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Achtunddreißigstes Capitel.

Der Winter hatte mit Nebelwetter und Schneesturm seinen Einzug gehalten, und in Walter's stiller Straße war es jetzt noch stiller und einsamer geworden. Das Rollen der Droschken tönte wie aus weiter Ferne, die Kinder hatten es endlich aufgegeben, die Dämmerstunde auf der Gasse zu verspielen, und der Obstverkäufer mit der Stentorstimme mußte sein Geschäft liquidirt oder in mildere Regionen getragen haben. Dafür erschallten jetzt häufiger als sonst von dem Hofe her die Klänge mehr oder weniger verstimmter Drehorgeln, und die junge, musikbeflissene Dame in der Bel-Etage, die ihr Clavier genau unter Walter's Schreibtisch stehen hatte, übte mit größerer Energie und mit für den Zuhörer fast ermüdender Ausdauer ihre unendlichen Etüden.

Walter stand am Fenster seines Arbeitszimmers und schaute, die Arme übereinander geschlagen, durch die Scheiben. Es war einer seiner freien Nachmittage, und er hatte geschrieben, bis ihm das Licht zu fehlen begann. Es hatte heute mit der Arbeit gut geschafft; ein schwieriges Capitel in seinem Roman war ihm heute wider alles Erwarten fast wie von selbst aus der Feder geflossen; er fühlte sich leicht und gehoben und freundlich gegen alle Welt, selbst gegen die junge musikbeflissene Dame unter ihm.

Er hätte in diesem Augenblicke gern Jemand gehabt, dem er sich hätte mittheilen können. Er glaubte während des Schreibens Alles zu sagen, was er zu sagen hatte, und jetzt fühlte er, daß Anderes und Anderes sich herzu drängte, den Schneeflocken vergleichbar, die draußen zu fallen begannen. Er hatte nur den einen Ton angegeben, und nun hatte er den Nachklang des ganzen vollen Accordes in seiner Seele; und das tönte und wogte, und wollte Form und Gestalt annehmen, und nahm Gestalt an: die leichte, anmuthige Gestalt eines zarten, sanftblickenden Mädchens.

Der junge Mann breitete die Arme aus, und ein seliges Lächeln flog über sein Gesicht; aber alsbald war das Lächeln wieder verschwunden, und nachdenklich drückte er die Stirn gegen das Fensterkreuz.

Wie würde Amélie das Capitel, das er soeben beendigt, lesen? Würde sie es verstehen? Ganz so verstehen, wie er es verstanden zu sehen wünschte?

Den Stoff seines Romans hatte Walter aus dem Leben, aus seinem Leben geschöpft, und bei der Ausarbeitung – im Feuer der Begeisterung, im Kampfe für seine Ideen – hatte er sich, ohne es zu wollen und zu wissen, der Wirklichkeit, von der er ursprünglich ausgegangen war, immer mehr genähert, so daß zuletzt Wahrheit und Dichtung zusammenfielen. Sein Held war ein junger Gelehrter, der sich durch seinen Freimuth den Haß der Dunkelmänner zugezogen hatte, und seiner Ueberzeugungstreue sein Vermögen, seine Stellung im Leben, seine Ruhe, seine Gesundheit, zuletzt auch seine Liebe zum Opfer brachte. Aber dies letzte Opfer wurde nicht angenommen, denn in dem entscheidenden Augenblicke zeigte die hochgeborene Geliebte, daß sie ihre Liebe noch höher achte als Rang und Stand, daß auch sie groß zu denken und groß zu handeln im Stande sei.

Gerade die Scene, in welcher die Heldin den ungleichen Kampf mit der erbarmungslosen Welt aufnimmt, war es, von der Walter eben herkam. – Würde Amélie, wenn das Schicksal sie in dieselbe Situation bringen sollte, ebenso sprechen? ebenso handeln?

Walter hatte neulich gegen seinen Vetter behauptet, daß er die Größe der Hindernisse, die sich der Erfüllung seiner Wünsche entgegenstellten, niemals ernstlich erwogen habe. In der That hatte seine Liebe zu dem holden Mädchen so früh begonnen, war ihm schon so lange in's innerste Herz gedrungen und hatte sich von da aus so jeder Faser seines Wesens bemächtigt – er wußte, daß diese Liebe für ihn nicht aufhören könne, und im Vergleich zu dieser beseligenden Gewißheit war ihm das Aeußere – die Form und Gestalt, in welcher sein höchster Wunsch in die Wirklichkeit treten würde – klein und unbedeutend erschienen.

Der Umgang mit Leo hatte ihn aus diesem träumerischen Dämmerleben gerissen, wie ein frischer Morgenwind duftige Wiesennebel zerreißt. Wenn er sah, wie klar sich Leo über seine Ziele war, wie resolut er auf diese Ziele losging, wie kräftig er Hindernisse aus seinem Weg räumte, oder wie geschickt er dieselben, wo sie unüberwindlich waren, zu umgehen wußte – mußte sich Walter wie ein unpraktischer Schwärmer vorkommen, der in seinen Phantasien, in seinen Gedanken einen Ersatz für die Wirklichkeit sucht, die er nicht zu bewältigen weiß. Voll ernsten Strebens, wie er war, fühlte er sich durch diese Mahnung zu einer Vertiefung seines Lebens, zu einer energischeren Entfaltung seiner Kräfte aufgeregt. Er machte sich mit neuem Eifer an die Vollendung seiner poetischen Arbeit, und während der Arbeit verschärfte er noch den Conflict, in welchen sein Held gerieth, ja trieb denselben bis auf's äußerste, um sich gleichsam wenigstens theoretisch mit allen Consequenzen seiner Handlungsweise vertraut zu machen. Aber er war einsichtsvoll genug, sich zu sagen, daß das Leben selten so reine Resultate liefert, daß Zufall und Willkür die Situationen verschieben und verrücken, Ueberlegung und Zaghaftigkeit die Leidenschaften abdämpfen, die Entschlüsse verwirren und in den meisten Fällen die Sache schließlich weder zum Weinen, noch zum Lachen, weder tragisch, noch komisch ist – eine alltägliche Geschichte, von der die Leute sagen: Nun, das war ja vorauszusehen.

Walter trommelte in einer plötzlichen Anwandlung von Unwillen und Ungeduld gegen die Scheiben und überhörte so, daß Jemand in die dämmerige Stube getreten war, der mit gleichmäßig ruhigen Schritten herankam und ihm nun die Hand leise auf die Schulter legte. Er wendete sich rasch um und blickte in ein freundlich-ernstes, gedankentiefes Gesicht.

Ach, Herr Doctor! rief Walter überrascht; das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.

Ich störe also nicht? sagte Doctor Paulus.

Wenigstens nicht in etwas, worin man sich nicht gern stören ließe, erwiederte Walter, indem er den verehrten Mann auf das Sopha nöthigte; ich war in melancholische Betrachtungen über die sehr triviale Wahrheit versunken, daß die Poesie poetischer ist, als das Leben.

Und sollte das schon eine so ausgemachte Wahrheit sein? sagte Doctor Paulus; von Aristoteles freilich bis zu dem neuesten Aesthetiker haben es noch Alle behauptet; und vom ästhetischen Standpunkte werden sie wohl auch Recht haben; ich meine in dem, was die Form, das Arrangement, die Gruppirung und Beleuchtung betrifft; aber in stofflicher Hinsicht, habe ich immer gemeint, verhalten sich Leben und Poesie, wie das Wasser im Eimer zu dem Tropfen, der am Eimer hängt, und da nehme ich selbst die paar Dutzend großer Dichter, welche bis jetzt existirt haben, nicht aus. Wenn man sich – so weit das überhaupt möglich ist – das große, das ganze volle Menschenleben vorzustellen sucht, wie es von Pol zu Pol sein Wesen treibt: in Städten, Dörfern, in Feldern und Wäldern, in Einöden, Wüsten, auf dem Meere, über und unter der Erde; wie täglich, stündlich eine Hölle von Verbrechen, von namenlosen Greueln und Schandthaten zum Himmel dampft, während Millionen und aber Millionen braver Herzen in allen Ländern und Zonen unermüdlich klopfen; und wenn man nun bedenkt, daß, was heute ist, vor tausend und tausend Jahren war und nach tausend und tausend Jahren noch sein wird, und doch, so viel Menschen auch leben, lebten und leben werden, nicht Einer dem Andern vollkommen gleicht, geglichen hat oder gleichen wird, und in derselben unerschöpflichen Verschiedenheit die Schicksale der Individuen aus dem Urgrund des Seins hervorquellen – wenn man, sage ich, sich das Alles vorstellt, das Alles bedenkt, so kann man sich über die Kühnheit der Poeten gar nicht genug verwundern, die in diesen ewig lebendigen, brausenden Strom ihre Hände tauchen und daraus soviel schöpfen – als ihnen eben zwischen den Händen bleibt.

Das klingt sehr entmuthigend für uns, die wir Dichter sind, oder doch gern sein möchten, erwiederte Walter.

Ich habe es nicht so gemeint, sagte Doctor Paulus; ich wollte nur, Euch Poeten gegenüber, dem Leben sein gutes Recht, der Wirklichkeit ihre unvergängliche ewige Souveränetät vindiciren. Vielleicht bin ich etwas parteiisch in dieser Frage, und neige mich, als Diener der Wissenschaft und praktischer Politiker, etwas zu sehr zu der Ansicht Plato's, der ja auch in seiner Republik den schönen Künsten eine sehr bescheidene Stelle anweist. Ja, ich gestehe Ihnen, daß ich in der That der Ansicht bin, es könne weder die Religion, noch die Kunst den Menschen, die sich in sie versenken, eine finale Befriedigung gewähren; jene nicht, weil sie die Lösung der Fragen, vor denen wir rathlos stehen, in ein unbestimmtes Jenseits verweist, diese nicht, weil sie nie das Ganze, sondern nur ein winziges Bruchstück, nie die Regel, sondern nur einen bestimmten Fall aufstellen kann, der, wer weiß es? vielleicht ein Ausnahmefall ist. Ich denke mir deshalb, daß beide: Religion und Kunst, nur Durchgangspunkte für das Menschengeschlecht auf seiner Wallfahrt nach der höchsten Entwickelung sind; daß die Religion sich immer mehr in angewandte Moral, in werkthätige Liebe, und die Kunst ebenso in schöne Lebensformen, ich möchte sagen, in lebendige Schönheit umsetzen muß. Und was ich hier vom Menschengeschlecht behaupte, gilt auch von den Individuen. Und damit bin ich, wohin ich wollte, nämlich zu Ihnen selbst, mein junger Freund, gekommen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Sie mir von dem ersten Augenblicke, als ich Sie im Salon des Herrn von Tuchheim kennen lernte, ein großes Interesse eingeflößt haben. Ich fand in Ihnen, was man heutzutage so selten findet, bei großer Klarheit des Urtheils eine nicht minder große Fähigkeit der Begeisterung für die höchsten Ideale; und den Eindruck, den Sie in der Unterhaltung und im persönlichen Verkehr auf mich machten, fand ich bestätigt, als ich später Ihre Bücher las. Ich bewunderte und lobte und lobe durchaus die Kühnheit, mit der Sie – im Gegensatz zu so vielen unserer Salondichterlein – den Fragen, deren Lösung unsere Zeit bewegt, auf den Leib gehen, den Freimuth, mit welchem Sie Ihre Ueberzeugung aussprechen, und ohne alle Umstände das Todte todt nennen und das Begrabene begraben sein lassen. Ich hatte ungeachtet der guten Meinung, die ich von Ihnen hegte, so viel nicht erwartet. Trotz alledem, oder gerade deswegen, kamen mir, als ich die Bücher aus der Hand legte, einige Bedenken, von denen ich wohl möchte, daß ich sie Ihnen mittheilen dürfte. Darf ich?

Sie können mir keinen größeren Gefallen erweisen, sagte Walter, indem er die Hand des verehrten Mannes ergriff und mit Wärme drückte.

Doctor Paulus erwiederte freundlich den Druck und fuhr in seiner milden, einnehmenden Sprechweise fort:

Es kann Sie, da ich mich in Fragen der Poesie von vornherein für incompetent erklärt habe, wenig kümmern, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich Ihre Novellen keineswegs für Meisterwerke halte; aber ich bin Ihnen die Gründe für mein abfälliges Urtheil schuldig, und diese hangen genau mit dem zusammen, was ich vorhin über den Werth der Poesie im Allgemeinen sagte. Ihre Schwächen als Dichter liegen, meine ich, gerade in dem, was Sie mir als Menschen lieb und werth macht, in dem, woran ich in Ihnen den wahrhaften Sohn unseres Jahrhunderts, den Bürger des freien Staates der Zukunft erkenne. Es scheint mir, daß Sie – gleichviel ob bewußt oder unbewußt – von dem Principe ausgehen, Leben und Poesie seien im Grunde identisch, und was die Wirklichkeit producire, müsse sich auch, künstlerisch gestalten lassen. Nun vermesse ich mich keineswegs, bestimmen zu wollen, bis zu welchem Punkte das möglich ist, denn dem Genie sind die Schranken weit gestellt; aber ich glaube eben nicht an diese Identität, zum wenigsten hat sie mir kein Dichter praktisch bewiesen. Im Gegentheil, ich finde, die Poesie macht es überall, wie jene palermitanische Procession, von der Goethe erzählt, daß sie sich durch den Schmutz und den Unrath der Straße einen mühsam zurechtgefegten Schlangenweg mühsam hinaufwindet; sie sieht und will nicht sehen, was rechts und links von ihr liegt, ja sie breitet, um ihn nur dem Auge zu entziehen, über den Kehrichthaufen einen kostbaren Teppich. Das wollen, das können Sie Ihrer ganzen Richtung nach nicht. Sie fragen sich, was gilt mir eine Poesie, die bald dies nicht sagen kann, und bald jenes nicht, die hier einen Umweg und dort gar Halt machen muß? Ich wäre nun der Letzte, der Jemandem diese Frage verargen wollte; im Gegentheil, mir gilt deshalb die Poesie in der That weniger als andern Leuten; aber wenig oder viel – jedes Land hat seine Gesetze, denen man sich fügen muß, so lange man im Lande weilt, und wem die Stege des Parnassus gar zu abgezirkelt vorkommen, der kann eben meiner Meinung nach nichts Anderes thun, als in die prosaische Ebene hinabsteigen, wo er sich frei bewegen darf.

So rathen Sie mir, es bei meinen bisherigen poetischen Versuchen bewenden zu lassen? fragte Walter etwas kleinlaut.

Ich bin mit der Aufzählung meiner Bedenken gegen Ihre poetische Thätigkeit noch nicht zu Ende, entgegnete der Doctor. Wie Sie nämlich innerlich durch die Gesetze der Poesie verhindert sind, das zu sagen, worauf es Ihnen hauptsächlich ankommt, so sind Sie es äußerlich durch Ihre Stellung in demselben Maße. Sie haben Ihre Novellen anonym erscheinen lassen – gewiß nicht aus Menschenfurcht, deren ich Sie für unfähig halte – sondern ich glaube, eher aus einer gewissen Bescheidenheit, und aus der Scheu, sich offen zum Handwerke zu bekennen. Dennoch kann ich diese Anonymität nicht billigen. Ich meine, der Name ist gar nicht eine so gleichgiltige Sache. Wir müssen nach allen Seiten hin vertreten, was wir thun; der Name aber vertritt uns, so müssen unsere Thaten mit unserm Namen gezeichnet sein. Wenn Sie nun aber, vielleicht schon das nächstemal, Ihren Namen nennen, welche Folgen wird das haben? Oder glauben Sie, man werde Ihnen Ihre Angriffe auf Adel und Kirche, Ihre Verhöhnung der »Regierung«, wie sich die brutale Polizeiwirthschaft, unter der wir leiden, naiv genug nennt – man werde Ihnen dies und Aehnliches derart ungestraft hingehen lassen?

Nein, erwiederte Walter, ich bin im Gegentheil überzeugt, daß mich, sobald ich öffentlich mit meinem Namen auftrete, eine Disciplinaruntersuchung, Verwarnung, vielleicht Entsetzung vom Amte erwartet.

Und Sie sind entschlossen, es darauf ankommen zu lassen?

Fest entschlossen!

Ein paar Augenblicke herrschte Stille in dem dämmerigen Gemach, dann sagte Doctor Paulus:

Das hoffte ich. Sie werden manche schwere Stunde durchzumachen haben. Ich, der ich, von armen jüdischen Eltern geboren, eine armselige, freudlose Jugend durchgemacht habe, weiß, was es heißt, sich seinen Weg durch das Leben über tausend und tausend Hindernisse bahnen zu müssen. Ich weiß, was es heißt, nichts auf der Welt sein zu nennen, als die Liebe zur Wahrheit, den Glauben an sich selbst, und die Hoffnung, daß der Messias, ich meine die Erlösung aus der Knechtschaft, kommen wird – dennoch sage ich: Es ist besser so! Kein Glück der Erde kann sich auch nur entfernt mit der Seligkeit vergleichen, die darin besteht, daß man mit sich selbst übereinstimmt. Das ist das Eine, was noththut; alles Andere ist im Vergleich dazu mehr oder weniger irrelevant. Glückauf also, mein lieber junger Freund! Glückauf aus der Dämmerung des Zweifels zu dem hellen Licht der Selbsterkenntniß!

Walter hatte sich erhoben und war ein paarmal auf und ab gegangen; jetzt nahm er wieder neben dem Doctor Platz und sagte:

Verzeihen Sie, wenn mich das Licht, das Sie auf meinen Lebenspfad werfen, für den Augenblick blendet. Was hinter mir liegt, das sehe ich deutlicher, als ich es bis jetzt vermochte; aber wie nun weiter? Wo hinaus führt der neue Weg, auf den Sie mich hinweisen?

Mißverstehen Sie mich nicht, mein junger Freund, erwiederte Doctor Paulus. Ich rathe Ihnen keineswegs, die Werkzeuge, deren Sie sich bis heute bedienten, ohne weiteres wegzuwerfen. Weiß ich doch gar nicht, wie weit Sie es noch in der geschickten Handhabung derselben bringen können, und ob Sie, gerade Sie, nicht berufen sind, die alten Formen mit einem neuen Inhalt zu beleben, vielleicht die Formen selbst zu erweitern? Dichten Sie immer fort! Aber erschrecken Sie nicht, wenn Sie eines Tages die Entdeckung machen, daß Sie als Dichter nicht ganz sein können, was Sie sein müssen. Und was Sie außerdem sein können! Ein Mann der That, ein Reformer, vielleicht ein Revolutionär – ein Mann, der von der Rednerbühne laut verkündet, was er in seinem Pult verschlossen halten mußte, ein Mann, der sich nicht länger müht, in der Fata Morgana seiner Dichtungen Zauberpaläste zu spiegeln, sondern der das staubige Schurzfell um die Hüften bindet und mit Hammer und Kelle an dem Hause baut, in welchem freie Menschen neben freien Menschen wohnen werden. Und nun muß ich Sie verlassen, trotzdem ich noch gern über so Manches, vor Allem über Ihren Vetter gesprochen hätte. Ich habe in einer Vorstadtkneipe ein Rendezvous mit Rehbein und mit anderen Ketzern. Sie sollen mir über die freien Gemeinden, deren Angelegenheit nächstens in der Kammer zur Sprache kommen wird, Auskunft geben; hernach ist eine Parteiversammlung bei Sonnenstein, zu der auch Ihr Vetter kommen wird. Leben Sie wohl! Auf baldiges Wiedersehen!

Doctor Paulus war gegangen. In das dunkle Zimmer warf das Licht der Gaslaterne auf der Straße einen matten Schein. Walter blieb noch lange, in Gedanken verloren, sitzen. Ja, ja, sagte er endlich laut, er hat Recht. Es ist eine Fata Morgana, es ist nicht das Letzte, das Höchsterrungene! Leo wird es erringen; er ist auf dem rechten Wege. Wem fällt es ein, mich zu jener Versammlung einzuladen? Aber Leo wird da sein; das versteht sich von selbst. Ihm öffnen sich alle Thüren – und alle Herzen, sagt Emma Sonnenstein. Nun wahrlich, ich freue mich seines Erfolges; aber ganz ruhmlos möchte ich doch auch nicht zum Hades hinabgehen.

Frau Rehbein brachte die angezündete Lampe herein und einen offenen Zettel, der eben abgegeben worden war. Der Zettel war von Leo und enthielt die Bitte an Walter, um zehn Uhr in einem bestimmten Weinhause mit ihm zusammenzutreffen.

Es war heute der Abend beim Freiherrn, aber Walter fühlte sich nicht in gesellschaftlicher Stimmung. Die Gedanken, die in ihm angeregt waren, wühlten fort und fort. Leo's Einladung kam ihm gerade recht.

Frau Rehbein war bereits an der Thür, als sie sich wieder umwandte und Walter mit einem ängstlich fragenden Blick ansah.

Haben Sie noch etwas, liebe Frau Rehbein? fragte Walter.

Ach ja; sagte Frau Rehbein, mit beiden Händen verlegen an ihrer Schürze zupfend; aber Sie müssen es mir nicht übel nehmen.

Habe ich das während der sieben Jahre, die ich bei Ihnen wohne, jemals gethan?

Ach nein, im Gegentheil; aber Sie haben mir auch nach den ersten vierundzwanzig Stunden gesagt, daß es Ihnen bei uns gefällt, und Ihr Herr Vetter wohnt nun bereits fünf Wochen hier, und ich weiß noch immer nicht einmal, ob er gut in seinem Bette schläft.

Vortrefflich, liebe Frau Rehbein, gewiß vortrefflich! obgleich er sich, offen gestanden, noch nicht darüber ausgesprochen hat.

Noch nicht ausgesprochen, auch Ihnen gegenüber nicht? sagte Frau Rehbein seufzend.

Darüber nicht, und über manches Andere nicht, was mir mindestens ebenso interessant ist!

Frau Rehbein verließ kopfschüttelnd das Zimmer; Walter setzte sich wieder an seine Arbeit.


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