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Viertes Capitel.

Es war in der ersten Morgenfrühe desselben Tages, als Anton Gutmann in der Giebelstube seines Häuschens an Leo's Bett trat. Er legte ein Bündelchen, das er in ein baumwollenes Taschentuch geschlagen hatte, und Mütze und Stock auf den Tisch und weckte sanft den Schläfer, der die dunklen, schlafumflorten Augen aufschlug und mit einem leeren Blick auf den Vater starrte.

Ich wollte Dir Lebewohl sagen, Leo.

Er hatte ihm gestern, als sie von der Försterei durch den Wald kamen, mitgetheilt, daß er am nächsten Morgen in die Stadt müsse – zum Herrn Landrath; er werde einen, vielleicht zwei, drei Tage ausbleiben, Leo solle indessen zum Onkel gehen; es sei schon mit dem Onkel verabredet. Auf das Alles hatte der Knabe, der mit seinen Gedanken vollauf beschäftigt gewesen war, wenig geachtet, und jetzt war er noch so müde.

Leb' wohl, murmelte er, während sich die Augen schon wieder schlossen und der Kopf sich auf die Seite neigte.

Anton Gutmann seufzte. Er strich mit leiser Hand dem Schlummernden das Haar aus der heißen Stirn, beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Dann nahm er sein Päckchen, griff nach Stock und Mütze, schlich auf den Zehen nach der Thür, warf von dort noch einen langen, traurigen Blick nach dem Schläfer und drückte sich hinaus.

Die Purpurstreifen, welche die Morgenröthe an die weiße Wand gemalt hatte, erblaßten allmälig; heller und heller wurde es in der Kammer; die Sonne, die über den Waldrand heraufstieg, sendete ihre ersten horizontalen Strahlen durch das weinlaubumrankte Fensterchen und weckte den Schläfer. Er richtete sich empor. Hatte es ihm nur geträumt? War der Vater nicht hier gewesen und hatte ihm Lebewohl gesagt? Lebewohl auf einen Tag, auf zwei, drei Tage? Er sollte allein sein, frei sein, zum erstenmal in seinem Leben, frei zu schlafen oder zu wachen, zu kommen oder zu gehen – das war ein Fest, das gefeiert werden mußte!

Mit einem Sprunge war der Knabe aus dem Bette und begann sich mit vor freudiger Aufregung zitternden Händen anzukleiden, ja er fing an zu singen; aber gleich nach den ersten Tönen schwieg er; er hatte nie gesungen, und seine eigene Stimme klang ihm unheimlich fremd.

Wenn der Vater doch nicht fort wäre – wenn er plötzlich den Kopf zur Thür hereinsteckte, verwundert, ärgerlich über den ungewohnten frühen Lärm!

Behutsam öffnete er die Kammerthür und lauschte hinaus. Die alte Katze schlüpfte durch die Spalte und strich miauend um seine Beine, sonst war Alles still.

Er ging auf den Zehen über den niedrigen Boden, in welchem noch die schwüle, dumpfe Luft des vergangenen Tages lag, und stieg vorsichtig die knarrenden Stufen der morschen Treppe hinab. Die Thüren unten in dem kleinen Hausflur, rechts in die trostlos leere Küche, links in des Vaters dürftig ausgestattetes Zimmer standen auf. Der Vater war wirklich fort. Der Knabe athmete tief, kehrte mit etwas erleichtertem Herzen in sein Kämmerchen zurück und setzte sich an den Tisch am Fenster, an welchem er viele Stunden des Tages über seiner Arbeit saß, manchmal den ganzen Tag lang.

Was sollte er anders thun, als arbeiten?

So lange er zurückdenken konnte, hatte er nichts gethan, als gearbeitet. Wenn die Dorfkinder auf der Gasse spielten oder singend aus dem Walde kamen, hatte er gesessen und Vocabeln gelernt, Exercitien gemacht oder doch wenigstens in seinen Geschichtsbüchern gelesen. Er konnte so wenig spielen, als singen. Der Vater hatte es ihm so früh verleidet. Dumme Jungen spielen, hatte der Vater gesagt; kluge arbeiten, damit sie reich und mächtig werden und das Gesindel – dabei hatte er verächtlich auf die sich balgenden Dorfkinder gewiesen – beherrschen, es wie eine Schafheerde vor sich her treiben können.

Du bist ja doch auch klug und hast so viel gelernt, Vater, hatte der Knabe gefragt, warum bist Du denn so arm, daß wir oft kaum Brod haben, uns satt zu essen? – Ich habe Unglück gehabt, hatte der Vater murmelnd geantwortet, ich bin auch nicht klug genug gewesen, hatte auch nicht genug gelernt. Du aber, Leo, Du mußt klug werden, klüger als alle andern Menschen, dann wirst Du auch mächtiger als alle andern Menschen sein.

Wie des Knaben Herz brannte, wenn diese und ähnliche Worte wie Feuerflocken in seine Seele fielen! Sollte das Wissen wirklich das Zauberwort sein, auf das sich die kahle Felswand öffnet zu den weiten Sälen, in denen es von Gold und Edelsteinen glänzt und funkelt? Sollte in den lateinischen Vocabeln eine Kraft stecken, die eine niedrige, strohgedeckte Hütte in einen stolzen Palast umwandeln kann – einen Palast, von dessen breiter Marmortreppe der Königssohn herabschreitet, die Schaar der Bauernknaben gnädiglich aufzuheben, die an der untersten Stufe ehrfurchtsvoll auf den Knieen liegt? Das waren kindische Träume, über die der zum Jüngling herangewachsene Knabe lächelte.

Solche Zaubermacht hat das Wissen nicht; aber eine andere, die vielleicht nicht minder groß ist. Ueberredung ist auch Macht. Keine andere stand den Propheten des alten Testaments zu Gebote, und doch vermochten sie oft das ganze Volk nach ihren Absichten zu lenken; und der Herr selbst hat nichts gehabt als sein Wort, und doch hat das Wort die halbe Welt bezwungen und wird die ganze noch dereinst bezwingen. O, wie des Knaben Stirn glühte bei diesem Gedanken! Ein Prediger zu sein des Herrn, und hinauszuziehen in alle Lande, zu verkünden seine Lehre, die Lehre von der Freude, von dem Frieden, dem ewigen Frieden, dem eine ganze Welt voll schöner, unschuldiger Menschen lächelnd huldigt!

Und der Knabe versenkt sich immer tiefer in diesen Gedanken. Was er thut, ist nur Mittel zu dem großen Zweck. Er fastet und hungert, denn der Prediger in der Wüste darf nicht fragen: was werde ich essen oder trinken; er schläft oft auf dem harten Boden, denn des Menschen Sohn hatte auch nicht, wo er sein Haupt hinlegte; er zwingt sich, halbe, ganze Nächte hindurch zu wachen, denn die Stunde auf dem Oelberg wird auch für ihn kommen, die Stunde, wo er für die Wahrheit seiner Lehre wird zeugen müssen, wo er wird beweisen müssen, daß er die Menschen, seine Brüder, ebenso und mehr geliebt hat, als sich selbst.

Die Menschen, seine Brüder! Er hat nie einen Bruder, nie eine Schwester gehabt; seine Mutter hat er kaum gekannt. Und seinen Vater – liebt er den? Liebt denn der Vater ihn? Wodurch beweist er es? Ist er je so freundlich zu mir, wie der Onkel es stets gegen seine Kinder, ja selbst gegen mich ist? Weiß ich es nicht noch recht wohl, wie er mich früher geschlagen, ja mit Füßen getreten hat, wenn ich meine Lection nicht ohne Anstoß hersagen konnte? Ist er nicht stets verdrießlich, mürrisch, launisch? Kann ich ihm je das Mindeste recht machen? Beobachtet er mich nicht überall? lauert hinter mir auf Schritt und Tritt? Was kann ich dafür, daß er so viel Unglück gehabt hat? Es ist seine eigene Schuld gewesen; sagt er doch selbst, Niemand sei arm und elend ohne eigene Schuld. Warum ist er arm und elend und macht mich mit elend? Nun, heute wenigstens, vielleicht auf ein paar Tage, bin ich allein – und frei und frei –

Und wieder versuchte der Knabe zu singen, und wieder schwieg er nach den ersten Tönen, erschrocken vor der eigenen Stimme. Er schlug seine lateinische Grammatik auf und begann, die Seite mit der Hand zudeckend, sich selbst seine Lection von gestern zu überhören. Es fehlte ihm auch nicht ein Wort; er lächelte stolz und zufrieden, und vertiefte sich in seine Arbeit.

Aber die Sonne störte ihn; sie kam auf seinen Tisch und schien auf das Blatt; er rückte weiter; die Sonne kam ihm nach. Unwillig klappte er das Buch zu.

Draußen lag der goldene Schein so warm auf den Wiesen und auf dem Waldrande, über dem ein Raubvogel seine Kreise zog. Der Knabe stützte den Kopf in die Hand und schaute hinaus. Und wie er so schaute, ergriff ihn stärker und stärker eine Empfindung, die er schon öfter gehabt, wenn er Vögel im Fluge beobachtet hatte, als könne er auch fliegen, hoch, hoch über der Erde, ja über den Wolken in den Himmel hinein.

Es litt ihn nicht mehr in der Kammer; in der nächsten Minute war er die Treppe hinab, hinten zum Häuschen hinaus auf der Wiese, und eilte dem Walde zu.

Wie schattig und kühl war es im Walde. Oben in den breiten Kronen der Buchen und Eichen spielte der Morgensonnenschein; aber nur hie und da drang ein Strahl bis unten auf den moosigen Grund. Es war ganz still; nur manchmal knackte es rechts oder links im Dickicht unter den leichten Tritten eines Rehes, das der frühe Wanderer aufgeschreckt hatte; zuweilen ging ein Rauschen durch die Wipfel, das aus den Tiefen des Forstes zu kommen schien und raunend und flüsternd in der Ferne erstarb.

Leo war noch nie so früh im Walde gewesen; der neue Eindruck entzückte seine empfängliche Seele. Er genoß zum ersten Male in seinem Leben das Gefühl vollkommener Freiheit; aber alsbald störte die Seligkeit, der er sich kaum überlassen hatte, der traurige Gedanke, daß er allein sei, daß er Niemand habe, mit dem er sein Glück theilen könnte. Zwar Walter liebte ihn gewiß, und er seinerseits hatte Waltern ja auch recht gern; Walter hörte wohl zu, wenn er von seinen Plänen, von seiner Zukunft sprach, aber das war ja auch Alles. Das rechte Verständniß für das, was ihn interessirte, hatte Walter doch nicht. Wie oft hatte er das schmerzlich empfunden; noch gestern Abend, als er von seiner Absicht sprach, als Missionär in die weite Welt zu gehen, und jener behauptete, sich nicht von seinem Walde trennen zu können. Und Silvia? – Des Knaben Lippe krümmte sich verächtlich, als er den Namen seiner Cousine laut ausgesprochen. Sie hatte ihn einen Bettler gescholten, das stolze, trotzige, wilde Ding; er hatte ein gutes Gedächtnis; und wußte, daß er ihr das nicht vergessen würde. Einen Bettler, ihn! Wann hätte er je gebettelt? je einen Menschen um ein Stück Brod, ja nur um ein freundlich Wort gebeten, so oft er auch schon im Leben nach Brod gehungert und nach Liebe gedürstet hatte? Und doch! War er nicht im Begriffe, die Gastfreundschaft des Försterhauses in Anspruch zu nehmen? Sollte er zurückkehren in seine einsame Kammer, zu der Gesellschaft seiner Katze, die heute Morgen schon vor Hunger geschrieen?

Wie allein sich der arme Knabe fühlte! Wie allein und wie verlassen und unglücklich! Wohin war nun die ambrosische Schönheit des Morgens geflohen? Wie war der helle Sonnenschein so falb geworden! Wie ahnungsreich und schwermuthsvoll rauschte es in den Bäumen! – Allein und verlassen!

So irrte er weiter und weiter, stundenlang querwaldein, zuletzt unter den Wipfeln mächtiger Tannen, deren herabgefallene, vertrocknete Nadeln den unebenen, mit Steingeröll überdeckten Boden noch weniger gangbar machten. An manchen Stellen war die Erde von Wasser durchsickert, das hie und da ein Rinnsal bildete. Mit dem Raunen des Windes in den Wipfeln vermischte sich ein stärkeres, gleichmäßiges Rauschen; es kam von dem Waldbach, der, oben im Gebirge entspringend, hier auf den letzten Terrassen der Vorberge dem nahen Flusse in der Ebene ein bedeutendes Wasser zuführte.

Unwillkürlich lenkte Leo seine Schritte dem Bache zu. Er wußte nicht, wie lange er bereits in dem Walde war, aber er fühlte sich müde, hungrig und durstig. Auch konnte ihm der Lauf des Baches, der, wie er wußte, nicht weit von dem Försterhause aus dem Walde in die Wiesen trat, als Führer in der pfadlosen Wildniß dienen.

In dem Maße als das Rauschen lauter und lauter ertönte, bedeckte sich der Boden mit immer größeren Felsblöcken, zwischen denen der Knabe mühsam hinabklomm. Auf einmal, ehe er es sich versah, stand er, aus den dichten Stämmen heraustretend, unmittelbar über dem Bache.

Es war ein prächtiger Anblick. Von einer Felsentreppe kam das Wasser in mächtigen Sprüngen herabgestürzt, hier in glatter Masse über eine breite Stufe schießend, dort, zwischen großen Steinen gewaltsam zusammengepreßt, in kühneren Bogen hervorbrechend, strudelnd, wirbelnd, kochend, zu Schaum zerspritzend, unter beständigem, in solcher Nähe fast betäubendem Brausen, Rauschen und Donnern.

Leo hatte diesen Ort noch nie betreten, obwohl er in der Familie seines Onkels oft schon von den Wasserfällen hatte sprechen hören. Wäre er weniger hungrig und durstig gewesen, so würde ihn das herrliche Schauspiel wohl angezogen haben; aber jetzt machte ihn das starke Geräusch, das seine überreizten Nerven allzu sehr erschütterte, nur noch ungeduldiger. Er wollte trinken, aber da, wo er stand, war das Ufer viel zu steil, als daß man bis zum Wasser hätte hinabgelangen können. So kletterte er denn an den Felsen weiter, bald unmittelbar über dem Bache, bald, wo der Absturz allzu jäh war, genöthigt, sich wieder in den Wald zu wenden und dort zwischen den dichten Stämmen über die knorrigen Wurzeln, die wie Polypenarme die moosigen Blöcke umklammert hielten, sich einen mühsamen Weg zu bahnen.

Dann ging es mäliger hinab nach dem Uferrand.

Uralte Bäume umragten eine kleine Bucht, die mit chaotisch übereinander gewirrten, von dichtem Moos und riesigen Farrenkräutern ganz übersponnenen Felsblöcken angefüllt war. Zwischen den Blöcken waren kleinere und größere Höhlen, von denen die eine mehreren Menschen zugleich vor einem plötzlichen Ungewitter einen sichern Zufluchtsort gar wohl gewähren mochte. Zwischen dieser Stelle und dem gegenüberliegenden Ufer, das viel sanfter zum Wasser hinabstieg, hatte der Bach ein kleines Bassin gebildet, dessen spiegelklare, friedliche Fläche mit dem brausenden Ungestüm der oberen Katarakte gar anmuthig contrastirte. Nach unten zu wurde das Bassin durch einen Felsenriegel begrenzt, der ursprünglich diese Aufstauung der Gewässer bewirkt hatte und über den sie jetzt, wie über ein natürliches Wehr, in fast gleichmäßiger Stärke mehrere Fuß herabfielen. Die Kühle des Ortes, das durch die hohen Bäume gedämpfte Licht, das gleichmäßige, hier weniger betäubende Rauschen des Wassers, die unendliche Einsamkeit und Abgeschlossenheit – das Alles stimmte so wunderbar zusammen, daß Leo sich wie von einem Zauber berührt fühlte. Er warf sich zwischen den Felsen auf den moosigen Grund, stützte den Kopf in die Hand und blickte auf die kaum bewegte Fläche des Wassers und nach dem gegenüberliegenden Ufer, wo auf dem glatten Sande, den die Strömung dort hingespült hatte, schlanke Bachstelzen ihr zierliches Wesen trieben.

In dieser Einsamkeit fühlte sich der Knabe noch einsamer und verlassener, aber nicht mehr so unglücklich als vorher. Auch der Hunger war jetzt, nachdem er seinen Durst gestillt, nicht mehr so nagend. Eine große, allgemeine Erschöpfung, die aber nichts Beängstigendes hatte, ergriff ihn; er fühlte sich müde, todmüde. Er hätte einschlafen mögen, um nicht wieder aufzuwachen. Wer würde ihn vermissen? Vielleicht würde man seinen Leichnam ein paar Tage hindurch vergeblich suchen, und sich dann beruhigen, als sei eben nichts geschehen. Wer kümmerte sich um ihn?

Und seine großen Pläne? Die sollten nun alle bloße Träume gewesen sein? Er sollte nicht die fremden Länder sehen mit den seltsamen Menschen, den ungeheuerlichen Pflanzen und den wunderlichen Thieren? Und Papst und Jesuiten-General? – das waren Alles kindische Wünsche, – Visionen eines Bettlerknaben, der tief im einsamen Walde vor Erschöpfung und Hunger umkommt?

Solche Gedanken zogen durch das junge überreizte Gehirn; bald aber mischten sich in die wachen Gedanken wunderliche traumhafte Gebilde. Er sah sich inmitten eines prachtvollen Saales, von dessen Marmorwänden die Lichter eines großen Kronleuchters blitzend zurückgeworfen wurden, an einer großen runden Tafel, die mit den herrlichsten Schüsseln voll der leckersten Speisen bedeckt war. Er war nicht allein; eine Menge Männer in den prächtigsten Kleidern saßen um den Tisch; er kannte die Männer nicht, konnte auch ihre Gesichter kaum unterscheiden, mit Ausnahme des Einen, der zu seiner Linken saß, eines jungen Mannes mit blauen, übermüthigen Augen und hoher, weißer Stirn, vor dem sich Alle ehrfurchtsvoll neigten, der sich aber mit Niemandem beschäftigte, als mit ihm, und nicht müde wurde, seinen Teller zu füllen mit Kuchen und Früchten, bis der Teller nichts mehr fassen konnte und der junge Mann mit den übermüthigen Augen übermüthig zu lachen anfing und plötzlich in die Hände klatschte: Husch, husch! Und Saal und Tafel und Speisen und Gäste – Alles war verschwunden.

Drüben auf dem flachen, sandigen Ufer stand Silvia. Das Klatschen hatte den Bachstelzen gegolten, die jetzt in wiegendem Fluge über die Fläche zogen. Husch, husch! rief die Kleine noch einmal und hüpfte und lachte. Dann trat sie bis an den äußersten Rand, schaute, sich so weit als möglich vornüber beugend, hinein und nickte ihrem nickenden Spiegelbilde zu.

Im Nu hatte sie die Strümpfe und die Schuhe abgestreift. Jetzt ein halber Schritt in das Wasser und dann noch ein halber und dann in einem Sprunge zurück auf den trockenen, warmen Sand. Aber das sonnendurchleuchtete Wasser lockte nun erst recht. Ach, so einmal ohne die lästige Aufsicht der Tante zu baden – wie lange hatte sie das gewünscht! Jetzt war es Zeit, so gut kam die Gelegenheit nicht wieder. Wer sollte sie sehen in dieser Einsamkeit! Sie stand und lauschte. Eine Holztaube kam vorbeigeschwingt und ließ dann aus der Nähe, wo sie sich niedergelassen hatte, ihren Ruf ertönen. Silvia athmete tief auf. Noch einmal horchte und lauschte sie nach allen Seiten. Still – Alles still – und mit hastigen Händen entkleidete sich das Kind.

Leo hatte sich, als er, aus seinem Halbschlummer erwachend, Silvia erblickte, leise auf die Kniee erhoben. Seine erste Regung war gewesen, sich weiter zwischen die Felsen zu schleichen, dann hatte ihn die Besorgniß, ein Geräusch zu verursachen, und zuletzt eine sonderbare Neugier, die ihm das Blut stürmisch zum Herzen trieb, festgehalten. Erst war es Silvia gewesen, die übermüthige, ihm verhaßte Silvia, und dann war es nicht mehr Silvia – ein ganz fremdes, unheimliches Geschöpf, dessen weiße, rundliche, halb in das Wasser getauchte Glieder im Sonnenschein glänzten, während sie mit den flachen Händen auf das Wasser klatschte, daß es hoch aufspritzte, und sich dann lachend die Tropfen aus den langen Locken schüttelte.

Eine seltsame Starrheit bemächtigt sich des Knaben. Etwas nie Gefühltes geht in ihm vor. Er kann den Blick nicht von dem lieblichen Schauspiel abwenden, trotzdem ihm eine Stimme im Innern sagt, daß jeder Augenblick, den er länger zögert, ein Verbrechen ist. Ein Schwindel erfaßt ihn, es saust ihm in den Ohren, sein Athem geht schwer; es flimmert ihm vor den Augen; wie hinter einem durchsichtigen Schleier erscheint ihm jetzt die zierliche Gestalt; seine Sinne verwirren sich; mit einer letzten Kraftanstrengung rafft er sich auf; sein Haupt, dem die Mütze entglitten ist, stößt heftig gegen die scharfe Kante des vorspringenden Felsens, unter dem er gekniet hat, und, ohne eine Klage auszustoßen, sinkt er ohnmächtig in das weiche Moos.


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