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Sechszehntes Capitel.

Eine Strecke vom Dorfe entfernt, an den Hügel, welchen die Kirche krönte, sich anlehnend, war der Pfarrhof von Tuchheim mit seinen alterthümlichen, epheu-umrankten Gebäuden, zwischen denen stattliche Bäume mächtig emporragten und ihre gewaltigen Arme wie segnend über die Dächer breiteten, ein Bild des tiefsten ungestörten Friedens. Das dumpfe Bellen der Dorfhunde, das Krächzen der Dohlen, wenn sie des Abends aus dem Walde kamen, der blecherne Ton der Thurmuhr, die in unendlicher Monotonie die Stunden zählte, das tiefe Summen der Glocke, welche die Gläubigen zur Andacht rief – das waren so ziemlich die einzigen Töne, welche von außen her in die Stille des Pfarrhofes drangen, und dieser Stille draußen entsprach die Ruhe, die – für den Eintretenden fast beklemmend – in dem alten, weitläufigen Hause herrschte. Wenn Doctor Urban die weißgescheuerte Treppe hinaufstieg, um die Schlafzimmer der Knaben, die sich in dem breiten Giebel des Hauses befanden, zu revidiren, so hörte man das Knarren jeder einzelnen Stufe und jeden seiner schweren Tritte über den langen Corridor, und wenn in der Küche den unsicheren Händen der Frau Urban ein Teller entglitt und auf dem Estrich in Scherben brach, so konnte sie mit Sicherheit darauf rechnen, daß ihr Gatte über Tisch die lächelnde Frage an sie richtete: wer denn heute Morgen schon wieder das häusliche Concert arrangirt habe. Es war, als ob die dicken Wände nicht blos Ohren hätten, Alles zu hören, sondern auch einen Mund, Alles wieder zu erzählen, und als ob sie sich dieser Mühe einzig und allein im Auftrage und Interesse des Doctor Urban unterzögen.

Ohne Zweifel war Se. Hochwürden die Seele des Hauses, und es war vielleicht eben deshalb, daß es so still und kühl und immer etwas dumpfig im Hause war, so oft und viel man auch die Fenster öffnete. Dabei war Doctor Urban keineswegs ein Kopfhänger oder schweigsamer Murrkopf. Im Gegentheil, er war sehr gesprächig, und selbst wo er sich genöthigt sah, einen Tadel auszusprechen, eine Rüge zu ertheilen, sehr höflich; ja er wurde immer höflicher und lächelte immer entschiedener, je kälter in solchen Momenten seine Augen blickten und je spitzer er seine Worte setzte. Ich wollte lieber, er würfe mir einmal das Buch an den Kopf, als daß er mir jeden meiner Fehler lächelnd vorzählt, meinte Walter, und Henri, bei welchem doch die Phantasie gerade nicht vorzugsweise rege war, behauptete, Doctor Urban sei ein Vampyr und fräße heimlich Menschen. Henri bedeckte auch die Blätter seiner Diarien mit entsetzlichen Carricaturen der starken Züge und der großen Gestalt des Doctors; er wußte die Stimme desselben auf das Ergötzlichste nachzuahmen; besonders gelang ihm eine Scene zwischen dem Pastor und der Pastorin, in welcher es sich um einen der vielen kleinen Unglücksfälle handelte, die der guten Dame so ziemlich täglich begegneten und die dem Doctor stets seine witzigsten und schärfsten Worte entlockten.

Walter, der ein unermüdlicher Zuhörer und Zuschauer von Henri's Schwänken und Schnurren war, wurde jedesmal böse, sobald der unbarmherzige Spötter auch Frau Urban nicht verschonte. Sie ist eine gute Frau, Henri, sagte der Knabe, und dabei glühten seine Wangen vor innerer Erregung; sie hat es nicht verdient, daß wir uns über sie lustig machen.

Meinetwegen, erwiederte Henri leichthin, und höre, Walter, wir haben ein paar Stunden frei, wollen wir die Mädchen abholen und sie Schlitten fahren? Das Eis auf dem Dorfteich ist excellent.

Dagegen hatte Walter nichts einzuwenden. Er hatte nie etwas gegen eine Partie einzuwenden, bei welcher er voraussichtlich in Amélie's braune Augen schauen konnte; und dergleichen Partien kamen jetzt oft zu Stande, da Silvia noch immer auf dem Schlosse zum Besuch war und Walter selbst sich der besonderen Gunst sowohl des Freiherrn als auch Fräulein Charlotten's erfreute. Auf Fräulein Charlotten's Wunsch, die jenen Abend, als die jungen Leute in dem Gartensaale sangen, nicht wieder vergessen hatte, war ein regelmäßiges Quartett eingerichtet worden, das unter der energischen Leitung der Miß Jones den erfreulichsten Fortgang nahm. Miß Jones unterzog sich auch der Mühe, ihre musikalischen Zöglinge in der Tanzkunst zu unterrichten, zum unsäglichen Ergötzen Henri's, dessen mimisches Talent aus den grotesken Attitüden und entschiedenen Pas der etwas corpulenten Miß die fruchtbarste Nahrung zog. Nur Fräulein Charlotten's Gegenwart war im Stande, die tolle Laune des Uebermüthigen in Schranken zu halten. Glücklicherweise war die treffliche Erzieherin über den Verdacht, die Zielscheibe irgend eines Spottes zu sein, weit erhaben. Sie lebte ganz ihrem Berufe, freute sich jedes Fortschrittes ihrer Zöglinge, liebte Alle und betete Silvia an, von der sie behauptete, daß sie mehr Genie besitze, als die sämmtlichen sechsunddreißig jungen Damen, die ihr bereits ihre accomplishments verdankten, zusammengenommen. Fräulein Charlotte gab der corpulenten Enthusiastin Recht, obgleich sie sich sehr hütete, die Bewunderung, welche ihr das junge Mädchen einflößte, merken zu lassen. Sie wird nur allzu früh erfahren, daß sie wenig ihresgleichen hat, meinte Fräulein Charlotte.

An diesen Hebungen und gesellschaftlichen Genüssen nahm Leo so gut wie keinen Theil. Den Aufforderungen, an den Musikabenden mitzuwirken, setzte er hartnäckig sein »ich kann nicht singen« entgegen, und was das Tanzen anbetraf, so scheute selbst die resolute Miß Jones, die sonst Jedem Jedes zumuthete, vor dem Gedanken zurück, von dem düsteren Knaben im Ernste dergleichen zu verlangen.

Leo war zufrieden, wenn man ihn sich selbst überließ; er verlangte nichts weiter. Der Hunger nach Liebe, oder doch wenigstens Anerkennung, von dem er früher so viel gelitten hatte, war in dem Streben nach Heiligung, das seine leidenschaftliche junge Seele jetzt ganz erfaßt hatte, verschwunden.

Schon hier auf Erden heilig zu sein! Es war ja nicht unmöglich, hatte doch der Herr selbst die Vollkommenheit zum Gebote gemacht! Aber wie zu diesem Ziele gelangen? Durch die Flucht in die Einsamkeit, in jene Einsamkeit, in welche sich die großen Männer aller Zeiten begeben haben, um rein zu bleiben, oder im Kampf mit dem Teufel, dem Versucher, rein zu werden. O, das Leben eines Anachoreten, der am Rande der Wüste in der Grabkammer, die vor Jahrtausenden braune Hände in die Felsen meißelten, seine Wohnung nimmt! Wie groß die Stunde, wenn der glühende Sonnenball in dem wasserlosen Meere versinkt und nun das Dunkel heraufzieht mit den Myriaden leuchtender Gestirne! Wie beredt das feierliche Schweigen ringsumher! Wie innig die Zwiesprache mit dem Geiste, der über den Wassern schwebt und dessen Athem das lauschende Ohr noch in dem Wehen des Windes vernimmt, der in feierlichen Tönen über die grenzenlose Oede rauscht!

Oder durch eines Klosters altersgraue Mauern abgeschlossen sein von der Welt und ihrem wirren Treiben, in Gemeinschaft gleichgesinnter Seelen ein der Beschallung, der Andacht, dem Studium guter Schriften geweihtes Leben zu führen! Des Morgens in dem thaufrischen Klostergarten der Blumen und Bäume zu pflegen, des Abends im trauten Gespräch mit den Brüdern in den dämmerigen Laubgängen zu wandeln, durch die Gitterpforte in das Thal hinabzusehen und auf den Fluß, dessen schöne Windungen das Rosalicht des Himmels wiederspiegeln!

Und war denn nicht ein Theil dieser Klosterträume schon in Erfüllung gegangen? War es nicht still, klösterlich still in dem Pfarrhaus von Tuchheim?

Mit einer unendlichen Lust versenkte er sich in diese Stille. Er hatte es durchgesetzt, daß er sein Zimmer für sich allein hatte, während Henri, der ohne Gesellschaft nicht leben konnte, Walter's Stuben- und Schlafkamerad geworden war. Da war es nun seine Seligkeit, wenn Alles im Hause schlief, über seinen Büchern zu sitzen, oder am Fenster zu träumen, wenn der Mondschein aus dem schneebedeckten Dache und den Fenstern der Kirche glitzerte, die hohen, alten Bäume im Winde knarrten und die Käuzchen in den Mauerlöchern vor Kälte und Hunger schrieen. Welche Phantasien zogen dann durch des Knaben Hirn! Bilder ferner Wunderländer jenseits des rollenden Oceans; Inseln der Seligen, wo stille, fromme Menschen am Tage im Schatten wehender Palmen ruhen und des Nachts, umkost von lauen Lüften, hinaufschauen zu der Herrlichkeit der ewigen Sterne. Dazwischen Träume von einer unendlichen Macht, heiße Gebete um den Glauben, der Berge versetzt und zu jener Gewalt verhilft, die da bindet und löset im Himmel und auf Erden. Und warum sollten es nur Träume bleiben? Warum sollten diese Gebete nicht in Erfüllung gehen? Hatte der Herr nicht alles dies den Seinigen versprochen? Kann des Herrn Wort Lüge sein? Nimmermehr! Wo Zwei versammelt sind in seinem Namen, da ist er mitten unter ihnen, und wo Einer ihn inbrünstig rufet, da will er ihn erhören!

Aber noch immer fehlte ein sichtbares Zeichen, das ihm selbst seine höhere Mission unwiderleglich bewiesen hätte; ein Wunder, wie sie so viele aus dem Leben der Propheten und Apostel berichtet werden.

Und eines Nachts erhob sich der Knabe von seinem Lager und schlich auf den Zehen durch den Gang, welcher das Pastorhaus mit der Sakristei verband, nach der Kirche.

Nun stand er in dem geheiligten Raum. Der Mond schien hell auf die Gegenstände, welche in dem Bereich der schmalen hohen Fenster lagen, während der weite Raum im Halbdunkel verdämmerte, oder in tiefe Finsterniß getaucht war. In der lautlosen Stille hörte man deutlich das langsam-gleichmäßige Tiktak des Pendels in der Thurmuhr und gelegentlich das Pfeifen des Windes durch die Schalllöcher und das Sprengewerk des Dachstuhls. Die Eisesluft der Winternacht erfüllte die Kirche, aber Leo spürte nichts davon. Jetzt oder nie würde er die Losung empfangen, die ihm der Himmel erschloß! Wenn die Engel jetzt nicht herniederstiegen und ihm dienten, so war er nicht mehr als die anderen Menschen!

Auf dem Altar, zu den Füßen des großen Crucifixes kniet der Knabe in heißem Gebet, zuerst schweigend, dann im erhöhten Eifer abgebrochene Worte murmelnd; zuletzt mit lauter Stimme den Herrn anflehend, sich seiner zu erbarmen, ihn aus dem Staube zu erheben, aus der Grabesnacht der Erde, ihm wenigstens von ferne die Glorie zu zeigen, mit der seine Himmel gefüllt sind. Vergebens sein Rufen, vergebens sein Bitten, vergebens auch seine Verzweiflung. Kein Gott will ihn erhören und ihm seine Himmel öffnen, wie spottend hallt das Echo den Ton seiner eigenen Stimme wieder.

In tiefster Entmuthigung lehnt er sein Haupt gegen das Holz des Crucifixes; er kann nicht mehr beten, er kann nichts mehr denken; wie früher von den Menschen, so fühlt, so weiß er sich auch von dem Gott verlassen, an den er geglaubt, auf den er seine ganze Hoffnung gesetzt hat.

Die grimme Kälte erfaßt ihn und schüttelt seine Glieder. Gebrochen in seiner Kraft, gebrochen in seinem Muth, grenzenlos elend erhebt er sich und schleicht auf demselben Wege, auf welchem er gekommen, wieder zurück in seine Stube, wo er die Lampe erloschen findet. Beim Schein des Mondes tappt er nach seinem Lager und drückt die pochenden Schläfen in das Kissen, bis der Schlaf sich seiner erbarmt und ihn auf einige Stunden von seinen Qualen erlöst.


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