, wie ein Försterjunge, der einmal ein Förster werden will, sondern – ja, das läßt sich schwer sagen, wie.

Der Freiherr lachte und sagte:

Ueber uns thörichte Menschen, die wir nicht zufrieden sind, das Gute zu wollen, es sei in welcher Gestalt auch immer, sondern die wir es durchaus in der uns bequemsten Form, in der Form, an die wir nun einmal gewöhnt sind, wollen. Andere Zeiten, andere Sitten; andere Vögel, andere Weisen! Was ist es denn nun, wenn Dein Walter kein so excellenter Forstmann wird, wie sein Vater und sein Großvater war und jedenfalls noch eine lange Reihe von Gutmännern, deren Andenken die Geschichte nicht aufbewahrt hat? So wird er eben etwas Anderes. Und da will ich Dir auch sagen, wie der Junge den Wald ansieht. Wie Du ihn selber oft genug ansiehst, wenn Dein Tagewerk vollbracht ist: wie ein Poet. Du hast mir neulich seine Schulaufsätze gebracht, weil ich sehen wollte, ob sich etwas Bestimmtes in dem Jungen herausbildet. Es ist wenig daran zu sehen, wenn nicht das Eine, daß ihm die Sonne bis in's Herz hineinscheint. Mir ist, als ich die Hefte durchblätterte, der Gedanke gekommen, ob in Deinem Walter die Poesie, die Euch Allen in den Gliedern liegt, nicht einmal zum Durchbruch kommen sollte; ob unter all' diesen Träumern, Knittelversmachern – Du warst früher stark in Knittelversen, Fritz, – unter all' diesen phantastischen Menschen nicht einmal ein wirklicher Poet sein sollte. Ich habe die Hefte Charlotten gezeigt, und sie ist, ohne daß ich ihr ein Wort gesagt hätte, auf denselben Gedanken gekommen.

Ja, sagte der Förster, mir ist dergleichen auch wohl schon durch den Kopf gegangen; er hat manchmal so hübsche Worte, der Junge, wie – wie wenn ein Stern am Himmel aufblinkt; aber ich habe immer gedacht, es sei dabei doch kein rechter Segen für einen Försterburschen, und so habe ich ihn denn, mit schwerem Herzen freilich, jetzt aus der Schule genommen.

Der Freiherr hatte das Gewehr des Försters ergriffen, nach dem Schloß gesehen, die Versicherung auf- und zugedreht, es an die Wange gelegt und mehrmals mit großer Sorgsamkeit in den blauen Himmel gezielt; plötzlich stellte er mit einer energischen Wendung das Gewehr fort, trat dicht vor den Förster ihn und sagte:

Du mußt mir den Jungen lassen, Fritz. Es ist das immer ein Lieblingsgedanke von mir gewesen, und jetzt ist der Moment, ihn zur Ausführung zu bringen. Ich will ihn Dir nicht rauben; ich will nur die Erlaubniß haben, ihn studiren lassen zu dürfen und weiter für ihn zu sorgen, bis er Dich und mich nicht mehr braucht. Die Erlaubniß aber mußt Du mir geben. Sperr' Dich nicht, Fritz! Ich bin Dir im Laufe unseres Lebens so viel schuldig geworden, daß dies höchstens die Zinsen vom Kapital sind. Und dann – wenn ich jetzt so auf die Ausführung dieses Projectes dringe, so habe ich natürlich meine sehr egoistischen Absichten dabei. Henri auf ein drittes Gymnasium zu bringen, ist verlorene Zeit und Mühe; er würde es dort gerade so treiben, wie bisher. Ich muß ihn wieder nehmen, natürlich nicht in mein Haus. Doctor Urban trägt sich schon lange mit dem Gedanken, so eine Art von ländlicher Akademie zu errichten, und er ist, wir mögen sonst sagen was wir wollen, ganz der Mann dazu: gelehrt, energisch und klug genug. Mag er mit unseren beiden Buben den Anfang machen. Henri's dumme Streiche verpuffen hier in der freien Landluft unschädlich, und Dein Junge kommt in den Wissenschaften weiter, ohne den Duft der Schulstube, der ihm so verhaßt ist. Was sagst Du, Fritz?

Der Freiherr legte dem Förster beide Hände auf die Schultern und blickte ihn mit den immer noch schönen braunen Augen so gütig und so froh an, daß Fritz Gutmann mit Freuden sein Leben zum dritten Mal für den geliebten Herrn in die Schanze geschlagen hätte; aber dann dachte er an die bleiche, bekümmerte Gestalt, die gestern Abend neben ihm auf der Bank vor seiner Hausthür gesessen hatte, und an den düstern Knaben mit den großen, scheuen Augen, und er sagte:

Ich weiß Ihre Güte zu schätzen, gnädiger Herr, gewiß und wahrhaftig, und wenn aus meinem Walter etwas Besseres würde, als seine Väter gewesen sind, so wären damit ja nur meine heißesten Wünsche erfüllt. Aber –

Was: aber! sagte der Freiherr mit einiger Ungeduld.

Ich weiß Jemand, der noch ein gut Theil geeigneter wäre, unseres Junkerleins Kamerad zu sein, sagte der Förster entschlossen.

Und der wäre? fragte der Freiherr.

Der Förster faßte sich ein Herz und erzählte von Leo, und wie Jeder, der den Knaben gesehen, behaupte, daß, wenn er nur die Mittel hätte, weiter zu kommen, etwas ganz Außerordentliches aus ihm werden müsse. – Und weil er nun doch einmal im Zuge war, erzählte er auch weiter, um was ihn sein Bruder gebeten habe, und wie der Anton hoffe, der Freiherr werde zu seiner Bitte nicht Nein sagen.

Der Freiherr hatte, nicht ohne lebhafte Zeichen von Ungeduld, dem Förster zugehört. Jetzt sagte er:

Aber Fritz, das geht doch nicht, und Du weißt doch eben so gut wie ich, daß es nicht geht. Warum also quälst Du Dich und mich mit dergleichen!

Bruder bleibt Bruder, murmelte der Förster, man thut und spricht für den Bruder, was man um Alles in der Welt nicht für sich selbst thun und sprechen möchte!

Armer, guter Kerl, sagte der Freiherr. Was hast Du dieses Bruders halber nicht schon Alles gelitten, und das geht nun immer so fort! Wir waren so froh, daß wir den Schwärmgeist in Feldheim endlich zur Ruhe gebracht hatten, nachdem er auf tausenderlei Weise bewiesen, daß er mit der Welt nicht fertig werden konnte. In seinem kleinen Hause mit Frau und Kind war es schließlich doch besser als in dem Schuldthurm. So sagte er selbst; die Freude hat nicht lange gedauert. Die Frau starb. Er hatte bis dahin den Trost gehabt, sich einzubilden, er bliebe nur der Frau halber, die ja auch wirklich nicht weg wollte, in dem Dorfe. Jetzt sah er, daß er mittlerweile zu alt und zu kränklich und in jeder Beziehung zu hilflos geworden war. Das hat er uns nie vergeben können. Aber ihn jetzt hierher nach Tuchheim nehmen, den krausen, unklaren Menschen, mit dem ich mich schon, als wir noch Jungen waren, nicht habe vertragen können – wie Du Dich nicht mit dem General vertragen konntest, weißt Du noch? – nein, das kann er von mir nicht verlangen. Ich will ihm herzlich gerne seine kleine Pension verdoppeln, wenn er –

Der Freiherr schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn:

Aber mein Gott, rief er, was quälen wir uns denn über eine so einfache Sache. Es ist ja klar, daß Anton die Stelle hier nur haben will, um besser für den Leo sorgen zu können, und daß er von dem Wunsche, der mich in eine solche Verlegenheit setzt, sofort zurücktreten würde, wenn er des Knaben Zukunft gesichert sähe. Nun, und wenn der Junge wirklich etwas so Außergewöhnliches zu werden verspricht – und gescheidt sieht er aus, das muß man ihm lassen – so ist es ja geradezu Pflicht, dafür zu sorgen, daß so ein volles Korn in den rechten Boden kommt. So nehme ich die beiden Jungen, da ich schon sehe, daß ich den Walter nicht ohne den Leo haben kann. Und übrigens lernen und erziehen sich drei Jungen so viel besser als zwei, daß der Prosit immer noch auf meiner Seite ist. So mußt Du das auch dem Anton darstellen; man muß ja immer scheinen, sich selbst einen Gefallen zu thun, wenn man ihn am Zopfe aus dem Wasser zieht. Und nun, Fritz, ist die Sache abgemacht. Wir haben uns noch über Alles im Leben geeinigt, und so werden wir in diesem wichtigen Falle nicht auseinander gehen. – Was bringt denn der da?

Mit einem expressen Boten, sagte der herantretende Bediente, welcher dem Freiherrn einen Brief überreichte.

Es scheint, daß heute der Tag der Ueberraschungen ist, murmelte der Freiherr, den Brief, dessen Aufschrift von der Hand seines Bruders, des Generals, war, erbrechend.

Nun, das ist nicht übel, murmelte er, während er das Blatt mit den Augen überflog. Das große Manöver, das in vierzehn Tagen seinen Anfang nimmt, wird sich bis in unsere Gegend hinaufziehen – coupirtes Terrain – günstig für combinirte Gefechtsformen – der König und der Kronprinz kommen – der König hofft, bei seinem alten Freunde auf zwei oder drei Tage vorsprechen zu können. Das heißt, ich soll schleunigst um die Gnade nachkommen, ihn bewirthen zu dürfen, rief der Freiherr, halb ärgerlich und halb lachend. Wie findest Du das, Fritz? Da müssen wir doch gleich zu Charlotte. Komm' mit herein, Fritz. Du darfst in dem Kriegsrath nicht fehlen.

Und die beiden Männer verließen die Terrasse, sich nach dem Schlosse zu begeben. Die neue, unerwartete und dem Freiherrn keineswegs sehr erwünschte Nachricht hatte vorläufig alle anderen Interessen in den Hintergrund gedrängt.


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